Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REDAKTION


ORGANSPENDE/002: Medizin - in das Sterben hinein ... (SB)



Der Vorstoß des Gesundheitsministers Jens Spahn zur Einführung der Widerspruchslösung in der Transplantationsmedizin war so absehbar wie das Amen in der Kirche. Schon bei der Diskussion um den Organspendeskandal vor sechs Jahren brachte der Unionspolitiker es fertig, nicht nur die manipulierten Organspendedaten zu isolierten Ausnahmefällen herunterzuspielen, sondern die Verhältnisse vollends auf den Kopf zu stellen. Der Mangel an Organen sei der eigentliche Auslöser für die Verfehlungen, die in der Folge zu einem noch größeren Absinken der Spenderzahlen führten, so Spahn damals. Den BürgerInnen den schwarzen Peter zuzuschieben, indem ihre geringe Spendebereitschaft unausgesprochen als eine Art egoistischen Nutznießertums gebrandmarkt wird, ist ein exemplarisches Beispiel für das im öffentlichen Gesundheitswesen häufig anzutreffende Vorgehen, die Menschen zu bezichtigen, für ihre Erkrankungen selbst verantwortlich zu sein. Nicht Umweltgifte, Arbeitsstress, Konkurrenzverhalten und Armut machen in dieser Lesart krank, sondern angebliches Fehlverhalten bei Ernährung und Bewegung, beim Konsum von Genußmitteln und der Einhaltung präventionsmedizinischer Untersuchungen. Derart mit Schuldvorwürfen zugerichtet auf die Optimierungslogiken der neoliberalen Gesellschaft werden dem ohnehin schon vereinzelten Marktsubjekt letzte Reste des Beharrens auf eigenständige, autonome Handlungsweisen als unverantwortlich und krankheitserzeugend ausgetrieben.

Sich widerstandslos den Strategien biopolitischer Konditionierung und Verwertung zu überantworten ist auch das Ziel der von Spahn zur Steigerung der Organernte verlangten Einführung der Widerspruchslösung. Es dem Menschen nicht zu überlassen, sich aktiv für einen Organspendeausweis zu entscheiden, sondern auf die unter der erfolgreich entpolitisierten Bevölkerung verbreitete Gleichgültigkeit zu setzen, sich nicht weiter um die Angelegenheit zu kümmern und damit im Ernstfall als biologische Ressource der Transplantationsmedizin zu enden, ist Ausdruck des paternalistischen Grundverhältnisses zwischen dem institutionalisierten Medizinbetrieb und seinen KlientInnen. Der sterbende, als hirntot deklarierte Mensch wird zum Rohstoff für eine Form der Medizin erklärt, die bei aller gegebenen Gleichberechtigung der auf Ersatzorgane angewiesenen PatientInnen niemals allen Menschen zugänglich sein wird, weil der darum betriebene infrastrukturelle, industrielle und wissenschaftliche Aufwand an die dringend erforderliche Behebung der Defizite basismedizinischer Versorgung von Milliarden Menschen erst recht nicht denken läßt.

Die Körper der Menschen als medizinische Ressource zu nutzen entspricht der fortschreitenden Enteignung dessen, worüber der Staatsbürger sowieso nur begrenzte Verfügungsgewalt hat. Aus naheliegenden, dem latenten Ausnahmezustand staatlichen Krisenmanagements geschuldeten Gründen wird das Recht "auf Leben und körperliche Unversehrtheit" nur bedingt gewährt. Da in dieses Recht "auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden" (Art. 2 Abs. 2 GG) kann, ist es so relativ wie das Gewaltmonopol des Staates absolut.

Uneingedenk aller anderen das System der Transplantationsmedizin betreffenden Kritikpunkte könnte die Grundtendenz, die Verfügungsgewalt des Staates über die Körper der Menschen immer weiter auszudehnen, die emanzipatorische Auseinandersetzung mit gesundheitspolitischen Themen beflügeln. Zu kritisieren und bestreiten ist zum Beispiel das utilitaristische Prinzip, der für manche Menschen lebensnotwendige Bedarf an Ersatzorganen rechtfertige den Zwang, sich zur Bereitschaft der Organentnahme am eigenen Körper erklären und verhalten zu müssen. Am Horizont derartiger Abwägungen steht die biologistische Doktrin des einen Volkskörpers, den zu verbessern schon früher sozialeugenischen und rassistischen Denk- und Handlungsweisen Vorschub leistete.

Die Forderung, jeder BürgerIn zusätzlich zur Steuerpflicht einen Betrag vom Konto für karitative Zwecke abzubuchen, mit der in einer notleidenden Region des globalen Südens weit mehr Menschen gerettet werden könnten als durch die hiesige Transplantationsmedizin, würde zweifellos als anmaßende Ermächtigung des Staates über die Handlungsfreiheit seiner Bevölkerung zurückgewiesen werden. Nicht zur Organspende bereiten Menschen mit moralischen Argumenten zu kommen ist in einer Marktgesellschaft, in der das rationale Vorteilsstreben ihrer Subjekte politisch gutgeheißen wird, ohnehin problematisch.

Zum einen, weil deren Reaktion auf diese Maßregelung darin bestehen könnte, den Eigentumsanspruch auf die leibliche Hülle zu privatisieren, um den Verkauf einzelner Organe an den meistbietenden Kunden zu legalisieren. Angesichts einer zusehends kommerzialisierten, auf Kosteneffizienz und Ertragsziele getrimmten Gesundheitswirtschaft krankt der Appell an die individuelle Hilfsbereitschaft auch und gerade in einer hoch bepreisten Transplantationsmedizin an akuten Glaubwürdigkeitsdefiziten. Der immer wieder erhobenen marktkradikalen Forderung nach völliger Freigabe des Organhandels, der in Form des Organtourismus in Länder des Globalen Südens längst Millionenumsätze generiert, ist auf diese Weise kaum entgegenzutreten.

Auf der anderen Seite entspricht die Forderung, den Körper über bislang etablierte Praktiken wie etwa die Blutspende als medizinische Ressource nutzen zu können, der fortschreitenden Enteignung dessen, worüber die Menschen sowieso nur begrenzt verfügen. Gehören sie der Lohnabhängigenklasse an, dann unterliegen sie dem Zwang, auch ihre Gesundheit beeinträchtigende und ihrer inneren Einstellung zuwiderlaufende Jobs annehmen zu müssen, um überleben zu können.

Weil der Gesetzgeber sich vorbehält, auch bei der aktuell geltenden Entscheidungslösung in der Transplantationsmedizin das Lebensinteresse des einen Menschen, von dem die Umstände seines Sterbens insbesondere im Falle der Hirntoddefinition nicht zu trennen sind, gegen das des anderen zu stellen, wird der Gedanke mitmenschlicher Solidarität demontiert, während er noch propagiert wird. So bleiben fundamentale Gewißheiten zur vermeintlichen Unantastbarkeit des eigenen Lebens auf der Strecke anwachsenden Zweifels und Mißtrauens. Das Regierungsprinzip des Teilens und Herrschens auf den vermeintlich moralischen und ethischen Prinzipien unterworfenen Bereich sozialer Reproduktion anzuwenden ist durchaus folgerichtig. Wenn die Menschen den emanzipatorischen Kern des Anspruches auf solidarisches Handeln ernst nähmen, könnte das Konsequenzen haben, die dem Erhalt hierarchischer und antagonistischer Klassenverhältnisse ganz und gar nicht förderlich wären.

Dabei sind für die Gewährleistung fundamentaler Lebensinteressen so viele sozial verträglichere, wenn auch mit dem kapitalistischen Wettbewerb unvereinbare Möglichkeiten denkbar, daß das System der Transplantationsmedizin als Ganzes auf den Prüfstand und von grundauf neu konzipiert werden müßte, wenn es der von ihm in Anspruch genommenen Werteorientierung gerecht werden wollte. Vordem ist die Maßnahme, der Nutzung des eigenen Körpers in der Transplantationsmedizin aktiv widersprechen zu müssen, als Angriff auf den Schutz jedes Individuums vor fremden Zugriffen auf seine körperliche Integrität zu verstehen.

5. September 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang