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SUCHT/708: Aufklärung statt Akzeptanz (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2019

Sucht
Aufklärung statt Akzeptanz

von Dirk Schnack


Jugendliche in Deutschland trinken weniger Alkohol: Mit dieser erfreulichen Nachricht überraschte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vergangenen Monat. Ihre jüngste Studie zeigt, dass 8,7 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 17 regelmäßig - also mindestens einmal wöchentlich - Alkohol trinken. "Das ist ein historisch niedriger Stand", teilte die BZgA mit. Zum Vergleich: Im Jahr 2004 hatte dieser Anteil noch bei 21,2 Prozent gelegen. Der höchste gemessene Anteil lag im Jahr 1986 sogar bei 28,5 Prozent. Unter jungen Erwachsenen ist dieser Anteil von 43,6 Prozent 2004 auf nun 33,4 Prozent zurückgegangen. Der höchste gemessene Anteil lag Mitte der 70er Jahre sogar bei 70 Prozent. BZgA-Leiterin Dr. Heidrun Thaiss führt den seit Jahren zu beobachtenden Rückgang in erster Linie auf die Präventionsarbeit von Bund, Ländern und Kommunen zurück.

Können wir uns also zurücklehnen und müssen wir über weitere Maßnahmen gegen Alkoholsucht nicht diskutieren? Soweit ist es noch nicht. Denn die Studie zeigt auch, dass zum Beispiel das Rauschtrinken unter jungen Erwachsenen nach einem zwischenzeitlichen Rückgang aktuell wieder auf 37,8 Prozent gestiegen ist. "Es trinken sich nach wie vor zu viele Jugendliche und insbesondere junge Erwachsene in einen Alkoholrausch", betonte Thaiss. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), will deshalb einen "lebenslang bewussten Umgang mit Alkohol" erreichen. "Daher werde ich weiterhin über die Folgen missbräuchlichen Konsums aufklären und die Präventionsaktivitäten wo ich kann unterstützen." Die BZgA kündigte bereits an, dass ihre Präventionskampagne "Alkohol? Kenn dein Limit" ausgebaut werden soll. Die Kampagne richtet sich an 16- bis 20-Jährige. Laut BZgA handelt es sich um die umfangreichste Alkoholpräventionskampagne in Deutschland, gefördert wird sie vom Verband der Privaten Krankenversicherung.

Prävention - das wichtigste, vielleicht das einzige Mittel im Kampf gegen zu hohen Alkoholkonsum? Suchtmediziner Dr. Jakob Koch vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) reicht das nicht aus. Auf einer Pressekonferenz der DAK Schleswig-Holstein in Kiel forderte er kürzlich einschneidende Maßnahmen: höhere Preise, ein Werbeverbot wie bei Zigaretten, eingeschränkte Zeiten für den Verkauf und dieser ab einem bestimmten Alkoholgehalt auch nur noch in dafür lizensierten Verkaufsstellen. Grund für seine weitreichende Forderung: "Alkohol ist in Deutschland viel zu billig, wird zu viel beworben, ist gut verfügbar und überall konsumierbar." Koch verwies auf Skandinavien, wo Alkohol deutlich teurer und eingeschränkt erhältlich ist. Der Kieler Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hält auch die bisherige Präventionsarbeit gegen Alkohol für ausbaufähig. Vorbild könnten die Maßnahmen gegen das Rauchen sein: "Rauchen ist de-normalisiert worden."

