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INTERVIEW/040: Vorratstherapeutikum Antibiotika - So heiß wird die Suppe nicht verzehrt ...    Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse im Gespräch (SB)


"Antibiotika - Stumpfe Waffen?"

Diskussionsveranstaltung auf Einladung des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 8. November 2016 im Lichthof des Altbaus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Allein in der Europäischen Union verlieren jährlich ca. 25.000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenz ihr Leben. Zu dieser Einschätzung kam das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) und die European Medicines Agency (EMEA) in einer im Jahr 2009 veröffentlichten Studie. [1] Seitdem nimmt das Problem, daß Antibiotika nicht mehr wirksam genug sind, eher zu als ab. So heißt es in einer aktuellen britischen Untersuchung vom Mai 2016, daß weltweit bis zum Jahr 2050 die Zahl der Menschen, die aufgrund von Antibiotikaresistenz sterben, von jährlich gegenwärtig 0,7 auf 10 Millionen steigen könnte. [2]

Nicht zuletzt weil die Entwicklung neuer Medikamente mindestens zehn Jahre dauert, aber Erreger schneller Resistenzen entwickeln, als neue Mittel zur Verfügung stehen, warnen Experten wie der Ökonom Jim O'Neill, Leiter jener britischen Studie, vor einem "Rückfall ins Mittelalter", also in Verhältnisse vor Beginn der modernen Antibiotika-Ära. Er fordert Politik und Wirtschaft auf, wieder mehr Forschungen in Antibiotika zu stecken, anstatt sie aufzugeben, nur weil mit anderen Medikamenten höhere Profite zu erwirtschaften sind.

Auf dem Podium hinter runden Tischen sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Von links: Angela Grosse, Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse, Prof. Dr. rer. nat. Petra Dersch, Dr. Werner Lanthaler, Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits
Foto: © 2016 by Schattenblick

Diese problematische Situation bot dem Zentrum für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg Anlaß für eine öffentliche Diskussionsveranstaltung, die mit dem Titel "Antibiotika - Stumpfe Waffen?" am 8. November 2016 im Lichthof des Altbaus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg stattfand. Eingeladen waren Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse, Ärztlicher Direktor der I. Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Eppendorf und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, Prof. Dr. rer. nat. Petra Dersch, Leiterin der Abteilung Molekulare Infektionsbiologie Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Dr. Werner Lanthaler, CEO der Evotec AG, und Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits, Stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB), Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Deutsches Elektronen-Synchrotron (DESY).

Unter der Moderation der Hamburger Wissenschaftsjournalistin Angela Grosse diskutierten zunächst die vier Gäste, später dann auch mit Beteiligung des Publikums, Fragen rund um die Problematik der zunehmenden Antibiotikaresistenz, ihre Ursachen und mögliche Auswege aus der Situation. Dabei erkannte Prof. Lohse zwar an, daß die Antibiotikaresistenz ein Problem darstellt, aber er vertrat zugleich den Standpunkt, daß die Zahl von 25.000 Toten zu hoch gegriffen ist. Daß bei den Verstorbenen multiresistente Keime nachgewiesen wurden, bedeute nicht zwangsläufig, daß sie an diesem Keim verschieden sind. Die genaue Zahl zu ermitteln sei sehr, sehr schwierig.

An diesem Abend wurde weder vom Podium noch Publikum eingewendet, was eigentlich hinlänglich bekannt ist. Die von Prof. Lohse in Frage gestellte Zahl von europaweit 25.000 Antibiotikaresistenztoten könnte sehr wohl zutreffen, obschon Personen nicht direkt an, sondern mit multiresistenten Keimen verschieden sind. Naheliegenderweise könnte man annehmen, daß sie von der Infektion so sehr geschwächt waren, daß sie an etwas anderem (Kreislaufversagen, Herzinfarkt, Schlaganfall, etc.) verstorben sind.

Bedenkenswert war der Einwand Prof. Lohses dennoch. Denn als Konsequenz des Phänomens einer angeblich zunehmenden Antibiotikaresistenz, wovor zu warnen geradezu Kampagnencharakter angenommen hat, wird unter anderem diskutiert, die Vergabe der Mittel weiter als bisher einzuschränken, um sie in "Reserve" zu halten. Und das nicht etwa, weil sie möglicherweise schwerwiegende Nebenwirkungen zeigen könnten, sondern um die Resistenzentstehung möglichst lange hinauszuzögern. Von diesem Standpunkt aus würden die Mittel verknappt. Das liefe darauf hinaus, daß dann eine Infektion unter Umständen gar nicht, nicht mit dem wirksamsten Mittel oder nicht über die aus heutiger therapeutischer Sicht notwendige Dauer behandelt wird, und die betreffende Person eigentlich vermeidbare Schmerzen leidet.

