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INITIATIVE/107: Engagement für die Entschädigung von Blutern, die mit HIV und HCV infiziert wurden (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2017

Hämophilie
Der zähe Kampf für Gerechtigkeit

Von Dirk Schnack


Ein Lübecker Arzt engagiert sich für die Entschädigung von Blutern, die mit HIV und HCV infiziert wurden. Der Entschädigungsfonds ist in Kürze aufgebraucht.


Wenn Jürgen Möller-Nehring an die Nachricht über seine Infizierung mit HIV zurückdenkt, fällt ihm zuerst die starke Ohnmacht ein, die sich nach der Information "positiv" bei ihm einstellte. Das war im Jahr 1986. Der an der Erbkrankheit Hämophilie leidende Medizinstudent hatte gerade das Physikum bestanden und kam von einem längeren Indien-Aufenthalt zurück, als die deutschen Medien voll waren mit Nachrichten über verseuchte Blutpräparate und die Infizierung von Blutern.

Möller-Nehring war damals schon rund zehn Jahre am Bonner Hämophiliezentrum in Behandlung und fühlte sich bis dahin sicher. Er hatte bei Behandlungsbeginn eingewilligt, dass sein Blut zu Forschungszwecken untersucht werden durfte. "Ich war sicher, dass die mich auf jeden Fall informieren würden, wenn ich infiziert wäre." Aber die Virologie-Vorlesungen, die Möller-Nehring in Erlangen besuchte, verunsicherten ihn. Er fragte in Bonn nach und bekam eine schockierende Antwort. Schockierend wegen der Diagnose selbst, aber auch wegen der Tatsache, dass er schon seit zwei Jahren infiziert war, ohne dass er darüber informiert wurde.

Über 30 Jahre später kann Möller-Nehring ruhig und sachlich über diese Zeit berichten. Und er ist bereit, sich nach einem Leben voller Auf und Ab mit HIV und HCV auch für die anderen Überlebenden dieses Skandals aus den 80er Jahren zu engagieren. Fast 1.800 Menschen waren damals betroffen. Hauptsächlich Menschen wie er, die mit Hämophilie geboren wurden, oder Partner, die von diesen angesteckt wurden. Ursache waren verseuchte Blutpräparate, die aus dem Plasma tausender Spender gewonnen wurden. Die Hersteller dieser Präparate, bekannte Pharmafirmen, verdienten an diesen Mitteln Milliarden.

"Mit der Diagnose war mein vorheriges Leben praktisch beendet, es gab damals null Behandlungsmöglichkeiten. Ich war unfähig zu planen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich habe dann erstmal einfach weiter studiert."

Nach der Diagnose galten die ersten Gedanken zunächst der eigenen Zukunft. Sich die vorzustellen, gelang dem damaligen Mittzwanziger einfach nicht. "Mit der Diagnose war mein vorheriges Leben praktisch beendet, es gab damals null Behandlungsmöglichkeiten. Ich war unfähig zu planen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich habe dann erstmal einfach weiter studiert", berichtet Möller-Nehring.

Der Medizinstudent hatte das große Glück eines Freundeskreises, der ihn unterstützte. Dafür war die Transparenz erforderlich, die die Hersteller und sein Behandlungszentrum nicht boten. Möller-Nehring informierte viele Menschen in seinem Umfeld. Es stellte sich schnell heraus, dass seine damalige Partnerin nicht infiziert war. Dennoch hatte sich sein Leben komplett verändert. Man hatte ihm eine Lebenserwartung von zehn Jahren prognostiziert. Immer wieder gab es Krisen in seinem Gesundheitszustand, die ihn im Studium zurückwarfen. Irgendwie schaffte er es trotzdem, 1991 sein Studium zu beenden. Sein Wunsch, Pädiater zu werden, erfüllte sich wegen der damals hohen Nachfrage in dieser Fachrichtung nicht. Aber er bekam eine AiP-Stelle in einer Allgemeinarztpraxis in Franken. Ein Jahr lang konnte er dort arbeiten, wurde voll eingesetzt, bis seine Helferzellen in den Keller gingen. Er musste mit der Behandlung beginnen und war gezwungen, seine Chefin zu informieren. "Sie reagierte vollkommen hysterisch und hat mir umgehend gekündigt. Unter Androhung eines Prozesses habe ich damals eine Schweigeverpflichtung unterzeichnet", berichtet Möller-Nehring. So stand der gesundheitlich schwer geschädigte Mann mit Anfang 30 plötzlich ohne Arbeit da.

"Ich habe von einem Jahr ins andere gelebt ohne langfristiges Ziel", sagt Möller-Nehring, der sich damals in der Nürnberger Aids-Hilfe engagierte. Acht Jahre lang blieb er ohne Arbeit. Leisten konnte er sich das, weil seine damalige Frau als Ärztin arbeitete und ab 1995 ein Entschädigungsfonds eingerichtet worden war, aus dem die Betroffenen eine monatliche Zahlung von 3.000 DM erhielten, was damals ausreichend erschien. Gespeist wurde der Fonds aus Entschädigungszahlungen der Pharmaindustrie und aus öffentlichen Mitteln. Die Hersteller selbst hatten allerdings nur umgerechnet rund 25.000 Euro pro Betroffenem eingezahlt. Die Zahlung der Pharmaindustrie war von Beginn an als zu niedrig kritisiert worden, schließlich verdient sie bis heute viel Geld an den Blutern. Ein Großteil der Entschädigungssumme wurde von den Steuerzahlern, Krankenkassen und Verbänden wie dem Deutschen Roten Kreuz aufgebracht.

