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VORTRAG/076: Klaus Dörner - "Nur Bürger integrieren Bürger" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 128 - Heft 2, April 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Nur Bürger integrieren Bürger"

Hinterm sozialpsychiatrischen Horizont geht's weiter - "Fremdimpulse" übersetzen

Von Klaus Dörner


Nach dem Wunsch der Veranstalter ist es meine Aufgabe, Euch/Sie davon zu überzeugen, dass wir psychiatrischen Profis zwecks Nutzbarmachung des Sozialraumkonzepts der Fremdimpulse bedürfen, eben weil es jenseits des jeweiligen Horizonts dummerweise stets weitergeht. Ich bin für diese Rolle an sich wenig glaubwürdig, weil ich zu Berufszeiten mir keine Minute Zeit für Fremdimpulse erlaubt habe; die psychisch Kranken waren mein Nabel der Welt. Allerdings bereue ich das heute, weil ich inzwischen weiß: Wenn ich mir den Blick über einige Tellerränder gestattet hätte, hätte ich ein Vielfaches an Zeit gespart und zugleich die Integration der psychisch Kranken deutlich verbessert, nicht zuletzt was den Sozialraum angeht. Lernen Sie also wenigstens von meiner Reue über meine Borniertheit, und machen Sie es besser als ich.


Ein Blick in die Geschichte

Wir haben schon einiges über den Sozialraum gehört, und wir werden noch mehr hören, wieso Jugendhilfe, Altenhilfe und inzwischen auch Behindertenhilfe vom Sozialraumkonzept profitiert haben, während wir doch eigentlich, so könnten wir sagen, mit unserem "Gemeindepsychiatriekonzept" ganz gut durch die Psychiatriereform gekommen sind. Oder hat das halbe Scheitern dieser Reform, nicht was die vielen attraktiven gemeindepsychiatrischen Arbeitsplätze für uns Profis, wohl aber was die Integration der chronisch psychisch Kranken in die Gemeinde angeht, gerade damit zu tun, dass wir uns bisher um den wesentlich präziseren und verbindlicheren Sozialraum herumgemogelt haben?

Um das zu klären, setze ich hier den ersten Fremdimpuls, und zwar den historischen; denn auch Geschichte ist uns fremd geworden. Bis zu den Nazis haben wir sie zwar drauf, aber die Zeit davor - meistens Fehlanzeige. Obwohl wir bis heute doch davon geprägt sind, dass wir im 19. Jahrhundert im Zuge der Begeisterung über die Industrialisierung und die Wissenschaftsfortschritte unsere Gesellschaft in eine Trennungsgesellschaft (oder Apartheidgesellschaft) - und zwar nach dem Leistungskriterium - umgebaut haben, indem wir die Leistungs-Minderwertigen und die Störenden als Sand im Getriebe den Familien und Nachbarschaften weggenommen und den Wissenschaftsfortschrittserwartungen der neuen sozialen Institutionen ausgesetzt haben. Die Kehrseite davon war, dass die Bürger der Sorge um Andere entwöhnt und die Anstaltsbewohner derart entwertet wurden, dass ihnen schon im Ersten Weltkrieg durch Kalorienreduktion staatlich gezielt eine Übersterblichkeit von 70.000 Mordopfern verordnet werden konnte, ohne dass die damaligen Profis sich darüber aufgeregt hätten und ohne dass die Nazis im Zweiten Weltkrieg dazu noch viel Neues erfinden mussten.

Und wir helfenden Berufler, die wir damals menschheitsgeschichtlich erstmals in eben diesen Ausgrenzungsinstitutionen entstanden sind, hatten ganz natürlich den staatlich-marktökonomischen Auftrag übernommen, Integration nicht etwa zu fördern, sondern als eine Art Grenzschutzpolizei zu verhindern. Fortschritt bedeutete für uns Gesundheits- und Sozialprofis nicht ambulant vor stationär, sondern umgekehrt stationär vor ambulant, eine so wirksame Tradition von 1880 bis mindestens 1980 -, dass jeder von uns noch Spuren davon in sich selbst vorfindet.

