Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → KRANKHEIT


DEMENZ/197: Demenz und Migration (Alzheimer Info)


Alzheimer Info, Ausgabe 1/15
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz

Demenz und Migration

von Elena Maevskaya, Gelsenkirchen


Menschen mit Migrationshintergrund werden älter, und damit steigt die Zahl derer, die von einer Demenzerkrankung betroffen sind. Sie haben besondere Schwierigkeiten beim Zugang zu Beratung, Diagnose und Behandlung. Dabei spielen Sprache und Kultur eine wichtige Rolle. Wir baten das Demenz-Servicezentrum NRW für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte um eine Übersicht.


Demenz kennt keine ethnischen Grenzen

Die Zunahme an älteren Migranten (damit sind Frauen und Männer gemeint) stellt neue Herausforderungen an die gesundheitliche Versorgung, besonders, wenn es um Demenzkranke geht. In Deutschland leben 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon sind 1,5 Millionen über 65 Jahre alt. Etwa 108.000 von ihnen sind von einer Demenzerkrankung betroffen. Diese Zahlen werden in den nächsten Jahrzehnten weiter steigen (zur Statistik siehe Kasten unten). Die besondere Situation und die speziellen Bedürfnisse von Migranten werden bislang noch nicht angemessen in Forschung und Versorgung berücksichtigt.

Wenn die deutsche Sprache verblasst ...

Da bei einer Demenz die Gedächtnisspuren aus den kürzer zurückliegenden Lebensabschnitten rascher verwischen als jene aus Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter, verlieren Menschen mit Demenz oft die Erinnerungen an ihr Leben in Deutschland. Die Muttersprache, die im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, bleibt dagegen lange erhalten. Selbst wenn berufstätige Migranten gelernt haben, Deutsch zu sprechen, kann diese Fähigkeit als Folge der fortschreitenden Demenz verloren gehen. Eine pflegende Angehörige berichtet: "Mein Vater hat im Zuge der Erkrankung die deutsche Sprache verloren, obwohl er bisher als Russlanddeutscher ziemlich gut Deutsch konnte. Jetzt spricht er nur noch russisch, und Ärzte und Pflegekräfte können ihn nicht verstehen."

Ein solcher Verlust der deutschen Sprache bei demenziell erkrankten Migranten führt nicht nur zu Kommunikationsproblemen mit deutschen Ärzten und Pflegepersonal, sondern auch zu mangelhafter Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten sowie zu sozialem Rückzug und Isolation. Auch für die Therapien und Beschäftigungsangebote ist die Sprache wichtig.

Zu späte Diagnose, Fehl- und Unterversorgung

Die sprachlichen Fähigkeiten haben auch einen großen Einfluss aufdie Mitwirkung der Betroffenen bei der Diagnosestellung. Für die frühzeitige Demenzdiagnostik bei Menschen mit Migrationshintergrund sind die gängigen Tests oft nicht geeignet, da ihr Ergebnis in hohem Maße von den sprachlichen Fähigkeiten der untersuchten Person abhängt. Ein großer Teil der älteren Menschen aus derTürkei kann weder schreiben noch lesen. Zur Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen bei Menschen mit Migrationshintergrund bedarf es kulturell angepasster Untersuchungsverfahren.

Zu den Sprachbarrieren und einem kulturspezifischen Krankheitsverständnis (z. B. von Krankheit als Schicksal oder Strafe) kommen Informationsdefizite über Unterstützungsangebote hinzu. Die bestehenden Angebote orientieren sich kaum an den spezifischen GesundheitsvorsteIIungen, Lebensverhältnissen und Bedürfnissen älterer Migranten. Raumgestaltung, Einsatz von Musik oder Beschäftigungsmaterialien sollten auf die jeweilige Herkunft der Menschen, ihre Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend angepasst sein, um einen Zugang zu ihnen zu ermöglichen. Die interkulturelle Öffnung der "normalen" ambulanten Pflegedienste und Tagespflegeeinrichtungen gewinnt an Bedeutung.

