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PFLEGE/524: Ältere Migranten brauchen eine kultursensible Pflege (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2011

Migration
Ältere Migranten brauchen eine kultursensible Pflege

Von Jörg Feldner


Die ersten Gastarbeiter in Deutschland sind im Rentenalter und brauchen Pflege. Auf ihre Bedürfnisse muss auch bei Demenz Rücksicht genommen werden.


Die ehemaligen Gastarbeiter haben das Seniorenalter erreicht: schon 900.000 von ihnen sind älter als 60 Jahre. Pflegekräfte in ambulanten Diensten, Heimen und Krankenhäusern müssen sich auf deren kulturelle und religiöse Besonderheiten einstellen. Die Caritas in Schleswig-Holstein bietet dazu kostenlose Schulungen an.

Deutschland hatte sich bei den ersten ins Land kommenden Gastarbeitern nicht darauf eingestellt, dass die Migranten aus dem Mittelmeerraum dauerhaft zu Mitbürgern werden. Es kam aber so, und nun sind schon Zigtausende hier alt und zum Teil pflegebedürftig geworden. Die heimliche Hoffnung der Politik, den Pflegebedarf würden die Familien abdecken, hat sich nicht erfüllt. Das Kompetenzzentrum Demenz, hinter dem die Alzheimer Gesellschaft Schleswig-Holstein steht, hat auf einer Tagung in Kiel erste Lösungsansätze vorgestellt.

Die Caritas Schleswig-Holstein beispielsweise ist in Neumünster, Flensburg und im Kreis Pinneberg in die Schulen gegangen, um junge, zweisprachige Menschen mit Migrationshintergrund für Pflegeberufe zu werben, berichtete Mitarbeiterin Dagmar Godt. Und ganze Belegschaften, von der Putzkraft bis zur Leitung, werden kostenlos trainiert in kultursensibler Pflege. Das beginnt mit angemessenen und respektvollen Begrüßungsformen, geht auf unterschiedliche Bedeutung von Gesten, Scham und Körperlichkeit ein und führt bis zu den Fragen von Religion und Sterben. Wer hätte gewusst, dass eine orthodoxe jüdische Patientin samstags nicht die Notrufklingel drücken mag, weil "Feuer" - und Elektrizität - am Sabbat untersagt sind? (nähere Informationen hierzu von: godt-intrant@caritas-sh.de).

Das bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) angesiedelte und von Ärztekammer, Sozialministerium und BKK-Landesverband unterstützte Projekt "Mit Migranten für Migranten", inzwischen von der WHO ausgezeichnet, hat im Lande 75 bilinguale Migrantinnen (ganz überwiegend Frauen) zu Gesundheitslotsen ausgebildet. Die Lotsen haben in den letzten Jahren 6.500 Migrantinnen (ebenfalls überwiegend Frauen) auf Veranstaltungen über alle möglichen Gesundheitsthemen informiert. Besonders gefragt sind die Themen Vorsorge/Früherkennung, Ernährung/Bewegung und seelische Gesundheit von Kindern und Erwachsenen (siehe auch Seite 39). Der Themenkreis Pflege wird bislang nur gestreift.

In Hamburg-Wilhelmsburg, einem Stadtteil mit hohem türkischen Bevölkerungsanteil, eröffnet die Krankenschwester Leyla Yagbasan demnächst die bundesweit erste interkulturelle Wohn-Pflege-Gemeinschaft für demente Patienten, vor allem Türken. In der Türkei sind die in Deutschland seit der Studentenbewegung geläufigen Wohngemeinschaften vollkommen unbekannt, das Projekt muss sich mit vielen Vorbehalten auseinandersetzen. Ein klarer Pluspunkt für Interessenten: Die Wohngemeinschaft ist kein Heim, Bewohner behalten ihre Rente - für türkische Senioren mit ihrer häufig kleinen Rente ein wichtiges Argument.

Über langjährige Erfahrungen von dementen Menschen vor allem aus der Türkei, auch aus Bosnien und dem Iran, verfügt der Duisburger Dienst "die Pflegezentrale". Dessen Chefin Zeynep Babadagi-Hardt warb für Empathie mit den 3,5 Millionen Muslimen in Deutschland. Auch demente Patienten wollen noch fünfmal täglich beten können, wollen vor dem Freitagsgebet am Körper rasiert werden.

Schwieriger kann die Pflege von Diabetes-Patienten im Fastenmonat werden: Da muss man dann argumentieren können, dass der Islam auch als "Religion des Mittelweges" interpretiert werden kann. Schwer aufzubrechen sei das Schweigen um familiäre Probleme und psychische Erkrankungen; sie gelten vielen als persönliche Unzulänglichkeit und werden professionellen Helfern deshalb häufig verschwiegen - was die Pflegekräfte wissen sollten, um dies zu berücksichtigen.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201112/h11124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2011
64. Jahrgang, Seite 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2012