So wird etwa die "Erfolgsbilanz" unserer Psychiatriereform verständlicher, wonach die Zahl der Heimplätze für chronisch psychisch Kranke (und geistig Behinderte) sich in den letzten dreißig Jahren fortlaufend erhöht hat, besonders peinlich, weil zeitgleich die Schweden und Norweger ihre Institutionen weitgehend verüberflüssigt haben.

Es wird auch verständlich, warum wir nun alt gewordenen Gemeindepsychiatriepioniere damals die Frage nach der Größe von "Gemeinde" gar nicht gestellt oder mit der Floskel "Standardversorgungsgebiet = 250.000 Einwohner" beantwortet haben. In beiden Fällen haben wir damit verraten, dass uns dabei die für die Integration der chronisch psychisch Kranken optimale Sozialraumgröße ganz unbekannt oder gar egal geblieben ist; ich wenigstens muss das für mich bekennen.

"Statt Gemeindepsychiatrie kommt nur Psychiatrie-Gemeinde heraus, wo bis in den ambulanten Bereich psychisch Kranke von Profis umzingelt und genau so lange nicht integriert sind"

Und es wird drittens verständlich, warum der hundertjährige Traditionsdruck (Fortschritt = stationär vor ambulant) sich bis dahin auswirkt, dass auch heute noch so oft wie im Einladungstext für diese Tagung formuliert - statt Gemeindepsychiatrie nur "Psychiatrie-Gemeinde" herauskommt, wo bis in den ambulanten Bereich hinein psychisch Kranke noch von Profis umzingelt und genau so lange nicht integriert sind.

Denn Integration (oder Inklusion) bedeutet - und da werden wir uns weitgehend einig sein -, dass Bürger mit und Bürger ohne psychische Erkrankung ihre Beziehungen möglichst weitgehend selbst regeln, was heißt, dass wir Profis uns - in Vorleistung - möglichst zurückzunehmen haben; oder wie in der Altenhilfe längst üblich: Es gilt das Steuerungsprinzip des erst noch zu findenden zukunftsfähigen Hilfesystems: der "Bürger-Profi-Mix", also so viel Bürger wie möglich und so viel Profis wie nötig - und zwar eben nicht so sehr wegen der Kosten, sondern vor allem der Integration wegen; denn es gilt der neue Lehrsatz: Wir Profis können zwar Integration fördern (daher auch verhindern); aber alltagswirksam durchsetzen können die Integration nur Bürger: nur Bürger integrieren Bürger.


Wider die "Profizentrierung"

Das scheint mir nun die Schwäche unserer offenbar immer noch von unserer institutionellen Herkunft angekränkelten Gemeindepsychiatrie zu sein, dass wir noch zu sehr von einem profizentrischen Menschenbild ausgehen, wonach wir zwar im klassischen, wenn auch inzwischen als falsch erwiesenen Mediziner-Sound sagen: "Der Patient steht im Mittelpunkt", dass wir inzwischen sogar trialogisch von der eigenständigen Situation der Angehörigen her denken können (auch wenn sich das schon wieder zurückbildet), dass wir aber noch kaum gelernt haben, von der ebenso eigenständigen Situation der Bürger eines Stadtteils auszugehen, obwohl diese Bürger zwar nicht für die Therapie, wohl aber für die Integration mindestens so wichtig sind wie wir Profis. Vielmehr ist es immer noch unser Lieblingssport, Bürger "einzubinden"; und wenn wir im Einladungstext gleich dreimal aufgefordert werden, unseren Blick mehr auf das "Umfeld" der psychisch Kranken zu richten, zwingt sich die Frage auf: "Möchten Sie als Bürger, als Nachbar oder selbst als Angehöriger gern bloßes Umfeld sein?"

