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PSYCHOLOGIE/218: Corona - Folgen des Lockdowns für Kinder in sozialen Brennpunkten schwer zu ertragen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2021

Kein gesundes Aufwachsen

von Dirk Schnack


PÄDIATRIE: Pädiater schlagen Alarm: Folgen des Lockdowns sind für Kinder in sozialen Brennpunkten schwer zu ertragen.


Kinder, deren Familien in sozialen Brennpunkten leben, leiden massiv unter den Folgen des Lockdowns. Darauf haben vergangenen Monat Pädiater und der Gesundheitskiosk Billstedt und Horn aufmerksam gemacht. Die Pädiater prophezeien langanhaltende gesundheitliche Schädigungen der Kinder. Auf diese Gefahr hatten zuvor auch schon Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein hingewiesen.

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In den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn leben rund 110.000 Einwohner, darunter 30.000 Kinder und Jugendliche. In den Stadtteilen praktizieren drei Kinderärzte, was viele Beobachter für deutlich zu wenig halten. 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund, viele kommen aus bildungsfernen Schichten. Vergleichbare Verhältnisse - bei geringeren Einwohnerzahlen - gibt es auch in einigen Stadtteilen größerer Städte in Schleswig-Holstein.
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"Die entstandenen gesundheitlichen Schädigungen bei Kindern werden Jahre in Anspruch nehmen", sagte zum Beispiel Pädiaterin Dr. Susanne Epplée, die das sozialpädiatrische Zentrum Hamburg-Ost leitet. Dort werden viele Patienten aus den sozialen Brennpunkten in den Stadtteilen Horn und Billstedt auf Überweisung von Kinderärzten und Kinderpsychiatern behandelt.

Die dort wohnenden Kinder sind nach Erfahrungen Epplées in hohem Maße auf staatliche Institutionen angewiesen, die ihre Entwicklung begleiten und bei Bedarf unterstützend eingreifen. In den vergangenen Monaten registrierte das Zentrum eine Vervielfachung der Patientenzahlen und eine stetig länger werdende Warteliste.

Die Kinder litten u.a. unter massiver Gewichtszunahme, Angstzuständen und Depressionen, werden aggressiv, bedrohen Eltern und Geschwister mit Messern und müssen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Die Eltern sehen sich aufgrund der eigenen Belastung in der Pandemie nicht in der Lage, Vorbild zu sein oder ihre Kinder in die richtigen Bahnen zu lenken. "Viele Eltern verfallen in Starre und Passivität. Sie leiden still", so Epplée.

Ein Grund für die alarmierenden Zustände ist aus ihrer Sicht die wegbrechende außerhäusliche Infrastruktur. "Die gesellschaftliche Integration, Bildung und neben dem elterlichen Haus ein Werte stiftender und Orientierung gebender Lebensmittelpunkt sind für diese Kinder unerlässlich", so Epplée.

Ähnliche Erfahrungen wie Epplée hat Pädiater Dr. Stephan Schoof dem Gesundheitskiosk in Billstedt berichtet. Schoof beobachtet laut Mitteilung des Gesundheitskiosks zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund, die ihre Kompetenzen beim Spracherwerb verlieren. Ein Grund: Sie werden täglich fünf Stunden oder länger vor dem Fernseher "geparkt", weil keine Betreuungsmöglichkeiten bestehen. Schoof berichtet von einem fünfjährigen Zwillingspaar mit Migrationshintergrund, das sich in den vergangenen Monaten eine eigene Sprache jenseits der Muttersprache und der deutschen Sprache angewöhnt hat, die nicht einmal von den anderen Familienmitgliedern verstanden wird. "So etwas ist nur schwer einzuholen. Wenn Kinder kurz vor der geplanten Einschulung nicht richtig sprechen können und nicht gelernt haben, wie man einen Stift halten muss, dann haben diese Kinder ein riesiges Problem", wird Schoof zitiert. Für Entlastung versucht der Gesundheitskiosk in den betroffenen Stadtteilen zu sorgen. Im Januar überwiesen Pädiater vier Mal so viele Kinder an die Gesundheitsberater im Gesundheitskiosk als üblich. Alexander Fischer, Geschäftsführer der Gesundheit für Billstedt/Horn UG, die den Gesundheitskiosk betreibt, verweist auf die hohen Folgekosten durch Therapieverschleppung. Aus seiner Sicht sollten die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen besonders in der Pandemie in den Mittelpunkt gestellt werden.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2021, 74. Jahrgang, Seite 20
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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