Versorgungsatlas - 11.08.2015
Einschulungspolitik kann die Diagnosehäufigkeit von ADHS im Kindesalter beeinflussen
In Deutschland erhalten Kinder, die ihren 6. Geburtstag kurz vor dem
Stichtag der Einschulung feiern und damit die jüngsten in ihrer Klasse
sind, häufiger die Diagnose ADHS und eine entsprechende Medikation als
ihre älteren Klassenkameraden. Das belegt erstmals eine Studie der
Wissenschaftler vom Versorgungsatlas in Kooperation mit der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Untersuchung analysiert darüber
hinaus mögliche Ursachen für regionale Unterschiede: die
Unterrichtsbedingungen und den Bildungshintergrund der Familie. Die Studie
ist ab dem 11. August 2015 verfügbar auf dem Portal
www.versorgungsatlas.de
Am 12. August sind in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien zu Ende. Dann werden im größten Bundesland auch Fünfjährige zum ersten Mal ihre Ranzen packen. Diese Kinder feiern ihren sechsten Geburtstag erst nach der Einschulung, aber noch vor dem 30. September, dem Stichtag für die Einschulung. Auch in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg und Niedersachsen werden in den nächsten Wochen Fünfjährige eingeschult.
Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können jedoch gravierende Konsequenzen haben: Kinder die im Monat vor dem Stichtag geboren wurden und daher bei der Einschulung sehr jung sind, erhalten häufiger einer ADHS-Diagnose - und eine medikamentöse Therapie - als jene Kinder, die im Monat nach diesem Stichtag geboren wurden und daher bei der Einschulung beinahe ein Jahr älter sind als die Jüngsten. Zu diesem Ergebnis kommen die Wissenschaftler vom Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Zusammenarbeit mit Forschern der Ludwig-Maximilians-Universität München in einer neuen Studie.
Für diese Studie haben die Wissenschaftler erstmals bundesweite und kassenübergreifende ärztliche Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von rund sieben Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 analysiert. Resultat: Von den jüngeren Kindern, die im Monat vor dem Stichtag geboren sind, erhielten im Schnitt im Laufe der nächsten Jahre 5,3 Prozent eine ADHS-Diagnose, bei den älteren Kindern, die im Monat nach dem Stichtag geboren, lag der Prozentsatz bei 4,3 Prozent. Generell stellten Ärzte die Diagnose bei Jungen häufiger als bei Mädchen. "Die Ergebnisse zeigen einen robusten Zusammenhang zwischen der ADHS-Diagnose- und Medikationshäufigkeit und der durch den Geburtsmonat bestimmten relativen Altersposition von Kindern in der Klasse", erklärt die Erstautorin der Studie, Prof. Dr. Amelie Wuppermann von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch in anderen Ländern konnten Forscher ähnliche Zusammenhänge nachweisen.
Nicht beantworten können alle diese Studien aber die Frage, warum die jüngeren Kinder eines Klassenverbandes mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose erhalten als ihre älteren Klassenkameraden. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten jüngerer - und damit oft unreiferer - Kinder in einer Klasse mit dem der älteren Kinder verglichen wird. Dann wird deutlich, dass Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei den jüngeren ausgeprägter sind - die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose steigt, weil das Verhalten im Vergleich zu jenem der älteren Kinder möglicherweise als ADHS interpretiert wird.
Die Studie zeigt auch die Auswirkungen des schulischen Umfelds und der Familiensituation auf die Häufigkeit einer ADHS-Diagnose. Die Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass bei größeren Klassen und einem höheren Anteil ausländischer Schüler - was die Unterrichtsbedingungen wahrscheinlich erschwert - der Zusammenhang zwischen relativem Alter und ADHS stärker ist. "Möglicherweise fällt bei schwierigeren Unterrichtsbedingungen die relative Unreife jüngerer Kinder in der Klasse stärker auf", sagt Dr. med. Jörg Bätzing-Feigenbaum, Mitautor und Leiter des Versorgungsatlas. Auch ein höherer Bildungshintergrund der Eltern verstärkt den Alterseffekt. Hier vermuten die Wissenschaftler, dass Eltern mit einem höheren Bildungsgrad mehr auf die Förderung ihrer Kinder achten und daher weniger bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, die durch die relative Unreife ihrer Kinder entstehen könnten. Diese Faktoren sind mögliche Ursachen für die regionalen Unterschiede auf der Kreisebene, welche die Forscher ebenfalls gefunden haben.
"Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann. Kinder, die quasi gleich alt sind, haben aufgrund der Einschulungspolitik ein unterschiedlich hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen", schreiben die Forscher. Da eine solche Diagnose stigmatisierend sein kann und die medikamentöse Therapie von ADHS starke Nebenwirkungen haben kann, sollten die neuen Erkenntnisse sowohl von der Politik als auch von den Ärzten bei der Diagnosestellung beachtet werden. Die Forscher empfehlen, in zukünftigen Studien zu untersuchen, ob und welche Änderungen in der Einschulungspolitik, etwa eine flexible Schuleingangsphase, den Zusammenhang zwischen relativem Alter in der Klasse und ADHS abmildern kann.
STICHWORT: STICHTAG. Der Stichtag regelt den Beginn der Schulpflicht.
Kinder, die bis zu diesem Termin sechs Jahre alt werden, werden nach den
Sommerferien desselben Jahres eingeschult, selbst wenn der Stichtag nach
dem Tag der Einschulung liegt. Bis zum Jahr 2003 war der 30. Juni in allen
Bundesländern der Stichtag. Danach wurde er in acht von 16 Bundesländern
nach hinten verschoben. In Thüringen liegt er heute auf dem 1.8., in
Rheinland-Pfalz auf dem 31.8., der 30.9. ist Stichtag in
Baden-Württemberg, Bayern, Brandeburg, Niedersachsen und NRW, in Berlin
ist es der 31.12.
DIE STUDIE. Anhand von bundesweiten und kassenübergreifenden,
vollständigen vertragsärztlichen Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten
für Kinder- und Jugendliche im Alter zwischen 4 und 14 Jahren (insgesamt
sieben Millionen Kinder) aus den Jahren 2008 bis 2011 berechneten die
Forscher Geburtsmonats-spezifische ADHS-Diagnose- und Medikationsprävalenzen
für Kinder in unterschiedlichen Bundesländern und Kreisen. Zur Ermittlung
genereller Gesundheitsunterschiede zwischen Geburtsmonaten wurden zudem
Heuschnupfen- und Diabetes-Diagnoseprävalenzen ermittelt, Vergleichsdiagnosen
die nicht mit dem Einschulungsalter von Kindern zusammenhängen. Ergänzt
wurden die Daten um Informationen zur medizinischen Versorgung, zum
schulischen Umfeld und zu sozioökonomischen Charakteristika auf Länder- und
Kreisebene. Der aktuellen Studie war eine Untersuchung zur Entwicklung der
Diagnose- und Medikationsprävalenzen von ADHS im vergangenen Jahr
vorausgegangen. Diese ist ebenfalls auf dem Portal des Versorgungsatlas
verfügbar.
DER VERSORGUNGSATLAS. www.versorgungsatlas.de ist eine Einrichtung des
Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi). Er wurde
institutionalisiert als öffentlich zugängliche Informationsquelle mit
Studien zur medizinischen Versorgung in Deutschland. Schwerpunkt der
Studien sind regionale Unterschiede in der Versorgung sowie deren
unterschiedliche Strukturen und Abläufe. Die Analysen sollen Anhaltspunkte
liefern, wie die Versorgung verbessert werden kann. In Diskussionsforen
kann jeder Beitrag öffentlich diskutiert werden. Die Analysen der
Wissenschaftler des Versorgungsatlasses basieren auf den bundesweiten
Abrechnungsdaten der vertragsärztlichen Versorgung in Deutschland. Die
Internet-Plattform steht aber auch anderen Forschergruppen zur Verfügung,
die ihre Untersuchungen nach einem Peer-Review auf www.versorgungsatlas.de
veröffentlichen können.
Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.versorgungsatlas.de
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1785
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Versorgungsatlas, Barbara Ritzert, 11.08.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2015
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