Für unsere ohnehin fällige integrationsorientierte Umprofessionalisierung empfiehlt sich also der Lehrsatz, der schon zur Integration der Gütersloher Langzeitpatienten entscheidend beigetragen hat: "Von meiner immer zu knappen Zeit habe ich den größeren Teil nicht für den Betroffenen, sondern für die Menschen drum herum - fallunabhängig - zu verausgaben." Wer das als einen zu großen Traditionsbruch ablehnt, dem ist mit dem zauberhaften Ewigkeitswort von Gregory Bateson, dem Erfinder der Systemtheorie, zu helfen: "Der Kontext ist immer wichtiger als der Text."

Was also die Schwäche der Gemeindepsychiatrie ist, dass - so scheint mir - ist umgekehrt die Stärke des Sozialraumkonzepts; hier sind nicht nur die Profis, sondern auch die Bürger mit und die Bürger ohne psychische Erkrankung bzw. Hilfebedarf gleichermaßen handelnde Subjekte, weshalb dieses Konzept zumindest für unsere Integrationsaufgabe unersetzlich ist. Die zukunftsfähige Formel würde dann lauten: von der Institutionszentrierung über die Personzentrierung zur Sozialraumzentrierung (oder Bürgerzentrierung) - analog zur historischen Bewegung von der ausgrenzenden Trennungsgesellschaft zu mehr Integrationsgesellschaft.

Um jetzt den bisherigen Fremdkörper "Sozialraum" so zu übersetzen, dass er für unser gewohntes gemeinde- oder sozialpsychiatrisches Denken anschlussfähig wird, begnüge ich mich nicht mit der üblichen soziologisch-deskriptiven Definition, dass es sich beim Sozialraum um den "territorialen Nahraum" (Stadtteil, Viertel, Dorfgemeinschaft) handelt; sondern ich gebe diesem Begriff noch eine subjektiv-anthropologische Bedeutung bei, die (und das ist entscheidend) jedes Mitglied des jeweiligen Sozialraums erlebnismäßig nachvollziehen kann, eine Bedeutung, die alle umfasst, also alle Bürger mit und alle Bürger ohne psychische Erkrankung und auch alle Profis; denn alle sind gleich wichtig für die Integration.


Der "dritte Sozialraum" ...

Eigentlich nur aus solchen didaktischen Übersetzungsgründen spreche ich im Folgenden immer nur vom dritten Sozialraum, was ich von den Bürgerhelfern im alten Hilfebereich gelernt habe und womit zum Ausdruck kommt, dass dieser dritte Sozialraum zwischen dem Sozialraum des Privaten und dem Sozialraum des Öffentlichen liegt, wo ich mich also Anderen gegenüber zwar weniger verpflichtet fühle als meinen Familienangehörigen, jedoch mehr als gegenüber Anderen in der unverbindlichen Allgemeinheit des öffentlichen Sozialraums. Alle empirischen Untersuchungen beweisen, dass jeder dies zumindest im Kern von sich selbst kennt. Sie führen etwa zu Äußerungen wie: "Also, an sich interessiere ich mich für psychisch Kranke (Behinderte, Demente) einen Dreck; aber die, die da wohnen, wo ich auch wohne, bei denen ist das etwas ganz Anderes; denn die gehören ja zu uns, das sind nicht die, sondern unsere psychisch Kranke!" Wir haben das in Gütersloh ständig erlebt. Emnid weist dies in den jährlichen Umfragen zum bürgerschaftlichen Engagement nach. Und Sie selbst können ein solches Experiment mit der Frage nach der Bedeutung des dritten Sozialraums in jeder Schulklasse nach demselben Erfolg wiederholen. Daher hat Helmuth Plessner den dritten Sozialraum auch den "Wir-Raum" genannt. Offensichtlich gibt es also unter den Gemein-Sinnen auch ein Sozialraum-Sinnesorgan, das zwar wegen des Fortschritts der Professionalisierung und Institutionalisierung des Helfens nicht mehr benötigt wurde, das jedoch etwa seit 1980, weil nun wieder benötigt, uns bewusst, subjektiv erlebt und dann auch zunehmend betätigt wird.


