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INTERVIEW/023: Der Entnahmediskurs - Interessensausgleich? Gespräch mit Dr. Theda Rehbock (SB)


Interview am 13. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld



Dr. Theda Rehbock ist Philosophin und lehrt als Privatdozentin an der Technischen Universität Dresden. Die Teilnehmerin des Workshops "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" ist seit längerem mit dem Themenfeld der Organspende befaßt. Dem Schattenblick gegenüber erklärte sie, warum sie die Tagung am ZiF in Bielefeld besuchte und welche Fragen zur Transplantationsmedizin sie besonders bewegen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Theda Rehbock
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Rehbock, was hat sie als Philosophin bewogen, an dieser Tagung teilzunehmen?

Theda Rehbock: Seit den 90er Jahren beschäftige ich mich mit praktischer Philosophie mit dem Schwerpunkt Medizinethik und habe die Debatten über Organtransplantation sehr aufmerksam verfolgt. Auf diesem Feld verdichten sich meiner Ansicht nach einige generelle Fragen zur Problematik moderner Medizin. Das hat mich philosophisch immer sehr interessiert, vor allem, weil es nicht nur um Ethik im engeren Sinne geht, sondern um sehr fundamentale, auch philosophische Fragen von Leben und Tod sowie die anthropologischen Grundlagen der Ethik und die Leib-Seele-Thematik.

Ich habe in erster Linie ein philosophisches Interesse an dieser Debatte, aber mich treibt auch die soziale und ethische Bedeutung dieser Fragen an. Sie sind das praktische Motiv für das philosophische Nachdenken. Von der Tagung hatte ich mir einen Einblick in den aktuellen Stand der nicht nur deutschen, sondern internationalen Debatte erwartet. Diese Erwartung wurde auch erfüllt. Es ist auch eindrucksvoll und lehrreich, prominente Personen, die man nur dem Namen nach kennt, wie etwa Veatch, Childress oder Miller, mal live zu erleben. Ich bin allerdings erstaunt und auch enttäuscht, wie wenig Fortschritt sozusagen in der Debatte festzustellen ist. Es geht in meinen Augen immer noch zu sehr um die Frage, ob der Hirntote tot ist, und zu wenig um die eigentlich ethischen Fragen, was für die Betroffenen (Spender, Empfänger, Angehörige usw.) und für uns als Gesellschaft auf dem Spiel steht, wenn Hirntoten, und womöglich auch Menschen nach Herzstillstand usw. Organe entnommen werden, wofür auch ganz andere Fragen eine Rolle spielen als nur die Hirntodfrage, wie also die Transplantationspraxis aus Sicht der verschiedenen Betroffenen zu beurteilen ist. Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das Buch von Vera Kalitzkus "Dein Tod, mein Leben - Warum wir Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken". Sie geht den mit diesem Zurückschrecken verbundenen, möglicherweise berechtigten Zweifeln und Vorbehalten gegenüber dieser Praxis aus den Perspektiven aller Betroffenen und Beteiligten auf den Grund, indem sie mit ihnen redet und ihre Perspektive zu verstehen versucht. Das ist ethische Reflexion im besten Sinne.

SB: Im gegenwärtigen Stadium der Diskussion wird das Thema Hirntod nicht mehr als solches diskutiert. Es gibt zwar unterschiedliche Meinungen über seine Gültigkeit, aber im Grunde geht die Debatte weiter. Wie bewerten Sie die Entwicklung, daß die Todesdefinition ganz offensichtlich in jeder Beziehung aus dem Lot geraten ist?

