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VORTRAG/086: Rechtsgrundlagen und Praxis zur Deinstitutionalisierung der Psychiatrie in Europa (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Deinstitutionalisierung - ein gesamteuropäisches Projekt

Von Joseé van Remoortel



Auf der DGSP-Jahrestagung 2013 in Erfurt gab die Autorin, belgische Senior-Mitarbeiterin von Mental Health Europe, einen Überblick über Rechtsgrundlagen und Praxis zur Deinstitutionalisierung der Psychiatrie in Europa.


In Westeuropa hat die große Deinstitutionalisierungsbewegung schon vor mehr als vierzig Jahren angefangen. In den letzten zwanzig Jahren wurden viele traditionelle psychiatrische Krankenhäuser geschlossen und sehr langsam, nach und nach, wurden auch Alternativen in der Gemeinde entwickelt. Das Tempo dieser Entwicklung ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich, und in Osteuropa muss noch sehr viel geschehen, da es dort noch viele große, veraltete psychiatrische Krankenhäuser gibt.

In und für Europa haben sowohl die Europäische Union (EU), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die Vereinten Nationen (UN) die Deinstitutionalisierung der Psychiatrie gefordert.

Der Beitrag der EU

Was die EU betrifft, ist festzustellen, dass sie in diesem Prozess über keine direkten Einflussnahmemöglichkeiten verfügt. Die EU kann und darf nur empfehlen, sie bleibt "subsidiär".

Dennoch hat in 2009 der seinerzeitige EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit Vladimir Spidla eine unabhängige Expertengruppe zusammengestellt, um die Umsetzung der Deinstitutionalisierung (DI) zu untersuchen. Die Organisation Mental Health Europe (MHE) gehörte zu der Expertengruppe.

In einem Bericht(1) haben die Experten die konzeptionellen Rahmenbedingungen für die notwendigen Veränderungen dargelegt sowie Grundprinzipien, praktische Empfehlungen und pragmatische Leitlinien.

2011 wurden auch "Gemeinsame Europäische Leitlinien für den Übergang von institutionellen Strukturen zu einer gemeindenahen Versorgung" dargestellt.(2)

Die DI-Leitlinien wollen vor allem den Politikern und Entscheidungsträgern eine Handreichung bieten, um den schrittweisen Übergang von institutionellen zu ambulanten Alternativen in der Gemeinde zu unterstützen.

Die Leitlinien geben auch Anregungen für die Aufstellung regionaler Planung und deren schrittweise Umsetzung und enthalten viele Beispiele und Fallstudien.

Anschließend wurde auch noch ein Instrument ("Toolkit")(3) entwickelt, um den Übergang von Institutionen zu gemeindenahen Alternativen zu ermöglichen. "Toolkit" soll die EU-Beamten bei der Programmplanung und Umsetzung der EU-Strukturfonds unterstützen.

Empfehlungen der WHO

Seit mehr als fünfzig Jahren steht für die WHO die Deinstitutionalisierung auf die Tagesordnung. Schon 1953 forderte sie den Abbau der Betten in psychiatrischen Kliniken auf drei pro 1000 Einwohner. 1972 forderte sie 0,5 bis ein Bett pro 1000 Einwohner. Und 2012 beschließt sie gemeinsam mit dem Europarat und der EU einen neuen Aktionsplan mit Deinstitutionalisierung als Priorität.

Die Rolle der UN

Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen(4) wurde 2006 verabschiedet und hat wesentlich dabei geholfen, Rechte in der Psychiatrie durchzusetzen. Alle Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Konvention umzusetzen.

Artikel 19 "Recht auf selbstständiges Leben" ist im thematischen Kontext dieser DGSP-Jahrestagung sehr wichtig. Dieser Artikel besagt:

• Alle Personen müssen, unabhängig von der Art ihrer Behinderung, in ihrem eigenen Umfeld leben können.

• Wohnen, Arbeit, Freizeit, soziale Unterstützung und Versorgung ist gemeindenah zu organisieren.

• Peer-Unterstützung, Persönliches Budget, Nachbetreuung usw. müssen ermöglicht werden.

