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FORSCHUNG/119: Kinderpsychiatrie - Der Fehlerteufel in den Genen (Marburger UniJournal)


Marburger UniJournal Nr. 32 - April 2009

Der Fehlerteufel in den Genen

Von Johannes Scholten


An der Marburger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bestehen seit drei Jahrzehnten nahezu ideale Forschungsbedingungen - personelle Kontinuität und eine eigenständige Forschungsabteilung ermöglichten Langzeitprojekte, in denen Heranwachsende mit psychischen Erkrankungen bis ins Erwachsenenalter begleitet wurden.


Zeit ist ein wertvolles Gut in der Forschung. Wer nicht rasch genug publiziert, muss fürchten, dass ihn andere überholen - und somit die eigenen Anstrengungen zunichte machen. Der zunehmende Wettbewerb soll schnell und effizient zu möglichst guten Ergebnissen führen, so die Idee: "Mehr Wettbewerb im Interesse der Wissenschaft", lautet die Devise, die zum Beispiel die Förderorganisation "Deutsche Forschungsgemeinschaft" unter ihrem früheren Präsidenten Ernst-Ludwig Winnacker ausgegeben hat.

Die Tendenz zur Beschleunigung bringt aber auch Probleme mit sich. So wird es Wissenschaftlern oftmals schwer gemacht, längerfristige Projekte zu verfolgen, die nicht in schnellem Takt Ergebnisse und Veröffentlichungen abwerfen. Charles Darwin hat sich noch 18 Jahre Zeit lassen können, ehe er mit seinem Hauptwerk "The origins of species" die Summe aus Beobachtungen zog, die er auf seiner Weltreise mit dem Forschungsschiff "Beagle" gemacht hatte. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein wurde erst mit vierzig Jahren promoviert. Derartige Bummelei kann sich ein Wissenschaftler heute nicht erlauben, der sich an Kollegen messen lassen muss, die bereits im zarten Alter von 35 Jahren auf einem Lehrstuhl sitzen.

"Ich muss das ja nicht machen." Helmut Remschmidt kann sich Zeit lassen, um Projekte fortzuführen und abzuschließen, die ihm besonders am Herzen liegen. In seinem kleinen, freundlichen Büro mit Blick über Dächer und Bäume am Ortenberg serviert er seinem Besucher frisch aufgebrühten Tee, um in aller Ruhe darüber zu sprechen, was er in dreißig Jahren als Leiter der Marburger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf die Beine gestellt hat. Es ist eine Menge, so dass man gut daran tut, sich Remschmidts Schilderung in aller Muße anzuhören.

Er ist noch immer ein gefragter Mann - mitten im Gespräch, es ist schon am späten Nachmittag, klingelt das Telefon, und er wird um ein Gutachten in einem Strafverfahren gebeten. Remschmidt kommt noch jeden Tag an seine frühere Wirkungsstätte, die unter seiner langjährigen Leitung ihren international einzigartigen Rang behaupten konnte; von einer "Hochburg der Kinder- und Jugendpsychiatrie" spricht etwa die "Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie" auf ihrer Homepage.


Der achtjährige Peter wurde von seinen Eltern aufgrund stark ausgeprägter Tics vorgestellt (...). In rascher Folge war es zu Grimassieren, Kopfschütteln, Schulterrucken, Hüsteln und Räuspern gekommen, wobei stets ein Tic für eine begrenzte Zeit im Vordergrund stand. (Die kursiv gesetzten Fallbeispiele stammen aus den vorgestellten Publikationen)


Vor Kurzem hat der Mediziner ein neues Büro bezogen, das ihm als Emeritus zusteht. Die Wände sind mit Bücherregalen zugestellt. Von Zeit zu Zeit kommt er während der Unterhaltung hinter seinem Schreibtisch hervor, um den einen oder anderen Band zu holen, den er im Laufe der Jahre herausgebracht hat, aber ab und zu muss er passen - der kleine Raum kann nicht alle Publikationen fassen, die der Kinder- und Jugendpsychiater angesammelt hat. Im Ruhestand kann er sich nun ganz denjenigen Vorhaben widmen, die ihm besonders wichtig sind - frei von den Zwängen der Patientenversorgung und Klinikverwaltung.

