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DIABETES/2072: Aktionsplan gegen Tsunami Diabetes - Bericht über die Jahrestagung der Dt. Diabetes Gesellschaft (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2019

Diabetes
Aktionsplan gegen Tsunami

von Uwe Groenewold


54. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Warnung vor den Folgen von ungesunder Ernährung und zu wenig Bewegung.


Appelle an die Politik, Maßnahmen gegen den heraufziehenden "Diabetes-Tsunami" zu ergreifen, bestimmten die 54. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) genauso wie die Diskussion um neue Diagnose- und Therapiemethoden. Die Themen Digitalisierung und Telemedizin bildeten hier einen Schwerpunkt. An der Fortbildungsveranstaltung Ende Mai in Berlin nahmen rund 7000 Experten teil, darunter auch zahlreiche Wissenschaftler aus Schleswig-Holstein.

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12 Mio. Menschen könnten nach Prognosen im Jahr 2040 in Deutschland an Diabetes erkrankt sein, wenn nicht gegengesteuert wird. Schon jetzt werden laut Angaben auf der DDG-Jahrestagung zwölf Prozent der Gesundheitsausgaben für die Behandlung der Stoffwechselerkrankung aufgewendet.
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"Wenn es uns nicht gelingt, den Anstieg von Diabetes Typ 2 aufzuhalten, haben wir im Jahr 2040 bis zu zwölf Millionen Erkrankte in Deutschland", erklärte Prof. Dirk Müller-Wieland aus Aachen. Bei der Zahl müsste eigentlich jeder Gesundheitsminister Panik bekommen, so der DDG-Präsident. Bereits jetzt würden hierzulande zwölf Prozent der Gesundheitsausgaben für die Behandlung der Stoffwechselerkrankung aufgewendet. "Aber wir können diesen Diabetes-Tsunami noch aufhalten. Ein Großteil der neuen Fälle wäre vermeidbar - wenn es gelingt, dass sich die Menschen besser ernähren und weniger übergewichtig sind."

Das könne jedoch nicht die Medizin bewirken, hier sei die Politik gefordert, so DDG-Präsident Müller-Wieland. Die DDG fordert vier Sofortmaßnahmen, um den Anstieg von nichtübertragbaren Krankheiten wie Diabetes und Herzkreislauf-Erkrankungen aufzuhalten: eine sogenannte Zucker- und Fettsteuer, das Verbot von an Kindern gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke, verbindliche Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung sowie täglich mindestens eine Stunde Bewegung in Kita und Schule.

Darüber hinaus müsse die Verbesserung der sektorenübergreifenden medizinischen Versorgung, der Medizineraus- und -weiterbildung sowie des Versorgungsnetzes durch niedergelassene Haus- und Fachärzte Teil einer nationalen Diabetesstrategie sein, so die DDG. Es müsse eine angemessene Behandlung und Pflege von Menschen mit Diabetes im Krankenhaus und in Pflegeeinrichtungen, moderne Medikamente sowie ein deutschlandweites Diabetesregister geben; auch der Beruf der Diabetesberater sollte bundesweit einheitlich anerkannt werden.

Mit den Grundlagen der Krankheitsentstehung befasst sich das Team von Prof. Matthias Laudes vom UKSH-Campus Kiel. Schwerpunkt seiner Arbeit sind chronische Entzündungsprozesse bei der Entstehung von Stoffwechselerkrankungen; diese werden auch als metabolische Inflammation bezeichnet. "Früher ging man davon aus, dass die Adipositas Entzündungen bedingt und dass diese Entzündungen dann sekundär Insulinresistenz, Typ 2 Diabetes und Arteriosklerose auslösen. Seit einigen Jahren wissen wir aber, dass die Adipositas selbst auch entzündliche Prozesse in ihrer Pathogenese hat", erläuterte Laudes, der den Bereich Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährungsmedizin leitet. In einer MRT-Studie konnte die Arbeitsgruppe bei Adipositas-Patienten eine Entzündung im Hypothalamus nachweisen, die die Appetit- und Sättigungsregulation stört. "Wir gehen davon aus, dass es erst einen anderen ursächlichen Reiz gibt, der die Entzündung primär auslöst, und dass sich dann auch die Adipositas sekundär mit Typ 2 Diabetes und Arteriosklerose parallel entwickeln."