MHE-Bericht "Mapping Exclusion"

Mental Health Europe hat eine Untersuchung zu den "institutionellen Versorgungsstrukturen" in Europa durchgeführt. Daten und Informationen wurden von der MHE in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Moldawien, Serbien und Israel gesammelt. Der Bericht enthält Informationen über

  • die allgemeine Gesetzgebung in den Ländern, - die Gesetzgebung und Praxis bei Zwangsbehandlung, - die Gesetzgebung zu Vormundschaft und Patientenrechten,
  • die Anzahl psychiatrischer Krankenhausbetten und der Heimplätze für psychisch Kranke,
  • Hilfen im Bereich Wohnen,
  • das Eingliederungshilfeinstrument Persönliches Budget und
  • aktuelle DI-Initiativen.

Einige Ergebnisse:

• Die Datenlage ist in den Ländern insgesamt uneinheitlich, sie variiert in Menge, Art und Qualität von Land zu Land, und viele Daten sind nicht verfügbar bzw. schwierig zu ermitteln oder veraltet.

• In 14 Ländern finden sich noch sehr große Einrichtungen, z.B. Serbien mit mehr als 900 Betten, Ungarn mit 500 Patienten in einer Einrichtung.

• Viele psychiatrische Krankenhäuser haben Langzeitstationen mit einer Aufenthaltsdauer von drei bis zehn Jahren.

• In nur zwei Ländern gibt es das Persönliche Budget (Deutschland und Großbritannien).

• Gesetzgebung: In 16 Ländern gibt es ein Gesetz zur Deinstitutionalisierung, davon haben neun eine entsprechende Strategie oder Sozialprogramme entwickelt.

• Vormundschaft: 25 Länder haben eine Vormundschaftsgesetzgebung, die im Gegensatz zu der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) steht. Nur Deutschland und Schweden haben eine partielle Vormundschaft, sprich Betreuungsgesetze.

• Unfreiwillige Behandlung und Zwangseinweisung in psychiatrischen Einrichtungen ist "common practice". Kein Land verbietet es! In Großbritannien gibt es auch Community Treatment Orders (CTO)*, d.h. unfreiwillige Behandlung zu Hause.

MHE-Empfehlungen

MHE hat eine Liste mit Empfehlungen an die EU, den Europarat und die WHO übermittelt. Die EU soll die Strukturfonds zur Verfügung stellen, ihre Gesetzgebung im Sinne der UN-BRK weiterentwickeln und Monitoring-Systeme entwickeln, mit denen die Verwendung der Mittel aus dem EU-Strukturfonds kritisch begleitet wird.

Die Regierungen sind aufgefordert,

  • die Koordination zwischen sozialen und psychiatrischen Hilfesystemen zu verbessern,
  • Anti-Stigma-Programme auszubauen,
  • das Persönliche Budget einzuführen,
  • Gesetze zu schaffen, die die bisherigen Vormundschaftsregelungen zugunsten "unterstützter Entscheidungsfähigkeit" ersetzen,
  • die Gesetze zu Zwangsbehandlung und Freiheitsberaubung zu ändern,
  • ein unabhängiges Monitoring aufzubauen, wie es die UN-BRK verschlägt, sowie
  • Statistiken über Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen zu erstellen und zu veröffentlichen.
Impulse für Deutschland

Was kann/muss Deutschland noch tun?

In den letzten vierzig Jahren hat auch Deutschland sehr viele gemeindenahe Dienste entwickelt. In den meisten Städten gibt es integrierte Versorgungsmodelle, Begleitung und Unterstützung zu Hause, Soziotherapie, betreutes Wohnen, Tagesstätten und Tageskliniken, Kontaktstellen usw.

Aber alles muss weiter ausgebaut und abgesichert werden:

  • die Dezentralisierung und Ambulantisierung gilt es weiterzuentwickeln;
  • die Zusammenarbeit von Patienten, Familien und Gemeindediensten muss in den Bereichen Planung, Management und Qualitätskontrolle verstärkt werden;
  • die gemeindenahe Versorgung für die "schwierigen" Gruppen, z.B. für die gerontopsychiatrischen Patienten, die obdachlosen psychisch Kranken, die forensischen Patienten und die Personen mit "komplexem Hilfebedarf" (etwa schwer geistig behinderte Menschen mit psychischen Problemen), ist auszubauen; diese Personen werden überall in Europa noch in großen Institutionen eingesperrt und von der Gesellschaft isoliert;
  • zu fordern ist die gleichrangige Finanzierung von Gemeindepsychiatrie und psychiatrischen Krankenhäusern;
  • Maßnahmen sind zu treffen, um weitere Aufnahmen in psychiatrische Krankenhäuser zu Verhindern.