Für Mediziner ist es eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, Forschung zu betreiben. Denn neben der Wissenschaft sind ja auch noch Lehre und vor allem die Patientenversorgung unter einen Hut zu bringen. Die Forschung findet oft genug nach Feierabend statt. Um die wissenschaftliche Arbeit zu fördern, errichtete Remschmidt an seiner Klinik eine eigenständige Forschungseinheit - "ein Bereich, in dem die Leute unbelastet sind von der Klinikroutine." Früher habe die Forschung begonnen, wenn der Klinikalltag beendet war, erinnert sich der Mediziner. "Ich habe das schon immer für falsch gehalten."

Die Forschungseinheit erfüllt vielfältige Aufgaben: Die Mitarbeiter sollen zum Beispiel helfen, Drittmittel einzuwerben, vor allem aber sind sie bei allen Forschungsaufgaben der Klinik für Beratung und Dienstleistungen zuständig. "Dabei beschränken sie sich nicht auf reine Zuarbeit", hebt Remschmidt hervor, "sondern erschließen auch neue Wege und Verfahren, um zukunftsweisende Projekte zu etablieren und durchzuführen." Indem der Klinikchef konsequent dafür sorgte, dass die Abteilung mit dem nötigen Personal ausgestattet war, standen ständig qualifizierte Mitarbeiter zur Verfügung, die den größten Teil der für die Forschung erforderlichen Dienstleistungen im eigenen Haus erbringen konnten. So beschäftigt die Forschungseinheit etwa einen Statistiker - unabdingbare Voraussetzung, um belastbare Schlüsse aus klinischem Datenmaterial und Laborergebnissen zu ziehen.

Beim Rundgang durch die Klinik präsentiert Remschmidt unter anderem das psychopharmakologische Labor, ausgestattet mit rot gekachelten Nassarbeitsplätzen, wie man sie vom Chemiesaal in der Schule kennt. Hier werden Blutspiegeluntersuchungen durchgeführt, die einerseits zur Diagnostik benötigt werden: Die im Blut gemessenen Substanzen geben Hinweise auf psychische Krankheiten. Insbesondere aber erlaubt das Labor, die Konzentration von Medikamenten im Blut zu ermitteln, so dass man deren Dosierung genau abstimmen kann.

Der Emeritus nennt die Forschungseinheit ein "ungeheuer erfolgreiches Konzept". Die Assistenzärzte wurden für einen begrenzten Zeitraum in die Forschungsabteilung beurlaubt, wenn sie das wünschten, um an bereits begonnen Projekten zu arbeiten - sofern ihr Engagement ihre Neigung zur Forschung bewiesen hatte.


Mit Beginn der zweiten Klasse häufen sich die Rückmeldungen aus der Schule über Horsts Unkonzentriertheit und motorische Hyperaktivität. Zudem quiekt und grunzt er ab und zu, ohne dass er eine Erklärung dafür geben kann.


Forschungseinheiten in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken wie in Marburg und Berlin, wo Remschmidt zuvor tätig gewesen war, hatte es in dieser Form in Deutschland bis dahin nicht gegeben. Um Erfahrung zu sammeln, besuchte er auf ausgedehnten Reisen durch Europa und Nordamerika eine Reihe namhafter Kliniken, die zugleich forschungsaktiv waren; auf diesen Reisen lernte er viele international bekannte Kollegen kennen.

Dieser weltläufige Zug kam auch dem Nachwuchs entgegen. Der Klinikleiter kümmerte sich nämlich nicht nur um aufstrebende Jungwissenschaftler, indem er besonders gute Forschungsbedingungen schuf. Er schickte sie auch in die Fremde, wenn sie dort neue Methoden kennenlernen konnten - mit Erfolg, wie Zahl und Rang seiner Schüler beweisen: Sechs Lehrstuhlinhaber sind aus seinem Haus hervorgegangen.

Das Spektrum der Krankheiten, mit denen Remschmidt sich beschäftigt hat, ist breit, es orientiert sich an den Erfordernissen der Akutklinik: Vom kindlichen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom über Angst- und Zwangsstörungen bis zu Depressionen und Schizophrenie. "Heute kann man nicht mehr so breit arbeiten, es ist alles spezieller geworden", merkt der Wissenschaftler an und mahnt: "Man darf aber auch nicht zu eng sein, man muss das richtige Maß finden."

Die Erfolge der Marburger Klinik in Krankenversorgung und Versorgungsforschung stehen in Zusammenhang mit ihrer Beteiligung am "Modellprogramm Psychiatrie" der Bundesregierung. Es war der "Durchbruch für die deutsche Psychiatrie", sagt Helmut Remschmidt rückblickend. Deutschland wurde von einem Entwicklungsland zu einem Vorzeigestaat in Sachen Psychiatrie. "In der Psychiatrie herrschten nach dem Krieg desolate Zustände", erinnert sich der Mediziner an frühere Zeiten. In den siebziger Jahren ging die Enquete-Kommission des Bundestages daran, die Missstände festzustellen und deren Abschaffung einzuleiten. Remschmidt selbst war Mitglied in der wissenschaftlichen Kommission zum Modellprogramm, in der die Umsetzung der Enquete-Empfehlungen vorbereitet wurde.

Bei seiner Berufung nach Marburg setzte Remschmidt durch, dass die Stadt und deren Umland zu einer der 14 ausgewiesenen psychiatrischen Modellregionen wurde - und zwar zur einzigen, die auf Kinder- und Jugendliche spezialisiert war. Er erinnert sich noch genau an das entscheidende Gespräch mit dem damaligen Sozialminister Armin Clauss, der bei einem gemeinsamen Essen befand: "Ich habe mich über Sie erkundigt. Wir machen das." Das finanzielle Engagement von Bund und Land brachte 10 Millionen Mark nach Marburg.

In wissenschaftlicher Hinsicht ging es in diesem Rahmen zunächst um Versorgungsforschung: Also darum, die bestehenden Angebote für psychisch kranke Kinder und Jugendliche zu erheben, sowie um Empfehlungen, wie sie zu verbessern seien. Hierfür holte der Klinikleiter alle mit ins Boot, die an der Versorgung der Betroffenen beteiligt waren - Jugendämter, Schulen, Heime, aber auch Polizei und Justiz.

Im Rahmen des Programms wurde unter anderem ein mobiler kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst gegründet, der im Landkreis herumfuhr, Beratung anbot und Einrichtungen begutachtete. "Das war etwas völlig Neues, das gab es in der ganzen Republik nicht", hebt Remschmidt hervor. Über ein Jahr lang wurden alle psychisch kranken Kinder und Jugendlichen erfasst - wo sie herkamen und wohin sie gebracht werden sollten - "das war einmalig, das gab's vorher noch nicht".

Das Ergebnis der Erhebung: Fast 13 Prozent der bis 18-Jährigen leiden im Durchschnitt an einer psychischen Erkrankung, fünf Prozent sind absolut behandlungsbedürftig. "Dieses Buch hat große Wellen geschlagen", sagt der Wissenschaftler über die Veröffentlichung der Daten, "weil es erstmals eine repräsentative Stichprobe vorstellte." Eine weitere Studie nahm psychische Auffälligkeiten von Schulkindern zwischen sechs und achtzehn Jahren in den Blick. "Wir haben untersucht, welche Effekte ein mobiler Dienst hat: Psychisch kranke Kinder kamen früher in Behandlung, weil ihre Erkrankung früher diagnostiziert werden konnte; dadurch waren die Verweildauern kürzer."


Michaela berichtet, sie höre Stimmen, wenn niemand sonst da sei: "ein Gezeter und Gejammer oder auch einfach nur Schreie", das mache ihr Angst. Auch beschrieben die Stimmen ihre Handlungen (...) oder erteilten ihr Befehle...


Unter Remschmidts Ägide als Klinikleiter sind an der Marburger Einrichtung viele Langzeitprojekte durchgeführt worden - "einer der Gründe, warum ich hier geblieben bin", sagt der frühere Hochschullehrer, der in dieser Zeit unter anderem einen Ruf an die Zürcher Universität erhalten hat. Er hat ihn abgelehnt. Eines der langwierigsten Vorhaben konnte er erst jüngst nach 32 Jahren abschließen: Vor Kurzem hat er eine Monografie zum Thema Kinderdelinquenz an einen Verlag geschickt. "Natürlich sind Dissozialität und Delinquenz keine Krankheiten", hebt der Seelenarzt hervor. Aber es gibt Zusammenhänge zwischen psychisch auffälligem Verhalten und Straffälligkeit: So sind hyperaktive Kinder eher delinquent als andere.

Für die Studie wurden alle strafunmündigen Kinder im Landgerichtsbezirk Marburg erfasst, also alle Kinder unter 14 Jahren, die wegen einer Straftat angezeigt worden waren. Ermittelt wurden Informationen zum Elternhaus, die Schulleistungen und so weiter. Die Wissenschaftler unterteilten die straffälligen Kinder in Gruppen, etwa nach der Maßgabe, ob es sich um Einfach- oder Mehrfachtäter handelte; aus diesen Gruppen wählten sie zufällige Stichproben aus. Im Alter von 22 Jahren wurden die ausgewählten Probanden persönlich nachuntersucht, mit psychologischen Methoden, Intelligenztests und dergleichen. Das ging nicht immer ohne Schwierigkeiten, erzählt Remschmidt: "Zum Teil waren die im Gefängnis oder gerade entlassen, die haben wir dann auf einer Waldlichtung untersucht, weil die das zu Hause nicht so gerne sahen." Einmal lief ein Bauer einem Mitarbeiter mit der Mistgabel hinterher, als er erfuhr, was dieser vorhatte.

Ein weiteres Mal wurden Daten über die Probanden ermittelt, als diese 42 Jahre alt waren: Sämtliche Angaben aus dem Strafregister und der Erziehungskartei; in letzterer sind bei Jugendlichen auch Maßnahmen wie Heimeinweisungen eingetragen, die im Strafregister nicht erscheinen. "Man hatte also über zirka 250 Personen Daten von drei Punkten", erläutert Remschmidt. Die Werte aus dem Alter von unter 14, 22 und 42 Jahren konnte man nun in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung setzen. Die Langzeitbeobachtung ermöglicht es, Prognosen zu erstellen, aber auch zurückzublicken: Welche Entwicklung liegt zwischen dem 22. und dem 42. Lebensjahr? Was lässt sich bei einem Alter von sechs Jahren für den 22-Jährigen prognostizieren, aber auch für den 42-Jährigen? "So etwas ist zum Beispiel in den USA nur schwer möglich, weil dazu personelle Kontinuität nötig ist", betont der Studienleiter.

Darüber hinaus wurde ein Fragebogen entwickelt, um das so genannte Dunkelfeld zu ermitteln. Das sind diejenigen Straftaten, die nicht der Polizei oder den Gerichten bekannt sind. "Wir haben festgestellt, dass eine deutliche Beziehung zwischen Dunkel- und Hellfeld besteht", sagt Remschmidt: Wer oft erwischt wird, begeht häufig auch unentdeckte Straftaten. Zwei Typen von Delinquenten lassen sich der Studie zufolge unterscheiden: Solche vom persisitierenden Typus - "die fangen früh an und steigern sich nach und nach", erklärt Remschmidt: "Sie kommen aus ungünstigem Erziehungsmilieu, fallen früh auf, zum Beispiel durch Tierquälerei". Straffällige vom nicht-persistierenden Typus hören dagegen als junge Erwachsene mit ihrem Tun auf.


Ein 14-jähriger Jugendlicher, der seinen besten Freund getötet hatte, konnte sich in den ersten 48 Stunden nach dem Ereignis an die Tat und ihre Details nicht erinnern. Als er nach Vollendung der Tat zu Hause angekommen war, rief er wiederholt bei dem getöteten Jungen zu Hause an, um ihn zum Turnen abzuholen.


Auch andere Projekte betreut Remschmidt noch weiter, obwohl er die Klinikleitung schon vor zwei Jahren abgegeben hat. Besucht man die Forschungsabteilung der Marburger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, fallen im Flur lange Reihen von Plakaten ins Auge, auf denen Doktoranden ihre wissenschaftlichen Ergebnisse zur Schau stellen. "Hier hing bis vor kurzem alles voll mit Postern über Legasthenie", erläutert der Emeritus. Legasthenie ist eines der Themen, die ihn in seiner Forschungsarbeit über eine lange Zeit hinweg beschäftigt haben.

Mit der Orthografie ist es so eine Sache. Viele Menschen stehen mit ihr ein Leben lang auf Kriegsfuß, aber häufig wird verkannt, dass es sich bei schweren Fällen um eine Störung mit Krankheitswert handelt: Bei manchen Betroffenen sitzt der Fehlerteufel regelrecht in den Genen. Für das Krankheitsbild hat die Wissenschaft einen Namen ersonnen, der mit seiner Häufung von Konsonanten das Zeug dazu hat, zwischen Orthografie-Versagern und anderen Menschen zu unterscheiden: Rede- und Lichtschweb- ... nein, Rache- und Schlechtweibschliche, Quatsch: Lese- und Rechtschreibschwäche! Eine Krankheit als Zungenbrecher - wer ihn richtig buchstabieren kann, hat sie nicht.

Ehe sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es sich bei der Legasthenie um eine schwerwiegende Entwicklungsstörung handelt, hatten die Betroffenen nicht nur mit der Orthografie zu kämpfen, sondern auch mit Vorurteilen, macht der Arzt klar: "Es gibt ja immer noch Lehrer, die sagen, die sind faul." Die Folgen für die kleinen Patienten können gravierend sein. "Sie ahnen nicht, was das für die Kinder in der Schule bedeutet", schildert Remschmidt die Konsequenzen - "manche sind ja selbstmordgefährdet."


Simone gibt eine "Magersuchts-Stimme" an, die sie beschimpfe, wenn sie etwas esse. (...) Sie habe an fast nichts mehr Freude, sei häufig gereizt, weine viel und habe sich von ihren Freundinnen zurückgezogen.


Noch vor wenigen Jahren hielt man Legasthenie für milieubedingt. Doch das stimmt nicht. Untersuchungen haben ergeben, dass die Schwäche in manchen Familien gehäuft auftritt. Dieser Befund kann unterschiedliche Ursachen haben: So kann die Häufung an den Kommunikationsformen liegen, die im Umfeld der Betroffenen üblich sind; es ist aber ebenso gut möglich, dass ererbte Anlagen zugrunde liegen, die bei allen Verwandten in ähnlicher Weise auftreten - "Legasthenie hat in diesem Fall nichts mit einer unterprivilegierten Schicht zu tun", betont Remschmidt.

Die Marburger Forscher haben anhand von Familienuntersuchungen schon vor vielen Jahren herausgefunden, dass Legasthenie in Familien gehäuft auftritt. Wie der Mediziner erklärt, ist dies ein deutlicher Hinweis auf eine genetische Verursachung, ebenso wie die Tatsache, dass eineiige Zwillinge eine viel höhere Übereinstimmung zeigen als zweieiige.

Dank der Forschungseinheit und umfangreicher Drittmittelprojekte konnten die Wissenschaftler der Legasthenie mit vielfältigen Methoden zu Leibe rücken: So wurden Fallstudien betroffener Familien publiziert, Lernexperimente durchgeführt und die Aktivität der beteiligten Gene studiert. Im Untersuchungsraum, der nur ein paar Schritte vom Emerituszimmer entfernt ist, steht eine Art Zahnarztstuhl vor einem Monitor. Während die Probanden Bilder vorgespielt bekommen oder unterm Kopfhörer versuchen, Silben zu unterscheiden, werden ihre Hirnströme elektronisch abgeleitet. Davon erhofft man sich Rückschlüsse darauf, wo die beteiligten Gehirnareale lokalisiert sind. Entscheidend ist dabei die Wahl der Versuchspersonen, erläutert Remschmidt: "Die Vergleichsgruppen müssen übereinstimmen, zum Beispiel in Geschlecht, Intelligenz, sozialer Schicht und so weiter." Sogar die Händigkeit spielt eine Rolle, also ob jemand Links- oder Rechtshänder ist.

Wie die Marburger Forscher ermittelt haben, beruht Legasthenie auf einer Störung verschiedener Hirnfunktionen, die zu einer fehlerhaften Sprachwahrnehmung führt. "Man kann die Störung schon im Kindergarten voraussagen, noch bevor ein Kind lesen und schreiben lernt", erklärt Remschmidt: Den Betroffenen fällt es schwer, Laute zu unterscheiden, was sich sogar auf nichtsprachlicher Ebene nachweisen lässt. Das hätten Experimente mit Computer-generierten Tönen gezeigt, sagt der Psychiater und macht zur Veranschaulichung glockenartige Geräusche: "din, dan, don - das können die schwer unterscheiden."

Mittels molekulargenetischer Verfahren haben er und seine Kollegen herausgefunden, dass bestimmte Genorte auf den Chromosomen 6 und 15 mit den Symptomen einer Legasthenie assoziiert sind. Diese in Marburg begonnenen Untersuchungen werden jetzt von Remschmidts Schülern Andreas Warnke und Gerd Schulte-Körne fortgeführt, die Lehrstühle in Würzburg und München bekleiden.

"Der Weg von den Ursachen bis zur Therapie ist aber weit", gibt der emeritierte Hochschullehrer zu Bedenken: "Selbst wenn alle Gene bekannt wären, die zur Entstehung einer Legasthenie beitragen, wäre für die Behandlung noch nicht viel gewonnen." Der nächste Schritt besteht darin, die Funktion der Gene aufzuklären - sie beeinflussen zu können, liegt aber noch in weiter Ferne. "Im Übrigen spielt auch die Gen-Umwelt-Interaktion eine große Rolle", hebt der Kinder- und Jugendpsychiater hervor: Obwohl die Lese- und Rechtschreibschwäche stark genetisch determiniert ist, sind die Milieu- und Förderbedingungen von allergrößter Bedeutung. Sein Resümee: "Auch wenn in der Ursachenforschung und der Förderung schon große Fortschritte erzielt wurden, so bleibt noch viel zu tun." Es ist zu hoffen, dass die nachfolgenden Generationen weiterhin so beharrlich sind wie Helmut Remschmidt.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 18: Gemälde einer 16-jährigen Patientin; Sammlung von Helmut Remschmidt
Abb. S. 19: Katze mit Regenbogen und Mäusen": Eine 14-Jährige mit schizophrener Psychose malte dieses Bild.
Abb. S. 19: Helmut Remschmidt
Abb. S. 20: Eine 16-Jährige mit Magersucht gestaltete diese "Knochenfrau".
Abb. S. 20: "Gesicht": Bei dem 16-jährigen Künstler wurde Paranoid-halluzinatorische Schizophrenie diagnostiziert.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 32, April 2009, Seite 18 - 21
Herausgeber: Der Präsident der Philipps-Universität Marburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009