Für die Verhandlungen um den Entschädigungsfonds hatten die Betroffenen auf eine schnelle Einigung gesetzt. Damals war man wegen der kurzen Lebenserwartung froh, dass eine schnelle Lösung gefunden wurde. Möller-Nehring probierte in dieser Zeit viel aus. Er arbeitete als Schreiner und als Segellehrer. Eine Zeitlang betrieb er erfolgreich ein Unternehmen für Segelreisen. Er hatte Phasen, in denen er leistungsfähig wie jeder Gesunde war, benötigte aber auch immer wieder Regeneration. "Ich habe gelernt, dass ich meine Erholungsphasen brauche", sagt er.

In diesen Jahren wurde die Gruppe der Betroffenen immer kleiner. Zugleich verbesserten sich auch die Behandlungsmöglichkeiten und Möller-Nehring und andere Betroffene hörten auf, nur an den morgigen Tag zu denken. Heute leben noch 553 von ihnen. Der Entschädigungsfonds wurde zwar schon zwei Mal aufgefüllt, läuft aber 2018 erneut leer. Wenn Möller-Nehring und andere Betroffene weiterhin daraus bedient werden sollen, sind weitere Einzahlungen unumgänglich. "Dafür sehen wir in erster Linie die Bundesregierung in der Pflicht. Die damals getroffene Einigung wurde auf einer Grundlage erzielt, die längst überholt ist. Ich sehe den Gesetzgeber in der Pflicht, er muss seiner Verantwortung gerecht werden und auch die Pharmafirmen zu Zahlungen verpflichten", sagt Möller-Nehring. Um die Forderungen durchzusetzen, haben Betroffene eine Unterschriftenaktion gestartet, mit der auch Nicht-Betroffene für die Entschädigung eintreten können.

Selbst für Möller-Nehring, der als Arzt mehr Geld als die meisten anderen Betroffenen verdient, ist die Entschädigungszahlung enorm wichtig. Zum einen, weil sie nie angepasst wurde. In den 90er Jahren erschienen 3.000 Mark noch ausreichend, heute ist es das nicht mehr. "Es muss dringend ein Inflationsausgleich stattfinden, der seit 1995 nie durchgeführt wurde", sagt Möller-Nehring. Selbst die, die wie er noch arbeiten können, sind oft nicht voll leistungsfähig und können deshalb auch nicht voll verdienen. Er selbst arbeitet immerhin auf 30 Stunden-Basis. Aber wie alle Betroffenen hat er in den vergangenen 30 Jahren große Lücken im Erwerbsleben und damit keine Aussicht auf eine angemessene Rente. Hätte er also vorsorgen müssen? Finanzielle Vorsorge hätte in den Jahren, in denen alle von einer kurzen Lebenserwartung ausgehen mussten, keinen Sinn gemacht. Wer es anschließend versucht hätte, wäre gescheitert: Lebensversicherungen und Hypothekendarlehen werden Menschen mit Hämophilie und HIV verweigert. Möller-Nehring weiß, dass die Zahl der Betroffenen immer kleiner und damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit geringer wird. Für die verbliebene Gruppe aber lohnt es sich aus seiner Sicht zu kämpfen.

Er selbst fasste mit 40 Jahren den Entschluss, es noch einmal als Arzt zu versuchen. Beim Einstellungsgespräch in Bremen spielte er vor 15 Jahren von Beginn an mit offenen Karten - und bekam die Stelle. Erleichtert wurde dem Chef die Entscheidung damals, weil er umfangreiche Wiedereingliederungsförderung für Möller-Nehring erhielt. Später lernte der seine neue Lebensgefährtin kennen, mit der er heute in Lübeck lebt. Seit 2009 arbeitet Möller-Nehring bei der Brücke. Vor zwei Jahren konnte er seine Weiterbildung zum Psychiater beenden und bestand die Prüfung in Bad Segeberg. Heute arbeitet er 30 Stunden pro Woche in der Institutsambulanz, eine Arbeit, die ihm viel Spaß bringt. Er hat Kollegen, die ihn unterstützen und auffangen, auch wenn er mal längere Zeit ausfällt. Seit er sich auch im Fernsehen für die Rechte der Betroffenen einsetzt, kennen auch die Patienten seine Geschichte und stärken ihm den Rücken - er hat ausschließlich positive Rückmeldungen bekommen.


Petition

Die Betroffenen haben bei Change.org eine Petition initiiert, mit der sie um Unterschriften und Unterstützung bitten:
www.change.org/p/kersten-steinke-fortführung-der-entschaedigungszahlung-an-durchblutprodukte-hiv-infizierte-bluterkranke

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201702/h17024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Jürgen Möller-Nehring ist ärztlicher Psychotherapeut in Lübeck. Mitte der 80er Jahre wurde der Bluter über verseuchte Blutpräparate mit HIV und HCV infiziert. Lebenserwartung damals: Rund zehn Jahre. 33 Jahre nach der Infizierung kämpft Möller-Nehring darum, dass die Betroffenen auch weiterhin entschädigt werden.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Februar 2017, Seite 18 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2017

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