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ARTIKEL/452: Zu den Zusammenhängen von Armut und Krankheit (guernica)


guernica Nr. 2/2009, April/Mai 2009
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Zu den Zusammenhängen von Armut und Krankheit
Lieber reich und gesund als arm und krank

Von Tanja Kaizar


Wie gesund jemand ist, hängt nicht zuletzt von seiner/ihrer Geldtasche ab. Armut und soziale Ausgrenzung sind Krankmacher. Soziale Gerechtigkeit und gleicher Zugang zu den Infrastrukturen einer Gesellschaft sind entscheidende Faktoren für die Gesundheit der Bevölkerung.


Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der ÖGPP gibt Auskunft über die Verhältnisse in Österreich: Demnach hat die Anzahl der Super-Reichen gegenüber 2003 um 17% zugenommen. Die Zahl der Privatstiftungen weist ein Plus von 28% auf. Gleichzeitig haben zwei Millionen Menschen Probleme, mit ihrem Einkommen auszukommen. Konkret lebt ca. eine Million Menschen (12-13% der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze. Betroffen sind Arbeitslose, Menschen mit prekärer Arbeit oder mit geringen Bildungsabschlüssen, Alleinerzieherinnen, kinderreiche Familien und Migrant/innen. Armut hat, so der Bericht, "negative Folgen vor allem auf die Gesundheit, die Wohnqualität, die Bildung der Kinder die individuellen Entwicklungschancen und die soziale Teilhabe." (1)

800.000 Menschen leiden an Depression

Durch den medizinisch-technischen Fortschritt und. durch allgemeine Hygienemaßnahmen änderte sich ab der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert das Spektrum der Erkrankungs- und Todesursachen der Bevölkerung. Vor allem die Säuglingssterblichkeit konnte drastisch reduziert werden. Ebenfalls gelang eine Senkung der Todesfälle von Infektionskrankheiten. Im Gegenzug dazu häufen sich Herz-Kreislauf-, Krebs-, Atemwegsorganerkrankungen, Unfälle und Suizide. Zukünftig wird den Spitzenplatz laut WHO die Depression erben.

Beispielsweise leiden in Österreich geschätzte 800.000 Menschen an einer Form von Depression. Jede vierte Frau, aber "nur" jeder zehnte Mann ist einmal im Leben davon betroffen. (2) In den entwickelten Ländern kommt der Depression eine herausragende medizinische und gesundheitspolitische Bedeutung zu. (Häufigkeit, chronischer und/oder rezidivierender Verlauf sowie die sehr oft von Mediziner/innen unterschätzte Schwere der Erkrankung). Besonders ausgeprägt sind die gesundheitlichen Ungleichheiten bei Erkrankungen der Atemwege, des Verdauungssystems und des Herz-Kreislaufsystems. In Österreich erkranken 5.1% der Männer in den untersten 15 Prozent der Haushaltseinkommen (weniger als Euro 726) an Asthma, aber nur 0,8 im obersten (mehr als Euro 1.890). Bei den Frauen 3,5 Prozent zu 1,8 Prozent. Magengeschwüre und Gastritis treten bei 10,2 Prozent der Männer "unten", aber nur bei 5,2 Prozent "oben" auf bei den Frauen beträgt das Erkrankungsrisiko 9,5 Prozent zu 0,9 Prozent." (3) Das Risiko an Depressionen und Angstgefühlen zu leiden ist für arbeitslose Männer 7,6-fach, für arbeitslose Frauen 4,4-fach erhöht. (4)

Grundsätzlich nehmen im Alter die Beeinträchtigungen der Lebensqualität zu, wobei bei Frauen das Ausmaß der Beeinträchtigungen deutlich in der Altersgruppe 75 Jahre und mehr steigt, bei Männern bereits im Alter von 65 bis 74. Jedoch erfreuen sich 23,3% der Frauen und 36,4% der Männer über 75 Jahren "gute?" Gesundheit. Ab dem 65. Lebensjahr leiden 10-15% an Depressionen. Behandelt werden wegen der Multimorbidität jedoch häufig nur die körperlichen Erkrankungen.