Lösungsansätze

Fehlende kultursensible Versorgungsangebote für Demenzkranke können in Familien mit Migrationshintergrund Hilflosigkeit und Verzweiflung auslösen. Die Angehörigen sind mit der Pflege überfordert. Das Demenz-Servicezentrum für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte stellt sich seit 2007 unter dem Leitgedanken "Du bist nicht allein - Yalnız değilsin - Nie jesteś sam - Ты не одинок" dieser Herausforderung. Im Laufe der Zeit wurden in Zusammenarbeit mit vielen Kooperationspartnern, auch mit Alzheimer-Gesellschaften, bedarfsgerechte Unterstützungsangebote für Erkrankte und deren Angehörige entwickelt.

Dazu zählen:

• Kulturell angepasste Materialien wie Broschüren, Filme über das Leben mit Demenz in russisch- und türkischsprachigen Familien, Erinnerungskarten mit Sprichwörtern

• Muttersprachliche Beratung, Aufklärung und Information über Erkrankung, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten und über Beratungs- und Entlastungsangebote

• internationaler Austausch mit Fachkräften aus der Türkei und Russland

• Unterstützung von ethnischen Gemeinschaften beim Aufbau niedrigschwelliger Betreuungs- und Entlastungsangebote

• Schulung von interkulturellen Alltags- und Demenzbegleitern

• Qualifizierung von Multiplikatoren aus Migrantenselbstorganisationen

• Vernetzung von Akteuren und regionalen Versorgungsstrukturen

• Bewegungsangebote für türkische Frauen über 50, gedächtnisfördernde Aktivitäten für Menschen mit und ohne kognitive Einschränkungen.

Das Demenz-Servicezentrum für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte (DSZ) ist Teil der Landesinitiative Demenz-Service NRW und wird vom Ministerium für Emanzipation, Pflege und Alter NRW und den Landesverbänden der Pflegekassen gefördert. Das DSZ ist für das gesamte Land Nordrhein-Westfalen zuständig.

Kontakt:

Demenz-Servicezentrum NRW für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
AWO Integratives Multikulturelles Zentrum
Paulstr. 4, 45889 Gelsenkirchen
www.demenz-service-migration.de
Koordination: Heinz Lübke, AWO UB Gelsenkirchen/Bottrop Tel. 0209 604 83 28

*

Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland und wie viele sind von einer Demenz betroffen?

Das Statistische Bundesamt definiert den Begriff "Menschen mit Migrationshintergrund" folgendermaßen: "Zu den Personen mit Migrationshintergrund zählen alle zugewanderten und nicht zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer sowie alle nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Deutschen. Ebenso gelten alle Deutschen mit zumindest einem nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Elternteil als Personen mit Migrationshintergrund." Nach dieser Definition lebten 2013 in Deutschland laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 16,5 Millionen Personen mit Migrationshintergrund; davon waren 1,5 Millionen 65 Jahre alt oder älter. Herkunftsländer der meisten Migranten waren die Türkei, Polen und Russland.

Wenn die von Alzheimer Europe ermittelten Erkrankungsraten zugrunde gelegt werden (siehe DAlzG, Informationsblatt "Häufigkeit von Demenzerkrankungen", 2014), ergibt sich für die über 65-jährigen mit Migrationshintergrund eine Gesamtzahl von Menschen mit Demenz von rund 108.000, darunter etwa 41.000 Männer und 67.000 Frauen. In Deutschland hat demnach jeder 14. ältere Mensch mit Demenz einen Migrationshintergrund.

Da keine epidemiologischen Daten aus Migrantenpopulationen vorliegen, sind diese Zahlenangaben nicht als eine exakte Bezifferung des Krankheitsvorkommens zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um Schätzungen, die einen Eindruck von der Verteilung der Demenzerkrankungen in der Altersbevölkerung geben.

Dr. Horst Bickel, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München

*

Quelle:
Alzheimer Info, Ausgabe 1/15, S. 1 + 3
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz
Friedrichstraße 236, 10969 Berlin
Telefon: 030/259 37 95-0, Fax: 030/259 37 95-29
Alzheimer-Telefon: 01803/17 10 17
(9 Cent pro Minute aus dem deutschen Festnetz)
E-Mail: info@deutsche-alzheimer.de
Internet: www.deutsche-alzheimer.de
 
Das Alzheimer Info erscheint vierteljährlich.
Jahresabonnement: 12,00 Euro, Einzelheft: 3,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang