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RECHT/046: Weiterentwicklung eines Behandlungsrechts in der Psychiatrie - Interview mit Heinz Kammeier (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

»In der Psychiatrie führt nur eine partizipative Entscheidungsfindung zu einem gültigen Behandlungsvertrag«

Interview mit Heinz Kammeier


Bei einer Expertenrunde zu »Kompetenten Hilfen beim Absetzen von Antidepressiva und Psychopharmaka« im April dieses Jahres in Berlin hielt Heinz Kammeier einen Vortrag zur Weiterentwicklung des Behandlungsrechts in der Psychiatrie mit dem Titel »Zur Gestaltung der Rechtsbeziehung zwischen einer psychisch beeinträchtigten oder erkrankten Person und ihrem Behandelnden«. SP befragte den Autor zum Anlass dieses Vortrags und seinem Anliegen.


SP: Herr Kammeier, was war der Anlass für Ihre Beschäftigung mit der Weiterentwicklung des Behandlungsrechts?

Kammeier: Angesprochen wurde ich von einem Arbeitskreis in der Psychiatrie tätiger und von der Psychiatrie betroffener Personen, der sich mit zahlreichen Aspekten des Reduzierens und gänzlichen Absetzens von Neuroleptika und Psychopharmaka befasst. Insbesondere geht es dabei um die Schwierigkeiten und Probleme, die Ärzte benennen, wenn Patienten sich mit entsprechenden Wünschen bei ihnen melden. Zahlreiche Ärzte zögern, sich auf die Begleitung beim Reduzieren und Absetzen einzulassen, oder verweigern sich sogar, und lassen damit ihre Patienten allein.

SP: Wie begründen die Ärzte ihre Handlungsweise?

Kammeier: Einige verweisen darauf, dass die Pharmahersteller ihnen Vorgaben zur Verordnung der Medikation machen, die ihnen keinen oder nur einen marginalen Spielraum bei der Dosierung lassen. Andere halten aus therapeutischen Gründen eine durchgehende oder langanhaltende Hochdosierung für indiziert. Wieder andere sind verunsichert über das, was sie beim Wunsch nach Reduzieren oder Absetzen an Aufklärung zu erteilen haben. Sie sind sich unsicher, auf welche Risiken sie hinweisen müssen. Sie haben Angst, mit Schadensersatzansprüchen in Haftung genommen zu werden, wenn der Patient während des Reduzierens in eine Krise gerät und sich selbst oder sogar einer anderen Person schadet. Und sie fürchten den Vorwurf eines Behandlungsfehlers. Zudem fragen sie sich, ob ihr Patient überhaupt insoweit einsichts- und damit einwilligungsfähig ist, um die Risiken, die im Zusammenhang mit der Reduktion auftreten können, richtig einzuschätzen und sie willentlich in Kauf zu nehmen.

SP: Seit dem Jahr 2013 gibt es doch das sogenannte Patientenrechtegesetz im BGB, das die Beziehung zwischen Arzt und Patient regelt. Reicht das nicht zur Durchsetzung des Patientenwillens?

Kammeier: Nein. Dieses Gesetz beinhaltet weitgehend nur die normative Festschreibung einer jahrzehntelangen Rechtsprechung. Diese hat sich aber fast ausschließlich an Konflikten im Bereich der somatischen Medizin, vor allem der Chirurgie, herausgebildet und passt in vielerlei Hinsicht nicht auf die Situationen, denen sich psychisch beeinträchtigte oder erkrankte Personen in ihrer psychosozialen Lebenswelt ausgesetzt sehen. Kurz gesagt: Die Psychiatrie ist anders als die Somatik. Dass im Zusammenhang mit einer psychischen Krise eine Vielzahl von Störungen und Beeinträchtigungen in der individuellen Befindlichkeit wie in sozialen Kontakten zu Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen und Institutionen auftreten, die andere Voraussetzungen und Anforderungen an das Behandlungs- und folglich auch an das Rechtsverhältnis zwischen der betroffenen Person und ihrem Behandler stellen, hat der Gesetzgeber offenbar übersehen.

SP: An welchen Punkten, meinen Sie, sollte das Behandlungsrecht weiterentwickelt werden, um psychosozial beeinträchtigten Personen in einem Behandlungssetting angemessener als bisher zu entsprechen und ihren Bedürfnissen besser gerecht zu werden?

Kammeier: Zunächst einmal muss das Behandlungsrecht anerkennen und klar zum Ausdruck bringen, dass die Person mit einer psychischen Störung, die einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsucht, in diesem psychosozialen Kontext nicht Kunde, sondern Auftraggeber des Behandlers ist. Sie kauft keine standardisierte Behandlung wie Konserven aus dem Supermarktregal. Als Auftraggeber des Behandelnden übt sie ihr Selbstbestimmungsrecht dahingehend aus, dem Arzt als dem Auftragnehmer zu beschreiben, welche Bedürfnisse, Wünsche und Präferenzen sie im Hinblick auf die von ihm wahrgenommenen Beeinträchtigungen an den Behandler hat. Im Vortrag habe ich diese Person mit einem Bauherrn verglichen, der seinem Architekten in einem ersten Gespräch über ein zu bauendes Haus seine Vorstellungen über Gestaltung, Größe und Ausstattung beschreibt. Dies bedeutet, übertragen auf den Behandler, dass von ihm ein nachfrageorientiertes Eingehen auf den Auftraggeber verlangt wird. Nur im Dialog gelingt dann eine gemeinsam abgesprochene und schließlich vereinbarte Dienstleistung, nämlich die Behandlung, die den Bedürfnissen, Wünschen und Präferenzen der psychosozial beeinträchtigten Person entspricht.

SP: Hat dies dann nicht auch Auswirkungen auf die im Arztrecht so wichtigen Begriffe wie Aufklärung und Einwilligung?

Kammeier: Ganz recht. Die Aufklärung über die Diagnose und die vorgeschlagene Indikation dürfen auf keinen Fall mit einem offensichtlichen oder verdeckten Herrschaftswissen und Durchsetzungswillen des ärztlichen Fachmanns daherkommen. Aufklärung im psychosozialen Behandlungskontext ist ein Teilbeitrag in einem hermeneutisch-dialektischen Prozess zur Herausarbeitung des wahren Willens einer psychisch beeinträchtigten oder erkrankten Person. Aufklärung ist Voraussetzung für eine subjektiv geprägte und formulierte Entscheidungsgrundlage zur Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts in ihrem ganz persönlichen Lebenskonzept.

Und noch ein Wort zur Einwilligung. Einwilligung im über 100-jährigen Verständnis als rechtlich wirksame Gestattung einer Körperverletzung ist heute nicht mehr geeignet, dem Selbstbestimmungsrecht im psychosozialen Behandlungskontext einen adäquaten Ausdruck zu geben. Einwilligung darf auch nicht den Charakter eines Unterwerfungsrituals tragen, sondern es geht um die Förderung der Selbstbestimmung. Das haben uns inzwischen doch das Patientenverfügungsgesetz, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Geltung der Selbstbestimmung in Behandlungsangelegenheiten - auch in Kontexten zwangsweiser Unterbringung - sowie nicht zuletzt die UN-Behindertenrechtskonvention gelehrt. In diesem Zusammenhang sind deshalb alle Versuche müßig, wenn nicht ganz obsolet, Definitionen der Einwilligungsfähigkeit zu erstellen. Einwilligungsfähigkeit im psychosozialen Behandlungskontext ist nicht von der intellektuellen oder emotionalen Kompetenz der beeinträchtigten oder erkrankten Person abhängig, sondern von der im gemeinsam geführten Dialog erreichten Absprache über die Wahrnehmung dessen, was sie will. Einwilligung ist somit das Ergebnis einer gemeinsamen, also partizipativen Entscheidungsfindung.

SP: Verschmelzen damit nicht Aufklärung und Einwilligung im herkömmlichen Verständnis zu einer Einheit?

Kammeier: Ja, im psychosozialen Behandlungskontext stehen sich Aufklärung und Einwilligung nicht mehr als zwei rechtlich selbstständige, nacheinander zu vollziehende Akte oder Handlungs- bzw. Vertragselemente ergänzend gegenüber. Sie gewinnen in dem von mir beschriebenen Rahmen eines Behandlungsvertrags rechtliche Gestalt und entfalten Rechtswirkung, wenn die psychisch beeinträchtigte oder erkrankte Person und der Behandelnde in einem hermeneutisch geführten Dialog zu einer gemeinsamen Absprache und Einigung hinsichtlich des weiteren Vorgehens gefunden haben. In diesen Dialog können gegebenenfalls andere Personen zur Unterstützung bei der selbstbestimmten Entscheidungsng mit einbezogen werden und auf diese Weise dazu beitragen, eine ersetzende Entscheidung zu vermeiden.

SP: Bedeutet das, wir können künftig auf den gesetzlichen Betreuer verzichten?

Kammeier: Ich will mich hier nicht voreilig festlegen. Nach jetzt geltendem Recht müssen bei erwachsenen Personen vorhandene Einschränkungen oder das gänzliche Fehlen von Einwilligungsfähigkeit positiv festgestellt und begründet werden. Im Kontext psychosozialer Behandlung kann dieser Nachweis aber erst dann als erbracht gelten, wenn unter Beachtung der weiten Begriffshorizonte von »Kommunikation« und »Sprache« im Sinne von Artikel 2 Absätze 1 und 2 der UN-BRK keine Äußerung eines natürlichen Willens als Wahrnehmung von Selbstbestimmung mehr erkennbar ist. Erst bei Vorliegen dieser Voraussetzung kann einer ersetzenden Entscheidung als mutmaßlicher Wille rechtliche Relevanz zugesprochen werden. Diese muss unter Aufnahme und Wiedergabe konkreter Anhaltspunkte von früher geäußerten Behandlungswünschen, z. B. in einer Patientenverfügung, von Bedürfnissen und Präferenzen, unter Berücksichtigung ethischer und religiöser Überzeugungen sowie persönlicher Wertvorstellungen und frei von wertenden Einflüssen des Entscheiders zustande gekommen sein. Eine solche Situation wird auf nur sehr wenige Menschen zutreffen. Für sie mag und muss es wohl weiter eine gesetzliche Betreuung geben.

SP: Können die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen bei den Begriffsbestimmungen von Aufklärung, Einwilligungsfähigkeit und Einwilligung, also die partizipative Entscheidungsfindung, auch Geltung im Rahmen von zwangsweisen Unterbringungen in einem Krankenhaus nach einem PsychKG oder im Maßregelvollzug beanspruchen?

Kammeier: Primärer Auslöser und rechtlicher Legitimationsgrund dieser Unterbringungen ist die Abwehr von Gefahren für Dritte oder, beim PsychKG, auch für sich selbst. Deutlich davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die untergebrachte Person aufgrund ihres ja nicht mit der Unterbringung verloren gegangenen Selbstbestimmungsrechts überhaupt eine Behandlung will, wenn ja, welche und ob eine solche Behandlung dann nach dem eben beschriebenen Vorgehen partizipativ abgesprochen wird. Insofern gilt für das Behandlungsrecht bei Unterbringungen nichts anderes als bei einem Arztbesuch in der Praxis.

Dies alles sind aber zunächst nur erste Überlegungen, die ich im Laufe der Zeit weiter konkretisieren will.

SP: Vielen Dank für die Erläuterung Ihrer Vorstellungen zur Weiterentwicklung eines Behandlungsrechts in der Psychiatrie. Wir sind gespannt, wie der Diskurs hierzu vorankommt.


Dr. jur. Heinz Kammeier,
Jurist und Theologe, bis Ende 2016 Lehrbeauftragter für »Recht im Gesundheitswesen« an der Fakultät für Gesundheit der Privaten Universität Witten/Herdecke, Mitglied des Vorstands und des Fachausschusses Forensik der DGSP; Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Recht & Psychiatrie«.
E-Mail: kammeier-muenster@t-online.de

Die Leitsätze zum Behandlungsrecht von Heinz Kammeier sind
veröffentlicht unter:

www.absetzen.info/das-behandlungsrechtin-der-psychiatrie/

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Juli 2017, Seite 41 - 42
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2018

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