Bei diesem primären entzündlichen Reiz spiele das Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Menschen, eine wesentliche Rolle, so Laudes, da Entzündungen im allgemeinen oft durch Bakterien ausgelöst werden und Menschen mit Adipositas und/oder Typ 2 Diabetes signifikante Mikrobiomveränderungen aufweisen. Gleiche man das Mikrobiom von Typ 2 Diabetikern an das von Gesunden an, führe dies zu einer Verbesserung der Insulinsensitivität; das unterstreiche die kausale Bedeutung des Mikrobioms bei der Adipositas- und Diabetesentstehung. Über welche Mechanismen das Mikrobiom den menschlichen Stoffwechsel verändere, sei Gegenstand der aktuellen Forschungen des Kieler Teams, erklärt Laudes. Dabei verfolge man drei unterschiedliche Ansätze: Das Mikrobiom löst erstens durch den Kontakt mit der Darmwand eine Entzündung in der Darm-Mukosa aus, die sich dann systemisch ausbreitet, verändert zweitens das Muster der Gallensäuren, was sowohl metabolische als auch inflammatorische Prozesse in Gang setzt, und setzt drittens bakterielle Stoffwechselprodukte frei, die in den menschlichen Körper aufgenommen werden und dann systemisch wirken. Allen Ansätzen werde in verschiedenen, unter anderem von der EU geförderten Projekten nachgegangen, so Laudes.

Welche metabolischen Konsequenzen ein zu kurzer und gestörter Schlaf hat, erörterte Prof. Sebastian Schmid aus der Medizinischen Klinik I des UKSH, Campus Lübeck, beim Kongress in Berlin. "Aktuelle Studien belegen, dass vor allem quantitative und qualitative Veränderungen des Schlafrhythmus signifikant mit einer erhöhten Prävalenz von Adipositas einhergehen. Zudem können eine eingeschränkte Schlafdauer und -qualität eine verminderte Glukosetoleranz und Insulinsensitivität bewirken und damit ein erhöhtes Diabetesrisiko mit sich bringen."

Schlaf stellt biologisch betrachtet ein bestimmtes Muster von neurochemischen und elektrischen Prozessen im Hirn dar, die über das Hormonsystem und das vegetative Nervensystem auch Stoffwechsel- und Immunprozesse steuern. Schlafmangel und gestörter Schlaf sind weit verbreitet, insbesondere in der westlichen Welt. Große Auswirkungen hat die Schlafdauer auf die metabolische Gesundheit. Bereits in früheren Untersuchungen haben Schmid und seine Arbeitsgruppe gezeigt, dass Probanden sich infolge von Schlafmangel deutlich weniger bewegen und die Ausschüttung von relevanten Hormonen für den Glukosestoffwechsel gestört ist.

Schlafmangel ist epidemiologischen Studien zufolge auch eindeutig mit einem höheren Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 assoziiert. Einer Studie mit über 8000 amerikanischen Erwachsenen zufolge stieg das Risiko für eine Diabetes-Erkrankung um 57 Prozent, wenn die Schlafdauer über einen Zeitraum von zehn Jahren bei unter fünf Stunden pro Nacht lag. In eigenen Untersuchungen haben die Lübecker Wissenschaftler experimentell nachgewiesen, dass bereits eine Nacht mit gekürztem Schlaf ausreichend ist, um die Insulinsensitivität deutlich zu verschlechtern; das Schlafdefizit wirkt sich ungünstig auf den Zuckerhaushalt aus. Der Glukosespiegel steigt und auch die Insulinausschüttung wird angekurbelt - trotzdem gelingt es dem Organismus nicht, ausreichend Zucker in die Körperzellen zu schleusen. "Eine solche diabetogene Stoffwechsellage sieht man klassischerweise im Frühstadium einer Diabeteserkrankung", erklärte Schmid im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt.

Die Hormone Leptin und Ghrelin sind wesentlich für die Regulation von Hunger und Appetit. Auch ihre Konzentration wird durch die Schlafdauer beeinflusst. Das Sättigungshormon Leptin sendet dem Gehirn Signale aus dem Fettgewebe, die anzeigen sollen, wie viele Energiereserven noch gespeichert sind. Gegenspieler Ghrelin ist ein klassisches Hungersignal, das von den Zellen der Magenschleimhaut freigesetzt wird. Bei zu wenig Schlaf, so Schmid, verschiebt sich das hormonelle Gleichgewicht hin zu mehr Hunger und Appetit. Auch bevorzugen Menschen mit Schlafmangel energiedichte Lebensmittel wie Chips oder Schokoladenriegel; auf Karotten oder andere gesunde Lebensmittel haben sie weniger Lust.

Ausreichend Schlaf ist für die immunologische, psychische und metabolische Gesundheit von großer Bedeutung. Voraussetzung hierfür ist laut Schmid ein möglichst ausgeglichenes Schlafmuster - Schichtarbeiter mit häufigem Wechsel des zirkadianen Rhythmus haben ein deutlich erhöhtes Risiko für metabolische Erkrankungen - und eine dem individuellen Optimum angepasste Schlafdauer, die bei den meisten Menschen zwischen sieben und acht Stunden liegt. "Eine Verbesserung der Schlafqualität und der physiologischen Schlafhygiene ist ein wichtiger Ansatz in der Prävention und Therapie des metabolischen Syndroms." Schmid hält die Entwicklung von optimierten Arbeitszeitmodellen, individuell angepassten Bewegungs- und Ernährungsmodellen sowie die Vermeidung von Störfaktoren der Schlafqualität für vielversprechende therapeutische Ansatzpunkte.

Wie Telemedizin die Beratung von Menschen mit Diabetes ergänzt, darüber berichtete Dr. Simone von Sengbusch, Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKSH, Campus Lübeck, und Leiterin der "Mobilen Diabetes-Schulung Schleswig-Holstein" während des Kongresses. Hinter dem Sammelbegriff lassen sich verschiedene Versorgungsstrukturen und Beratungsmodelle für an Diabetes erkrankte Menschen abbilden, wie zum Beispiel ein telemedizinisches Konsil oder die video-gestützte Ambulanzberatung. Telemedizin ermögliche unabhängig von Ort und Zeit dem Arzt einen Blick auf die Daten und die Möglichkeit der Beratung. "Grundlagen für diese Art der Telemedizin hat ohne Zweifel die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) gelegt. Die kontinuierliche Aufzeichnung von Glukosedaten in Kombination mit Informationen zu Insulin, Kohlenhydraten und Bewegung hat zu einem grundlegend neuen Verständnis der Glukoseströme im Körper und damit der Diabetestherapie geführt", erläuterte von Sengbusch.

Die CGM- und Insulindaten stehen gespeichert in einer Software-Cloud zur Verfügung und erlauben Patient und Arzt eine Analyse der Daten zu jedem Zeitpunkt. Damit biete sich die Chance, dass Patientengruppen, die häufigere Beratungen benötigen (zum Beispiel Schwangere, neu an Diabetes erkrankte und instabile Patienten), diese auch zeitnah erhalten könnten, so von Sengbusch. Die Beratung anhand von CGM-Daten könne dabei telefonisch, per E-Mail oder Videosprechstunde erfolgen. Letztere Variante biete die Chance, neben Ton- auch Bildinformationen (Gestik, Mimik, Gesamteindruck) zu verwerten. Die CGM-Daten könnten vom Arzt vorab mit Patienteneinverständnis aus der Datencloud geladen, ausgewertet und verschlüsselt per E-Mail zurückgeschickt werden, sodass Patient und Arzt dieselben Informationen zur Verfügung hätten.

Vor allem Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes benötigen mindestens einen Termin pro Quartal, deren Anzahl bei Bedarf entsprechend erhöht werden muss, so von Sengbusch. Intensivere Beratung sei nötig während Wachstumsphasen, bei Infekten, nach Diabetesmanifestation, wenn die Eltern lernen müssten, rasch eine Vielzahl von medizinischen Entscheidungen zu treffen, und in der Phase der Pubertät, wenn die Stoffwechsellage sich meist verschlechtere und die Jugendlichen Beratung und Coaching benötigen. "Es gibt in den meisten Ambulanzen angesichts der stark steigenden Patientenzahlen nicht genug Zeitfenster oder auch Fachpersonal für die Beratung. Telemedizin könnte hier eine Lücke füllen, indem kürzere Termine in häufigerer Frequenz und ohne Belastung der Familien durch Fahrten in die Klinik und Wartezeiten durchgeführt werden." In der vom Innovationsfonds des G-BA geförderten Studie "Virtuelle Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche" (ViDiKi) werde derzeit bei 240 Kindern aus Schleswig-Holstein und Hamburg der Effekt von Telemedizin als Ergänzung zur Regelversorgung untersucht; erste Ergebnisse werden noch 2019 erwartet.

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32.500 junge Menschen unter 19 Jahren sind von Diabetes Typ I betroffen. Die Lebenssituation der Kinder hängt stark von einer gelungenen Inklusion in Kita und Schule ab. Jugendliche wünschen sich mehr Hilfe bei der Bewältigung von Herausforderungen im Alltag, etwa in der Kommunikation mit Krankenkassen.
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In einem weiteren Vortrag ging von Sengbusch auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes ein. Laut Deutscher Diabetes Gesellschaft sind 32.500 junge Menschen bis 19 Jahre von Diabetes Typ I betroffen. Die Lebenssituation von Kindern mit Typ 1 Diabetes hänge erheblich von einer gelungenen Inklusion in Kita und Grundschule ab; die Diabetesdiagnose eines Kindes habe weitreichende psychosoziale Folgen für die ganze Familie. Jugendliche mit Diabetes wünschen sich Hilfe bei der Bewältigung von Herausforderungen im Alltag und bei der psychischen Bewältigung der Erkrankung. Ihr Fazit: "Diabetes Typ 1 ist eine ernste Erkrankung, die massiv in das Leben der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien eingreift. Daher müssen wir mehr Anstrengungen unternehmen, sie angemessen in der Krankheitsbewältigung zu unterstützen. Dazu gehören für mich eine kostendeckende ambulante Langzeitbetreuung mit Sicherstellung ausreichender Ressourcen für die psychosoziale Unterstützung der Familien, Hilfen insbesondere für den Kita- und Schulbesuch und der Zugang zu modernen Beratungsformen und innovativen Diabetestechnologien."


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201907/h19074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Juli - August 2019, Seite 40 - 41
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2019

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