... als "Wir-Raum"

Abgeleitet von solchen Überlegungen im Folgenden eine der wichtigsten Bestimmungsstücke des dritten Sozialraums:

1. Entscheidend ist erst einmal die Größe: nach auch internationaler Übereinkunft im städtischen Bereich 5000 bis 30.000 Einwohner, im ländlichen Bereich 1000 bis 5000 Einwohner, je nachdem, wie viel Nachbarschaftsmentalität noch oder schon wieder entweder die Bürger selbst oder wir Profis wachgeküsst haben, völlig gleichgültig, ob es sich dabei um einen Villen- oder um einen Slumstadtteil handelt - nur die Methoden des Wachküssens ändern sich entsprechend. Natürlich gibt es die 5000 bis 30.000 Einwohner nicht objektiv; sondern die Objektivität setzt sich zusammen aus dem, was jeder Bürger subjektiv als sein Viertel oder seine Dorfgemeinschaft fühlt. Und ein solches Gefühl hat garantiert jeder von uns.

Aus alledem ergibt sich die zauberhafte Umprofessionalisierungsfrage, etwa für das DGSP-Fortbildungsinstitut: "Wofür bist du verantwortlich?" Bei vorliegender Sozialraumorientierung müsste die Antwort lauten: "Ich bin für Frau Meyer und Herrn Müller verantwortlich; aber gerade wegen dieser Verantwortung bin ich zugleich auch verantwortlich für die Förderung der Integrationsbereitschaft aller Bürger eines Territoriums, das wir gemeinsam umschreiten können." Analog dem afrikanischen Sprichwort: "Um ein Kind zu erziehen, bedarf es eines ganzen Dorfs." Insofern muss man sich den dritten Sozialraum wie ein Gebilde aus konzentrischen Kreisen vorstellen: Angehörige, Verwandte, Freunde, Nachbarn, organisierte Bürger und Bekannte. Letztere spielten in Gütersloh - gerade als "schwache Beziehungen" - oft die wichtigste Rolle. Ebenso wichtig: Soziale Distanz und ökonomische Benachteiligung sind oft mit Geldanreiz auszugleichen, was nicht ehrenrührig ist und wodurch sich die neue Bürgerhelferbewegung vor allem von dem schmückenden Beiwerk der alten Ehrenamtlichen unterscheidet.

2. Diesen dritten Sozialraum gab es in allen Kulturen der Menschheitsgeschichte, und zwar für drei präzise Funktionen: für den Hilfebedarf, mit dem eine Familie überfordert ist; für Singles, die gar keine Familie haben, und für alle Formen der Integration (z.B. auch für Migranten), schon weil der Privatraum zu nah und zu klein und der öffentliche Raum zu fern, zu groß und zu anonym ist. Nur die letzten hundert Jahre glaubten wir, voller lauter Fortschrittsbegeisterung, ohne die ungeliebte, weil für alle lästige Bürgerhilfe auszukommen, wenn auch um den Preis der institutionellen Ausgrenzung der Leistungs-Minderwertigen und Störenden.

"Wir wachsen in eine Gesellschaft mit dem größten Hilfebedarf der Menschheitsgeschichte hinein"

Aber seit 1980 ist uns bewusst, dass wir in eine Gesellschaft mit dem größten Hilfebedarf der Menschheitsgeschichte hineinwachsen; denn zur Gesellschaft kommen jetzt drei in ihrer Größe menschheitsgeschichtlich unbekannte, neue, hilfe- und kostenintensive und damit integrationsbedürftige Bevölkerungsgruppen hinzu: einmal die Alterspflegebedürftigen und Dementen, zum anderen die körperlich chronisch Kranken, die es früher auch kaum gab, und drittens die neo-psychisch Kranken, also die, die zwar nicht als Sozialpsychiatrie-bedürftig, wohl aber als Psychotherapie-bedürftig angesehen werden, einfach deshalb, weil man - als Marktphänomen - die Schwelle des Unwohlseins, ab der man als psychisch krank anerkannt ist, etwa um das Vierfache abgesenkt hat, was eine Vervierfachung der psychisch Kranken bedeutet, obwohl diese empirisch nachprüfbar sich kaum vermehrt haben, nun aber geeignet sind, den zahlenmäßig gleich gebliebenen wirklich schwer psychisch Kranken die ohnehin knappen Geldmittel streitig zu machen.(1)