Der Deutsche Ethikrat hat sein diesjähriges "Forum Bioethik" unter den Titel "Antibiotikaresistenz. Ethische Herausforderungen für Patienten und Ärzte" gestellt. Bereits die Ankündigung läßt ahnen, daß das Thema Antibiotikaresistenz mehr Konfliktpotential birgt, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Es geht nicht nur um die zunehmende Gefahr, daß die Waffe stumpf wird, wie an diesem Abend in Hamburg diskutiert, sondern auch um ethische Grenzbereiche berührende, bzw. gegebenenfalls verschiebende Problemlösungsvorschläge aus Politik und Medizin. Diskutiert werden sollen Fragen wie: "Was kann Menschen heute zugemutet werden, um Antibiotika für die Zukunft wirksam zu erhalten? Darf im Rahmen des verstärkten Infektionsschutzes in die Selbstbestimmung von Patienten und die Therapiefreiheit von Ärzten eingegriffen werden, und wenn ja, wie stark und mit welcher Begründung? Welche Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis wären zu erwarten und akzeptabel, wenn es strikte Maßgaben zum Antibiotikagebrauch gäbe?" [3]

Im Anschluß an die rund zweistündige Veranstaltung stellte sich Prof. Lohse dem Schattenblick für einige Nachfragen zu seinem Einwurf bei der Diskussion, weiteren Aspekten des Themas Antibiotika und zu guter Letzt einer grundlegenden ethischen Frage zur Verfügung. (Ein Bericht zu der gesamten Veranstaltung und ein Interview mit Prof. Marlovits sind in Vorbereitung.)

Schattenblick (SB): Im Blätterwald ist es still geworden um Infektionskrankheiten wie Vogelgrippe, SARS und Schweinegrippe. Wurde die Gefahr einer Ausbreitung von Infektionskrankheiten von Tier auf Mensch überschätzt?

Prof. Ansgar W. Lohse (AL): Nein, die Gefahr ist ohne Zweifel groß. Ebola zum Beispiel ist aller Wahrscheinlichkeit nach von Tier auf Mensch übertragen worden. Das Problem besteht darin, daß solche Ereignisse unvorhersehbar und unregelmäßig eintreten. Sie können morgen passieren oder erst wieder in fünf Jahren. Man weiß es nicht. Aber neue Erreger, auf die wir nicht so richtig eingestellt sind, werden wahrscheinlich über diesen Weg kommen.

SB: Bei der Podiumsdiskussion hatten Sie die Zahl von rund 25.000 Toten europaweit pro Jahr aufgrund von Antibiotikaresistenz in Frage gestellt. Haben Sie dazu andere Einschätzungen oder wie kommen Sie darauf? Denn diejenigen, die solche Zahlen zusammengestellt und verbreitet haben, sind ja gewiß ebenfalls Experten auf diesem Gebiet.

AL: Zunächst einmal sind solche Zahlen extrem schwer abzuschätzen. Ich habe darauf hingewiesen, daß es sehr viele Patienten gibt, die "mit", aber deswegen nicht zwangsläufig "an" einem multiresistenten Keim sterben. Es ist noch eine Rarität, daß jemand wirklich an einer Infektion mit einem durch Antibiotika nicht beherrschbaren Keim stirbt.

Es trifft jedoch zu, daß wir es im Einzelfall schwerer haben, Infektionen zu behandeln. Dann müssen wir erst testen und häufiger das Antibiotikum wechseln, um das richtige zu finden. Das heißt, die Waffen sind nicht mehr ganz so scharf, wie sie einmal waren, aber sie sind auch nicht stumpf.

SB: Kann man genauer bestimmen, welche Quellen für die Todesfälle durch Antibiotikaresistenz ursächlich sind? Da wäre zum Beispiel an Antibiotika zu denken, die vermehrt in der Tiermast verwendet werden.

AL: Wenn überhaupt Personen daran sterben, dann sehr wenige. Die Tiermast produziert zwar multiresistente Keime, die werden aber nur extrem selten auf Menschen übertragen. Wir wissen zum Beispiel, daß Tierärzte, die in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten, vermehrt MRSA-Träger [4] sind. Aber sie sind "Träger"! Es scheint nach wie vor eine Rarität zu sein, daß multiresistente Keime aus der Tierwelt auf den Menschen gelangt sind und diesen daraufhin krank gemacht haben. Es ist sicherlich zu begrüßen, wenn in der Tiermast weniger Antibiotika eingesetzt werden, aber das würde nicht das Problem der Antibiotikaresistenz lösen.

SB: Wie ist die Antibiotikaresistenz in Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarstaaten entwickelt?

AL: Wir haben einen etwas besseren als den mittleren Platz in der "Europaliga". Wir nehmen keinen Spitzenplatz ein, aber sind noch lange nicht Schlußlicht. Die meisten Antibiotikaresistenzen sind insbesondere in Südosteuropa zu finden; Griechenland beispielsweise verzeichnet eine besonders hohe Quote an multiresistenten Keimen.

SB: Tritt in ärmeren Ländern beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent das gleiche Phänomen auf?

AL: Das Phänomen ist grundbiologisch und tritt deshalb weltweit auf. Es hängt jedoch sehr davon ab, wie viele Antibiotika überhaupt zur Verfügung stehen. Wenn diese in bestimmten Regionen der Welt nicht verfügbar sind, dann findet man dort auch praktisch keine resistenten Keime dagegen. In den Entwicklungsländern unterliegen die Antibiotika häufig gar nicht der Verschreibungspflicht, man kann sie auf dem freien Markt kaufen. Deswegen besteht die Gefahr, daß sie bei jeder Art von fieberhaften Erkrankungen angewendet werden, auch wenn es nur Viren sind. Das Phänomen der Resistenz ist also genauso vorhanden wie bei uns auch, in manchen Bereichen und für manche Antibiotika ist es sogar stärker ausgeprägt.

SB: Stehen den Entwicklungsländern im Zweifelsfall die gleichen Antibiotika zur Verfügung oder sind sie insgesamt auf einem niedrigeren Stand als die wohlhabenderen Länder?

AL: Das ist alles eine Frage des Geldes, und die ärmeren Länder haben weniger zur Verfügung als die reichen Länder. Andererseits sind Antibiotika so billig geworden, daß hier die Diskrepanz zwischen ärmeren und reicheren Ländern nicht so groß ist zum Beispiel in der Krebstherapie. Insofern haben auch die ärmeren Länder zu sehr, sehr vielen Antibiotika Zugang. Den haben die Mittelschichten und wohlhabendere Leute dort selbst dann, wenn diese im allgemeinen Gesundheitssystem nicht allen zur Verfügung stehen.

Beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Die Waffen sind nicht mehr ganz so scharf, wie sie einmal waren, aber sie sind auch nicht stumpf."
(Prof. Dr. med. Ansgar W. Lohse, 8. November 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sehen Sie in der neuartigen Methode des CRISPR-Cas9, der sogenannten Gen-Schere, ein Potential, neue Antibiotika zu entwickeln oder auf irgendeine andere Weise die Zellabwehr gegen Erreger zu stärken?

AL: Für die Antibiotikaforschung direkt sehe ich dafür keine Anwendung. Aber eine Anwendung könnte tatsächlich darin liegen, die Erregerabwehr zu stärken. Es könnte beispielsweise für Patienten, die bestimmte Immundefekte haben und gehäuft Antibiotika brauchen, relevant werden, wenn man deren Immundefekt therapieren könnte. Das wäre zwar nicht direkt für die Antibiotikaforschung relevant, aber für diese kleine Untergruppe kann die Methode tatsächlich im Sinne einer Gentherapie ein extrem wirksames Potential entwickeln.

SB: Vor vier Jahren waren Sie als Co-Autor an einer Untersuchung mit dem Titel "Forschung um jeden Preis?" über die Auszeichnungen der Martini-Stiftung zwischen 1939 bis 1949 beteiligt. [5] Wie schätzen Sie das ein, wäre die Ärzteschaft heute eher davor gefeit, sich einem ethisch ähnlich verwerflichen Ansinnen wie damals, wenn es von der Politik an sie herangetragen würde, zu widersetzen?

AL: Den Bericht haben wir im "Hamburger Ärzteblatt" auf der Basis einer Doktorarbeit geschrieben. Ich halte es grundsätzlich für einen Arzt und Wissenschaftler für wichtig, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen. Da ich Kuratoriumsvorsitzender der Martini-Stiftung bin, habe ich es für meine historische Pflicht gehalten, mich an der Arbeit über die Martini-Stiftung, die sich ihrem Erbe bisher nicht gestellt hat, zu beteiligen. Das war höchste Zeit. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Davor gefeit, sich ethisch moralisch falsch zu verhalten, ist keiner von uns, weder eine Gruppe - ob Ärzteschaft oder Journalisten -, noch ein Individuum.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/0909_TER_The_Bacterial_Challenge_Time_to_React.pdf

[2] https://amr-review.org/sites/default/files/160525_Final%20paper_with%20cover.pdf

[3] http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/antibiotikaresistenz

[4] MRSA, auch Krankenhauskeim genannt, ist das Akronym von Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus. Bakterien der Art Staphylococcus aureus können gegen das Antibiotikum Methicillin und viele andere Antibiotika resistent sein und lassen sich bei vielen gesunden Menschen auf der Haut nachweisen, ohne daß diese daran erkranken.

[5] https://www.aerztekammer-hamburg.org/files/aerztekammer_hamburg/ueber_uns/hamburger_aerzteblatt/archiv/haeb2012/haeb_02_2012_neu.pdf

11. November 2016


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