Was man nicht tun sollte:

  • die Krankenhäuser schließen, ohne Alternativen in der Gemeinde aufzubauen;
  • gemeindenahe Dienste entwickeln, ohne die institutionelle Kultur zu verändern;
  • in die "Humanisierung" von Großeinrichtungen investieren;
  • Wohnheime auf dem Gelände des Krankenhauses bauen.
Hemmnisse bei der Entwicklung kommunaler Dienste

Alle Untersuchungen zeigen, dass die Schließung der psychiatrischen Krankenhäuser und der Aufbau gemeindenaher Dienste schwierig ist. Betten abbauen bedeutet für die Krankenhäuser Geld verlieren. Der Transfer von Mitteln der Krankenhäuser zu ambulanten Diensten ist oft schwierig oder gar unmöglich. Die gemeindenahe Psychiatrie hat oft kein eigenes Budget und ist meistens abhängig von Gemeinden mit unsicherer Finanzierung und mangelnder Organisationsfähigkeit.

Es gibt auch Widerstand aus den verschiedenen Berufsgruppen: Manche Mitarbeiter haben Angst, dass die Arbeit in der Gemeinde schwieriger ist und schlechter bezahlt wird; Angst, dass sie ihren Job verlieren; Angst, dass die ambulanten Dienste mehr kosten.

Auch Patienten und ihre Familien haben Ängste, die den Deinstitutionalisierungsprozess erschweren. Die Gründe sind vielfältig: Patienten sind gerne in der Institution und haben da ihre Freunde, die sie nicht verlieren möchten. Oder sie befürchten, dass sie es "draußen" nicht schaffen werden. Die Eltern sind oft alt, das Haus ist zu klein, sie haben Angst, was aus ihren Kindern wird, wenn sie tot sind. Und so weiter.

Aktuelle Aufgaben und Ziele

Obwohl die Entwicklung der Gemeindepsychiatrie mittlerweile in allen politischen EU-Programmen als Ziel benannt ist, muss sie dringend weiter vorangebracht werden:

• Die größte Herausforderung ist die Ermöglichung und Sicherstellung der Teilhabe und Mitsprache von Menschen mit psychischen Problemen bei der Ausgestaltung der gemeindepsychiatrischen Dienste sowohl auf der Entscheidungs- als auch Managementebene.

• Die Zusammenarbeit und Koordination von allen Beteiligten - Patienten, Familien und Profis - muss verstärkt werden mit dem Ziel einer dauerhaften, sektorübergreifenden Politik.

• Beschwerdestellen für Patienten, Angehörige und Fachleute
müssen eingerichtet werden.

• Die psychiatrischen Patienten befähigen, zurückzufinden in ihr eigenes Leben als Bürgerinnen und Bürger, bleibt vielleicht die größte Herausforderung für jeden von uns.


Joseé Van Remoortel ist Senior Policy Officer bei Mental Health Europe in Brüssel. Bei dem Artikel handelt es sich um die verschriftlichte und von der Redaktion bearbeitete Fassung ihres Vortrags auf der DGSP-Jahrestagung 2013 in Erfurt.
E-Mail-Kontakt: vanremoorteljosee@skynet.be



Anmerkungen:

(1) Bericht der Ad-hoc-Expertengruppe zum Übergang von der Heimpflege zur gemeindenahen Pflege. Generaldirektion für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit, Europäische Gemeinschaft, 2009.

(2) Gemeinsame Leitlinien für den Übergang von institutioneller Betreuung in der lokalen Gemeinschaft
(www.deinstitutionalisationguide.eu).

(3) Toolkit on the Use of European Funds for the Transition from Institutional to Community Based Care
(www.deinstitutionalisationguide.eu).

(4) www.un-org

* Siehe dazu auch den Beitrag von Martin Zinkler in SP1/2014:
"Ambulant hat Vorrang", S. 9-11 - Red.

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014, Seite 14 - 15
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2014