Es ist klar, dass wir jetzt - neben der nicht mehr linear fortzuschreibenden Profihilfe - nicht mehr ohne die Wiedergeburt der Bürgerhilfe auskommen, womit wir jedoch eigentlich nur wieder an die Kulturgeschichte der Menschheit - zugleich integrationsfördernd - Anschluss finden. Auch dies ein Fortbildungsthema für unsere Umprofessionalisierung.

3. Der dritte Sozialraum ist nun auch - als Wir-Raum - definitiv der einzige Integrationsraum; denn im Privatraum sind wir an Selbstbestimmung und unseren gesund-egoistischen Eigeninteressen orientiert und im öffentlichen Raum verfolgen wir - marktorientiert - ebenfalls unser Selbstbestimmungsbedürfnis, hier in Form unserer beruflichen Eigeninteressen. Also bleibt auch unter dieser Perspektive nur der dritte Sozialraum für die Gemeinwohlorientierung und damit für die Integration.

Selbst das kann nur funktionieren, wenn wir der anthropologischen Erkenntnis (Plessner, aber auch Habermas oder Levinas) folgen, dass alle Menschen nicht von einem, sondern von zwei Grundbedürfnissen gesteuert sind: einmal natürlich von der Selbstbestimmung, die ein wahrlich kostbares Gut ist. Nur wenn wir Profis immer nur "mehr Selbstbestimmung" als Ziel für die psychisch Kranken formulieren, befördert das unser immer noch institutionelles Denken; denn "mehr Selbstbestimmung" als isoliertes Ziel kann nur für Institutionen gelten, in denen wir Profis den psychisch Kranken ihre Selbstbestimmung weggenommen hatten. Für das Alltagsleben in der Gemeinde reicht das aber nicht aus. Das hatte ich auch schon von den Gütersloher Langzeitpatienten gelernt, als die mich witzig kritisiert hatten: "Leben Sie mal in einer noch so schönen Wohnung - immer nur allein mit ihrer Selbstbestimmung!"

Abgesehen davon, dass jede oberste Norm - isoliert - dazu neigt, sich zu verabsolutieren und dann auch mörderisch zu werden, muss jeder nur sich selbst fragen: Jeder Mensch hat zwar natürlich das Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung, aber auch kultürlich - auch das entgegengesetzte, komplementäre Grundbedürfnis nach Bedeutung für Andere, eine Formel, die ich aus vielen Bürgerhelferantworten im alten Hilfebereich destilliert habe: Jeder Bürger mit und ohne psychische Erkrankung braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere (die ganz klein, aber auch groß sein kann), will für Andere notwendig sein - um Gottes willen nicht zu viel davon, das ist zu viel Last und Belastung, aber um Gottes willen auch nicht zu wenig, nicht gar nicht; denn nur wenn ich nicht über-, aber auch nicht unterlastet, also ausgelastet bin, kann ich auch gesund sein; sonst treibt mich mein Unwohlsein zum Psychotherapeuten.

"Bei zu viel freier Zeit (z.B. Rente = 100 Prozent) schlägt der Genuss in Leiden um"

Dem dritten Sozialraum als dem einzig möglichen Integrationsraum entspricht obendrein die empirisch nachweisbare Wiederentdeckung der dritten als der sozialen Zeit, eine mal mikroskopisch kleine, mal aber auch größere Zeiteinheit, die nun wieder zwischen der arbeitsgebundenen Zeit und der freien Zeit liegt; denn bei zu viel freier Zeit (z.B. Rente = 100 Prozent) schlägt der Genuss in Leiden um.