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ALKOHOL

21,5 Prozent der Beschäftigten in Schleswig-Holstein konsumieren überhaupt keinen Alkohol. Zumindest gelegentlich trinken 78,5 Prozent der Beschäftigten (81 Prozent unter den Männern, 76 Prozent der Frauen). Jeder zehnte Beschäftigte - hochgerechnet auf Schleswig-Holstein sind dies 126.000 Menschen - haben einen Alkoholkonsum. Das heißt: Pro Tag mindestens 24 Gramm Reinalkohol für Männer und 12 Gramm für Frauen. Dies entspricht zwei Bier à 0,3 Liter für Männer oder einem Glas Bier à 0,3 Liter für Frauen am Tag. Auch ein Glas Wein jeden Abend gilt als riskanter Alkoholkonsum. Unter den Altersgruppen gilt die Faustformel: Je älter, desto höher ist der Anteil von Beschäftigten, die abstinent sind oder Alkohol nur risikoarm konsumieren.
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Die in Kiel vorgestellten Zahlen aus dem DAK Gesundheitsreport zeigen, wie verbreitet das Trinken unter den beschäftigten Menschen in Deutschland noch ist. 126.000 Menschen in Schleswig-Holstein trinken so viel, dass ihr Konsum als riskant eingestuft wird. Nur ein Fünftel der beschäftigten Schleswig-Holsteiner konsumieren grundsätzlich keinen Alkohol. Jeder zehnte trinkt so viel, dass sein Konsum als riskant für die Entwicklung einer Sucht gilt. Besonders stark ausgeprägt ist dieser zu hohe Konsum in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen. Koch geht außerdem davon aus, dass Alkohol häufig im Spiel ist, wenn Beschäftigte aus anderen Erkrankungsgründen arbeitsunfähig geschrieben werden, etwa aus psychischen Gründen. Der DAK-Report zeigt auch, dass Erwerbstätige mit einer Substanzstörung doppelt so viele Fehltage haben wie Beschäftigte ohne Substanzstörung. Bei den Fehltagen wegen Substanzstörungen spielt Alkohol die mit Abstand größte Rolle.

Schleswig-Holsteins DAK-Chef Cord-Eric Lubinski ist deshalb ebenfalls für mehr Aufklärung. "Entscheidend ist die gesellschaftliche Akzeptanz und das, was die Eltern vorleben. Wir dürfen nicht nachlassen, immer wieder über die Gefahren von Alkohol und die Folgen des Konsums aufzuklären." Lubinski sieht auch die Schulen gefordert, das Thema noch stärker aufzugreifen. Stichwort gesellschaftliche Akzeptanz: Seit dem Tod von Helmut Schmidt findet man heute kaum noch Politiker, die sich mit einer Zigarette vor die Kamera trauen. Beim Bier ist das anders, wie nicht nur die alljährlichen Auftritte von Politikern beim Oktoberfest zeigen. Der Deutsche Brauer-Bund vergibt seinen Titel "Botschafter des Bieres" gerne an Politiker - und die lehnen nicht etwa dankend ab, sondern freuen sich über den Titel und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit. 2018 übernahm die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner (CDU) diesen Titel, ein Jahr zuvor hatte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen die Botschafterrolle für deutsches Bier übernommen.

Experten beobachten aber auch andere Süchte mit Besorgnis. Am Computer spielen laut DAK-Report acht Prozent der Beschäftigten in Schleswig-Holstein so intensiv, dass von einer riskanten Nutzung gesprochen wird. Dies betrifft 12.000 Menschen in Schleswig-Holstein. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen könnte dieser Anteil noch größer sein. Denn: "Junge Gamer finden nur schwer den Einstieg in die Arbeitswelt. Sie haben dafür einfach keine Zeit", sagte Susanne Hildebrandt vom Berliner IGES-Institut bei der Vorstellung des Reports. Hildebrandt machte deutlich, dass sich die Sucht nach Computerspielen für die Beschäftigten auch bei der Arbeit auswirkt. 47 Prozent der betroffenen Süchtigen spielen auch während der Arbeitszeit, ein Viertel der "riskanten Nutzer" ebenfalls. Von den "normalen Nutzern" machen dies immerhin noch elf Prozent. Um ein Spielverhalten als riskant einzustufen, dient den Experten das Messinstrument Internet Gaming Disorder Scale (siehe Kasten).

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GAMING

Von riskantem Verhalten gehen Experten bei acht Prozent der Beschäftigten aus. Sie erfüllen zwei bis vier der folgenden Kriterien:

1. Übermäßige Beschäftigung mit (Internet)-Spielen.

2. Entzugssymptomatik (etwa Reizbarkeit, Ängste).

3. Intoleranzentwicklung.

4. Erfolglose Versuche, die Teilnahme an Spielen zu kontrollieren.

5. Interessenverlust an früheren Hobbys.

6. Fortgeführtes exzessives Spielen trotz Einsicht in die psychosozialen Folgen.

7. Täuschen von Familienangehörigen, Therapeuten und anderen bezüglich des zeitlichen Spieleumfangs.

8. Spielen, um einer negativen Stimmungslage zu entfliehen oder sie abzuschwächen.

9. Gefährdung oder Verlust einer wichtigen Beziehung, der Arbeitsstelle oder Karriere wegen des Spielens.
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Im Unterschied zu den Computerspielen bereitet Social Media den Suchtexperten bislang weniger Sorgen. Für eine Abhängigkeit, schädliche oder riskante Nutzung zumindest unter den Beschäftigten in Schleswig-Holstein liegen laut Report derzeit keine Hinweise vor. Rund 80 Prozent der Beschäftigten nutzen Social Media zwar, ihr Gebrauch wird bislang aber nicht als riskant eingestuft.

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ZIGARETTEN

21,3 Prozent der 18- bis 65-jährigen Beschäftigten in Schleswig-Holstein gelten laut DAK-Gesundheitsreport als abhängige Raucher. Damit sind hochgerechnet rund 270.000 Beschäftigte im Norden zigarettenabhängig. Nur 2,6 Prozent der Raucher gelten als nicht abhängig. 76,1 Prozent der Beschäftigten sind derzeit Nichtraucher. Die niedrigste Raucherquote weisen die jüngsten Beschäftigten auf. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen rauchen aktuell nur 16,3 Prozent. 19,7 Prozent von ihnen sind Ex-Raucher, 64 Prozent haben nie geraucht. Unter den 60- bis 65-Jährigen dagegen haben nur 29,3 Prozent nie geraucht. 47 Prozent sind Ex-Raucher und 23,7 Prozent haben nie geraucht. Zwei Prozent der Beschäftigten über alle Altersgruppen rauchen E-Zigaretten. 5,8 Prozent sind Ex-Raucher der E-Zigarette.
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Zigarettenabhängig sind trotz aller Maßnahmen in Schleswig-Holstein noch immer rund 270.000 Beschäftigte. Aber: Der Nichtraucheranteil beträgt inzwischen 76 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil der aktuellen Nichtraucher in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen: Hier haben 64 Prozent noch nie und 20 Prozent früher geraucht. Aktuell rauchen in dieser Altersgruppe nur noch rund 16 Prozent. Über alle Altersgruppen hinweg beträgt dieser Anteil 22 Prozent. Sorge bereitet der DAK Schleswig-Holstein allerdings die E-Zigarette mit ihren zum Teil unterschätzten Gefahren. Um deren weitere Verbreitung zu verhindern, ist Raucherabstinenz der erfolgversprechendste Weg, wie es im Report heißt: "Wer nie geraucht hat, dampft nicht."

In der aktuellen politischen Diskussion über eine Ausweitung des Tabakwerbeverbots hatte sich Prof. Frank Ulrich Montgomery vergangenen Monat noch in seiner Position als Präsident der Bundesärztekammer dafür ausgesprochen, auch E-Zigaretten und Tabakerhitzer bei dem Werbeverbot zu berücksichtigen. Gegen diese Überlegungen läuft die Industrie wie erwartet Sturm - mit bekannten Argumenten. Bei einem totalen Außenwerbeverbot, so ihr Argument, könnten sich Verbraucher nicht mehr über bessere Produktalternativen informieren.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201906/h19064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Juni 2019, Seite 16 - 17
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2019

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