TR: Die Befürworter der Hirntodkonzeption - das heißt der Gleichsetzung des (vollständigen) Ausfalls aller Hirnfunktionen mit dem Tod, so dass die Feststellung des Hirntodes die Feststellung des Todes bedeutet - würden das nicht so sehen, dass hier etwas aus dem Lot geraten ist. Bis heute werden aber Zweifel an dieser Konzeption geäußert, auf dieser Tagung vor allem von Alan Shewmon, Ralf Stoecker, Frank Miller oder Sabine Müller. Hans Jonas hat bereits unmmittelbar nach der Stellungnahme der Harvard-Kommission 1968 sehr schnell reagiert und eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen, die bis heute diskutiert werden und nicht nur theoretisch-metaphysische Bedeutung haben. Das zeigt sich auch daran, daß sie bis heute immer wieder aus Sicht der Angehörigen, die mit der Todeserklärung konfrontiert sind, artikuliert werden, eben weil die Betroffenen noch lebend aussehen. Auch die Pflegekräfte, die diese angeblich toten Patienten unter intensivmedizinischen Bedingungen wie lebende Patienten versorgen sollen, sind durch die angebliche Todeserklärung aufgrund des Hirntodkriteriums irritiert. Dieses verstörende Moment hat es von Anfang gegeben, und es ist auch heute noch gegenwärtig. Aus meiner Sicht ist das einer der Gründe dafür, daß die theoretische Debatte kein Ende findet.

Allerdings sehe ich es mit Sorge, daß, einhergehend mit der Aufgabe des Hirntodkriteriums, um der Ausweitung der Transplantationspraxis willen die sogenannte Dead Donor Rule aufgegeben werden soll, weil sich darin bestimmte Interessen Bahn brechen. Soll man auch Non Heart Beating Donors bereits wenige Minuten nach dem Herzstillstand, wenn sie noch nicht sicher tot sind, brauchbare Organe entnehmen, oder auch Neugeborenen ohne Gehirn, weil ihre Organe für herzkranke Kinder brauchbar sind? Doch auch diejenigen, die die Dead Donor Rule aufrechterhalten wollen, argumentieren oft sehr interessengeleitet, worin ich ein großes ethisches Problem sehe. Aus philosophischer Sicht ist daher, um es einmal etwas emphatisch zu sagen, intellektuelle Redlichkeit gefordert.

SB: Die Neudefinition des Todes im Sinne der Harvard-Kommission war im wesentlichen eine Folge des technischen Fortschritts, sonst hätte es keinen Bedarf für diesen Schritt gegeben. Wie bewerten Sie aus philosophischer Sicht den letztlich instrumentellen Charakter dieser normativen Bestimmung?

TR: Natürlich schafft der medizinische Fortschritt, namentlich die Möglichkeit der Transplantation von Organen und der Lebenserhaltung unter intensivmedizinischen Bedingungen von Menschen, die nur noch einen intakten Kreislauf haben, neue Handlungsmöglichkeiten. Darauf muß man reagieren. Der Interessenkonflikt ist insofern nicht zu vermeiden, aber man muß sich dessen bewußt sein und diesen Punkt als solchen hervorheben. Da fehlt es mir oft an dieser intellektuellen Redlichkeit. So hat man bei bestimmten Positionen und Statements den Eindruck, daß die Argumentationen je nach Interessenlage verändert werden. So wurde beispielsweise in dem neuen White Paper der National Commission in den USA angesichts neuer medizinischer Erkenntnisse über das Gehirn und den Organismus, wie Alan Shewmon sie auf dieser Tagung vorgetragen hat, die bisherige, von Befürwortern der Hirntodkonzeption vertretene Todesdefinition so modifiziert, dass sie zu diesen neuen Erkenntnissen passt. Notwendig und redlicher wäre stattdessen eine sehr viel gründlichere philosophische Reflexion über den Begriff und das Verständnis des Todes, das unserer Erfahrung im Umgang mit Sterben und Tod bzw. mit Sterbenden und Toten zugrunde liegt und nicht so ohne weiteres verändert werden kann. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es Angehörigen, Pflegenden usw. schwer fällt, Hirntote als Tote zu sehen. Phänomene des Atmens, des Herzschlages, der durchbluteten, lebendig aussehenden Haut und vieles mehr an vitalen Funktionen, über die der Hirntote auf Grund lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen noch verfügt, vertragen sich nicht mit unserem Verständnis und Begriff des Todes.