Laut Emnid gibt ein Drittel der Bürger seit 1980 von sich aus soziale Zeit für Andere; das eigentlich Neue ist aber, dass ein zweites Drittel heute auf Ansprache (z.B. Klinkenputzen) - weil das die Realisten sind - dritte soziale Zeit für Andere herausrückt, auch dies ein bisher ungenutztes Fortbildungsthema im Übrigen liegt hier der Denkfehler von Fabian Kessls Beitrag auf der Leipziger DGSP-Jahrestagung 2008: Er sieht auch noch den dritten Sozialraum für die Mehrung der Selbstbestimmung vor, während dieser in Wirklichkeit für die Kultivierung des anderen Grundbedürfnisses nach Bedeutung für Andere da ist, und zwar für die Bürger ohne, aber noch mehr - was wir Profis meist vergessen - für die Bürger mit psychischer Erkrankung!

4. Nur für das kleinräumige Territorium des dritten Sozialraums (Viertel/Dorfgemeinschaft) lässt sich das Steuerungsprinzip eines integrationsfähigen Hilfesystems organisieren, nämlich der Bürger-Profi-Mix. Wir Profihelfer haben uns hier den Bürgerhelfern anzupassen, weil Letztere nur hierfür optimal mobilisierbar sind, und auch nur dann, wenn wir Profis auch noch deren Selbstorganisation fördern, damit aus der vertikalen eine horizontale Beziehung zwischen uns wird - ähnlich wie Obama in der vergleichbaren US-Bewegung des "community organizing" 1988 gegen seine eigenen professionellen Interessen zu "Nachbarn an die Macht" aufgerufen hat: Um die Kooperation gleich wichtiger Partner auf derselben Ebene geht es.

5. Und schließlich gibt es im dritten Sozialraum, wo es um die Alltagsintegration der Menschen mit ihren Handicaps (im Gegensatz zur klinischen Akutbehandlung) geht, nur noch eingeschränkt meine (psychiatrische) Zielgruppe, meine Versorgungssäule. So ist zum Beispiel in dem Integrationsprojekt der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (Ambulantisierung eines Drittels der Heimplätze in fünf Jahren) ein Stadtteilteam nicht nur für geistig Behinderte, sondern auch für psychisch Kranke, Hirntraumatiker, Körperbehinderte und Demente verantwortlich. Und dies einschließlich sozialräumlicher Arbeitsmöglichkeiten; denn das Sozialraumkonzept dürfte auch Voraussetzung sein für die Realisierung der UN-Behindertenrechtskonvention mit ihren Fernzielen nach einem Bildungs-, Wohnungs- und Arbeitsmarkt für alle. Und so kümmern sich die Wohngruppenteams in Bielefeld, stadtteilbezogen, nicht nur um Alterspflegebedürftige, sondern auch um geistig Behinderte, Körperbehinderte, psychisch Kranke und Wachkomapatienten. Hier sind auch betriebswirtschaftliche Vorteile durchaus erlaubt. Denn mein Sozialraumteam ist vor allem für die Resozialisierung und Kultivierung der Integrationsfähigkeit des gesamten Viertels/Dorfs verantwortlich, und diese nimmt entweder für alle oder für niemanden zu, wie bei der Altenbewegung zu sehen.


Vorbild: Bürgerhilfebewegung in der Altenpflege

Ich habe noch etwa weitere zwanzig Sozialraum-Bestimmungsstücke in "Leben und sterben, wo ich hingehöre"(2) gesammelt. Zufrieden wäre ich, wenn ich Sie für die folgenden Tellerrand-Fremdimpulse des kommunalen Handelns, der UN-Behindertenrechtskonvention und dann der Jugendhilfe und der Altenhilfe empfänglich gestimmt hätte. Zur Jugendhilfe will ich nichts sagen, weil ich daran nicht selbst mitgewirkt habe, lediglich darauf aufmerksam machen, dass dort im Sozialraumbudget auch ein Bürger-Teilbudget enthalten ist und dass der Landkreis Nordschleswig gerade bestrebt ist, sein Sozialraumkonzept aus der Jugendhilfe auf die Behinderten- und Altenhilfe zu übertragen.

Aber zur Altenhilfe abschließend doch noch ein paar Worte, weil ich mich hier auf mehr als 1500 Feldforschungsreisen in meinen zehn Rentnerjahren habe faszinieren lassen. Einmal der Hinweis darauf, dass hier die Dimensionen viel größer sind als in der Psychiatrie, sie umfassen die gesamte Gesellschaft; denn hier ist aus einem Minderheits- ein Mehrheitsproblem geworden, weil heute schon fast alle Familien und damit fast alle Bürger sich mit der Frage herumschlagen, wie man neue Wege des Helfens erfindet, da die alten nicht mehr taugen oder abgewählt sind, weil heute fast alle Menschen die Vertrautheit der eigenen Wohnung oder zumindest des eigenen Viertels dem früher mal gut akzeptierten Pflegeheim vorziehen. Zum anderen will ich mir das Vergnügen nicht verkneifen, all denen von euch, die meine Gedanken zwar für ganz nett, aber für unrealistischen und sozialromantischen Kitsch halten, mit empirisch nachweisbaren Fakten zu antworten. Denn sämtliche Messinstrumente beweisen, dass es hier so etwas wie eine neue Bürgerhilfebewegung seit 1980 gibt, wozu nicht nur die Hospizbewegung zählt, sondern wo auch neue dritte Wege erfunden worden sind, wie das generationsübergreifende Siedeln, die Öffnung der Gastfamilie für Alterspflegebedürftige, das schwäbische Tandemmodell für die 24-Stunden-Hilfe in der eigenen Wohnung und vor allem die inzwischen versorgungsrelevanten, stadtviertelbezogenen ambulanten Wohnpflegegruppen, durch die zum Beispiel auch die ökonomisch Benachteiligten eines Sozialraums einen Arbeitsplatz finden und die heute schon dazu führen, dass man von heimfreien Zonen spricht, auf der Dorfebene (Eichstätten), auf der Kleinstadtebene (Ettenheim) und auf der Großstadtebene (Bielefeld) zumindest für einzelne Stadtviertel, was durchaus als Standortvorteil dargestellt wird. Während bei uns in der Psychiatrie - mangels Sozial- und Bürgerbeteiligung - die Zahl der Heimplätze weiter steigt, ist im Altenpflegebereich die Heimquote, also die Prozentzahl der Heimaufnahmen, schon nach schlappen dreißig Jahren von 25 auf 19 Prozent gesunken.

Und da ich euch versprochen hatte, dass eine solche Bewegung in Richtung Integrationsgesellschaft auch auf andere Bereiche, auch auf die Psychiatrie zurückstrahle, zum Schluss auch dazu noch wenigstens ein Beleg: In Maroldsweisach, im Landkreis Haßberge, gibt es mit Peter Pratsch einen Heimleiter, der in wenigen Jahren die überwiegende Zahl seiner psychisch kranken Bewohner in eigene Wohnungen und mit eigener Arbeit integriert hat, indem er vor allem jedem Bewohner, der zur Integration ansteht, noch im Heim zwei Reisebegleiter beigibt. Einmal den immer wichtigen Profi und zum anderen einen der inzwischen fünfzig Bürgerhelfer, die aus einem Zehntel von dem, was die Profis kriegen würden, bezahlt werden und sich inzwischen als "Psycho-Paten" selbst organisiert haben. Ich habe noch nie so stabile Integrationsergebnisse erlebt - und dies auf einem Weg, der überall realisiert werden könnte, wenn wir es nur wollen könnten!

Also: Nur eine sozialräumlich organisierte Gemeindepsychiatrie kann ihren Auftrag erfüllen und ist unschlagbar.


Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, ehemals ärztlicher Leiter der LWL-Klinik Gütersloh, lebt in Hamburg. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete Fassung seines Vortrags auf der DGSP-Jahrestagung 2009 in Hamburg.

Anmerkungen:
1) Klaus Dörner: Helfende Berufe im Markt-Doping. Neumünster: Paranus-Verlag, 2001.
2) Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Neumünster: Paranus-Verlag, 2007.


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 126 - Heft 2, April 2010, Seite 40 - 43
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010