SB: Könnten die jüngsten Versuche, eine neue Definition des Todes akzeptabel zu machen, obwohl diese soziale Norm historisch über lange Zeit relativ konstant gewesen zu sein scheint, vielleicht zum Ziel haben, einen medizinischen Zugriff auf die Humanressource, den es in dieser Art noch nie gegeben hat, zu optimieren?

TR: Die neue Situation stellt zwar eine besondere Herausforderung dar, aber das, worauf sich die Argumentation stützt oder stützen sollte, ist nicht so sehr historisch und kulturell bedingt. Hier lohnt es sich, bei Aristoteles zum Begriff des Lebens, des Todes und der Seele nachzulesen, damit kann man auch heute viel anfangen. Durch den Lauf der Geschichte sehe ich da eher eine große Kontinuität, denn als Menschen ändern wir uns nicht so fundamental. Deshalb lässt sich auch der Begriff des Todes nicht ohne weiteres, nach Belieben sozusagen, verändern. Gleichwohl gibt es, bedingt durch neue Entwicklungen, etwa durch das Aufkommen der Naturwissenschaften, kulturelle Veränderungen, die auch dazu führen, dass der Mensch selbst auf ethisch bedenkliche Weise zum Objekt wissenschaftlicher Forschung und als Ressource für die Zwecke anderer genutzt wird, und dass mit dem Tod und mit Toten anders umgegangen wird als früher. Von daher müssen wir die Debatte immer neu führen.

SB: Können Sie sich in einer Ihrem Sinne nach intellektuell redlich geführten Debatte vorstellen, daß man hinsichtlich der Todesdefinition noch einmal hinter die Zäsur des Jahres 1968 zurückkehrt? Diese Option scheint auf der Tagung überhaupt nicht mitgedacht zu werden, statt dessen stehen eigentlich nur verschiedene Formen der Transplantationsmedizin und ihrer gesellschaftlichen Legitimation zur Wahl.

TR: Nicht unbedingt, denn es gibt hier auf der Tagung durchaus eine ganze Reihe von Referenten, die den Standpunkt vertreten, daß man im Sinne des irreversiblen Herzstillstandes die sicheren Todezeichen abwarten müsse, bevor man jemanden für tot erklärt. Es gibt also durchaus einige, die in dieser Hinsicht hinter 1968 zurück wollen. Das halte ich auch für richtig. Schon Hans Jonas hat auf diesem Punkt insistiert. Wenn man sich dazu entschließt, stehen zwei Möglichkeiten offen.

Wie Sabine Müller in ihrem Beitrag deutlich gemacht hat, können wir den Weg von Hans Jonas wählen und sagen, die Entnahme von lebensnotwendigen Organen ist gar nicht möglich, weil die betroffenen Menschen noch nicht tot sind. Auf diese Weise würde man an der Dead Donor Rule festhalten. Oder wir sagen, der Hirntod, der überhaupt erst unter intensivmedizinischen Bedingungen möglich geworden ist, ist eine so besondere Ausnahmesituation, dass von dem Verbot der Lebendspende eine Ausnahme gemacht oder von einer Lebendspende im eigentlichen Sinne gar nicht gesprochen werden kann. Der Hirntod wäre demnach dem Tode so nahe, daß in dieser Situation nicht das Töten durch Entnahme der Organe, sondern das Verlängern des Lebens bzw. Sterbens durch Fortsetzung der künstlichen Beatmung rechtfertigungsbedürftig ist. Man könnte so argumentieren: Im Interesse des potentiellen Spenders ist es, die Apparate abzustellen und ihn sterben zu lassen, da der Zustand des vollständigen Hirntodes irreversibel ist. Für das Aufrechterhalten der Beatmung, der pflegerischen Versorgung usw. zwecks Organentnahme bedarf es einer Rechtfertigung, etwa durch eine schriftliche Einwilligung des Spenders zu Lebzeiten im Sinne der informierten Zustimmung (informed consent). Diese Bedingung müsste allerdings aus meiner Sicht erheblich ernster genommen werden, als es heute praktiziert wird. Es müsste zum Beispiel eine wirklich umfassende und ehrliche Aufklärung über die Praxis der Organentnahme und der Transplantation in ihrer Bedeutung für alle Beteiligten erfolgen.

SB: Die Fremdnützigkeit wird oft mit Begriffen wie Spende oder Geschenk verhandelt. Dazu werden verschiedene moralische Konstrukte ersonnen, wieso es Sinn macht, Organe zu spenden. Wie kommt man angesichts einer Ethik, die universalen Werten verpflichtet ist, mit der Tatsache klar, daß viele Leute kaum bis gar keine medizinische Versorgung erhalten oder daß Menschen jedes Jahr millionenfach an Hunger sterben? Vor diesem Hintergrund scheint sich Ethik in einem sehr privilegierten Raum abzuspielen.

TR: Ich halte die Argumentation mit der Nächstenliebe oder überhaupt die Dramatisierung der Situation - "sonst sterben Menschen auf der Warteliste" - für ideologisch. Auch steht die politische Forderung nach einem Gesetz, das dazu dient, das Organaufkommen zu erhöhen, dem Staat nicht zu. Dann müßte er auch Gesetze erlassen, die die Armut in der Welt abschaffen. Das wäre unter Umständen sogar viel dringlicher. Man müßte, wenn vitale Organe versagen, auch die Grenzen medizinischer Möglichkeiten anerkennen und damit die Option ins Auge fassen, daß das Leben zu Ende geht, was aus Sicht der Betroffenen in manchen Fällen vielleicht sogar vorzuziehen wäre.

Ich selber habe starke Vorbehalte und Argumente dagegen, mit einem fremden Organ leben zu wollen. Die Debatte müßte auch in die Richtung geführt werden, ob das wirklich im Interesse der Organempfänger ist. Will man überhaupt lebenslang von Immunsuppressiva und Schmerzmitteln abhängig sein, um nur ein Problem anzusprechen? Aus meiner Sicht ist die Argumentation mit der Würde und Autonomie der Organspender, die fälschlicherweise sehr tief gehängt wird, mindestens so wichtig wie die Frage des Lebensschutzes. Es wird zwar behauptet, daß man dem Hirntoten nicht mehr schaden kann, weil er nichts mehr empfindet und seine Organe nicht mehr benötigt, aber man kann ihm Unrecht tun, indem man seine Selbstbestimmung und Würde mißachtet. Die Widerspruchslösung würde in einem sehr hohen Maße dieses Recht verletzen. Das Autonomieprinzip, das ansonsten einen sehr hohen Rang hat, wird auch im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Aufklärung über Organtransplantation viel zu niedrig gehängt.

SB: Natürlich ist die Ratio eines potentiellen Spenders, der sich zur Organspende bereiterklärt, weil er vielleicht selbst einmal in die Notlage kommen könnte, ein Organ zum Überleben zu benötigen, nachvollziehbar. Allerdings liegt zwischen der allgemeinen Zustimmung zur Organspende und der subjektiven Befindlichkeit in einer konkreten Situation immer eine größere Zeitspanne, was einen Sinneswandel zumindest nicht ausschließt. Wie ist dieses Problem zu lösen?

TR: Diese Problematik kennt man von den Patientenverfügungen, und sie ist sicherlich auch im Fall der Organspendeausweise zu bedenken. Manche Menschen sind anfangs ganz begeistert von der Idee, anderen noch im Tode helfen zu können. Je genauer sie sich dann aber mit der tatsächlichen Situation und den Umständen der Organtransplantation beschäftigen, desto größer werden die Zweifel. Insofern kann sich die Einstellung potentiell ändern. Dann gibt es wiederum Menschen, die sich nicht tiefergehend mit der ganzen Problematik auseinandergesetzt haben. Daher kann man nicht sicher sein, ob es sich aus rechtlicher Sicht wirklich um einen qualifizierten consent handelt, da sie mangels Aufklärung essentielle Informationen nicht bekommen haben. Rechtlich gesehen wäre das keine wirkliche Zustimmung. Wenn man sich das neue Gesetz anschaut, dann fallen die Anforderungen an die Aufklärung ziemlich dünn aus. Man gewinnt eher den Eindruck, hier wird zur Werbung für die Organtransplantation aufgefordert. Hingegen werden die Anforderungen an die Aufklärung von Lebendspendern in dem Gesetz sehr detailliert aufgelistet.

Theda Rehbock im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ermutigt zur differenzierten Untersuchung fundamentaler Fragen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Auf der Tagung wurde die Frage diskutiert, ob man einen für hirntot erklärten Menschen bei der Organentnahme tötet oder nicht. Geht man davon aus, daß er vor der Organentnahme noch nicht tot war, aber infolgedessen den Tod erleidet, wie kann man dann verhindern, wie es Herr Steigleder in seinem Vortrag angedeutet hat, daß Menschen sich bewußt für eine Organentnahme entscheiden, weil sie darin eine Freitodoption sehen?

TR: Ein Grundsatz der Philosophie lautet nach Ludwig Wittgenstein: Making differences. Demzufolge müssen wir die einzelnen Situationen klar unterscheiden. Deswegen spreche ich mich auch dafür aus, die Einzigartigkeit der Hirntod-Situation herauszustreichen. Auch wenn man vom Hirntoten sagen kann und vielleicht muss, dass er noch nicht endgültig gestorben ist, also zumindest partiell noch lebt, noch keine Leiche im herkömmlichen Sinne mit sicheren Todeszeichen ist, ist diese Situation, wie gesagt, dem Tode doch so nahe, dass weder von Tötung durch andere noch von Selbstötung oder gar Freitod in dieser Situation sinnvoll gesprochen werden kann. Das ist nur dann möglich, wenn es überhaupt eine wünschbare Option des Weiterlebens gibt. Was ich in einem Organspendeausweis verfüge, ist nicht, dass man mich tötet, sondern dass man das Sterben für einen gewissen Zeitraum sozusagen aufhält oder verlängert, um für andere Menschen brauchbare Organe entnehmen zu können.

Ich teile nicht vollständig die Position von Hans Jonas. Ich lehne die Organtransplantation nicht total ab, auch wenn ich ihr gegenüber sehr skeptisch eingestellt bin und für einen sehr vorsichtigen Umgang damit plädiere, auch für sehr viel strengere gesetzliche Regelungen, vor allem im Interesse des Spenders und seiner Angehörigen. Nach meinem Dafürhalten ist zudem die Organverpflanzung nicht das beste Mittel der Lebensverlängerung und medizinischen Hilfe, sowohl aus Sicht der Organempfänger als auch hinsichtlich der ethischen Probleme, die damit verbunden sind. Ich rate eher dazu, von dieser Praxis wieder wegzukommen und die Ausnahmen wirklich auf die Hirntodsituation aufgrund ihrer Besonderheiten zu beschränken. Trotzdem gibt es auch für diesen Fall Fragen, die noch gar nicht gestellt worden sind, wie zum Beispiel nach den diagnostischen Maßnahmen zwecks Hirntodfeststellung, die getroffen werden, bevor Angehörige ihre Zustimmung zur Organtransplantation gegeben haben. Auch das sind zum Teil sehr drastische medizinische Maßnahmen, die eigentlich selbst zustimmungspflichtig sind, weil sie einen gravierenden Eingriff in den Körper darstellen. Potentiell wird das einem noch lebenden Menschen zugefügt, weil man ja noch gar nicht weiß, ob er hirntot und damit per definitionem tot ist. Wer darüber Genaueres erfahren möchte, kann bei Anna Bergmann und Vera Kalitzkus nachlesen. Man muß sich allen Ernstes die Frage stellen, wieweit das mit der Würde des Sterbens in Übereinstimmung zu bringen ist. Meines Erachtens steht hier die Kultur und Ethik des Umgangs mit Sterben und Tod auf dem Spiel. Das ist nicht nur eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Frage, die im Hinblick auf die Transplantationspraxis noch viel zu wenig diskutiert wird.

SB: Auf der Tagung ist der Begriff slippery slope gefallen, also einer möglichen Eigendynamik, die sich negativ entwickeln kann, wenn bestimmte Grenzen erst einmal überschritten wurden. In Deutschland wurden schon einmal Behinderte im Rahmen eines Euthanasieprogramms umgebracht. Die Befürchtung ist also nicht unbegründet, daß im Rahmen der Ökonomisierung der Medizin eines Tages wieder Forderungen dieser Art mit Nachdruck erhoben oder letztendlich mit Gesetzeskraft durchgesetzt werden. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach damit umgehen?

TR: Man sollte wirklich ganz differenziert argumentieren und die Fälle unterscheiden. Im Hinblick auf das Thema Euthanasie teile ich durchaus die Befürchtung des slippery slope, die mit einer Legalisierung aktiver Sterbehilfe verbunden wäre. Doch man sollte die beiden Themen nicht miteinander vermengen, sondern, wie gesagt, sorgfältiger unterscheiden. Man sollte also die begrenzte Zulassung der Organentnahme im Fall des Ganzhirntodes nicht leichtfertig als freiwillige aktive Sterbehilfe bezeichnen, da, wie gesagt, von Tötung hier nicht mehr sinnvoll gesprochen werden kann. Wie ich schon erwähnt hatte, bezieht sich das ethische Rechtfertigungsbedürfnis auf die Verlängerung des Lebens bzw. des Sterbens, und nicht darauf, daß man es beendet. Daraus ergibt sich eine völlig andere Situation, als wenn jemand um eine todbringende Spritze bittet, damit er endlich von seinem Leiden erlöst wird. Das ist making differences und das einzige Mittel gegen slippery slope. Auch das Aufgeben der Hirntodkonzeption und der dead donor rule ist mit der Gefahr eines slippery slope verbunden im Hinblick auf eine Ausweitung der Transplantationspraxis über die Hirntodsituation hinaus auf Non Heart Beating Donors, Neugeborene usw. Anders als im Fall der aktiven Sterbehilfe, des Tötens also, ist hier ein Verbot völlig fehl am Platze. Den Menschen weiter vorzugaukeln, Hirntote seien tot, obwohl man selbst nicht davon überzeugt ist, hieße, auf intellektuelle Redlichkeit verzichten, nur weil es politische Bedenken gibt, daß die Menschen ansonsten auf falsche Ideen kommen könnten. Diese politischen Bedenken scheinen mir das mehr oder weniger offen ausgesprochene Motiv derer zu sein, die so hartnäckig an der Hirntodkonzeption festhalten und so heftig gegen das Aufgeben der Dead Donor Rule argumentieren. Das erinnert mich an die Haltung der Kirche von früher: Wir können den Menschen die Wahrheit nicht zumuten, weil sie sie nicht verkraften. Was stattdessen erforderlich ist, ist eine sehr viel offenere, differenzierte und reflektierte gesellschaftliche Diskussion über alle ethisch relevanten Aspekte dieser Praxis.

SB: Frau Rehbock, vielen Dank für das Gespräch.

Stühle und Tische vor Glasfassade - Foto: © 2013 by Schattenblick

Terrasse der Cafeteria des ZiF
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)
BERICHT/015: Der Entnahmediskurs - Ein Schritt vor, zwei zurück (SB)
BERICHT/016: Der Entnahmediskurs - Die Patienten, das sind die anderen ... (SB)
INTERVIEW/022: Der Entnahmediskurs - Außen vor und mitten drin, Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Stoecker (SB)

13. Dezember 2013