Krankmacher Armut und Ausgrenzung

Durch soziale Faktoren verursachter negativer Stress wirkt auf die zentralnervösen Mechanismen ein und kann so die Entstehung von organischen Erkrankungen beeinflussen. In zahlreichen Studien wurden jene Faktoren erhoben, die die Gesundheit positiv beeinflussen. Die Rosetto-Studie belegt beispielsweise eine intakte Sozialordnung als Vorbeugung für die Sterblichkeit an Herzinfarkten, die weniger als halb so hoch wie in umliegenden Gebieten war. Marmont und Syme kamen zu ähnlichen Ergebnissen bei der Untersuchung japanischer Einwander/innen in den USA, die Alameda-County-Studie wies einen hoch signifikanten Trend bezüglich der sozialen Einbindung auf: je besser der soziale Rückhalt, desto niedriger die Sterberate. (5)

Als zentrale Grundlage für die Gesundheit der Bevölkerung und Einzelner benennt Stronegger die Infrastrukturgerechtigkeit und meint damit die soziale Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit) und die Umweltgerechtigkeit (gerechter Zugang zu den Ressourcen der Umwelt/Natur). Als bedeutendsten Einflussfaktor nennt er Einkommen (Vermögensverhältnisse), der Grad der Bildung ist ein weiterer wichtiger Gesundheitsfaktor. Bei den Arbeitsbedingungen erhöhen eine negative Bilanz aus Entscheidungsmöglichkeiten und Anforderungen sowie fehlende Anerkennung und geringe Arbeitsplatzsicherheit das Krankheitsrisiko. Daneben sind die Lebensbedingungen in der Kindheit, die der Eltern und Großeltern von Bedeutung. Ebenso sind die Wohnverhältnisse, die Ernährungsqualität und das "soziale Netz" wichtig. Als Krankheitsrisiko zählt Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, ethnische Ausgrenzung u. a. Die Qualität und Zugänglichkeit der Leistungen im Sozial- und Gesundheitssystem sind eine wichtige Grundlage. Daneben gilt auch das Transportsystem (Gehen, Radfahren und öffentliche Verkehrsmittel) als Einflussfaktor.

Infrastrukturgerechtigkeit

Stronegger wehrt sich damit vehement gegen die Überbewertung der Rolle des Risikoverhaltens für die Entstehung von Krankheiten. Der Zugang zur Infrastruktur (Bildungssystem, Energieversorgung, Wasserversorgung, Kanalisation, Müllabfuhr, Sozialversicherung, Pensionssystem, Gesundheitssystem) und arbeitsrechtliche Bestimmungen sind die wichtigsten Faktoren für eine gesunde Bevölkerung und für die individuelle Gesundheitserhaltung. (6)

Gesundheitsförderungsaktivitäten in Österreich und der EU richten sich im überwiegenden Teil auf Individuen mit der Erwartung, dass die Person ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten durch Information ändert (Erziehungsmodell). So werden beispielsweise Antiraucher/innenkampagnen durchgeführt. Die Bewerbung der "Ernährungspyramide" hat ebenfalls die Person im Auge und verursacht meist ein "schlechtes Gewissen". Außerdem widersprechen die teuren Preise einer gesunden Ernährung (Gemüse, Obst und Fisch sind teurer als Fleisch, insbes. Schweinefleisch!) für die Risikogruppe. Auch biologisch relativ unbedenkliche Lebensmittel (ohne Hormone, Antibiotika, Phosphate, etc.) kosten meist doppelt so viel.

"Soziales Dilemma"

Die Forderung nach mehr Eigenverantwortlichkeit setzt ein individuelles Erkrankungsrisiko voraus und verdrängt die Rolle der sozialen und physischen Umwelt für das Entstehen und den Verlauf von Krankheiten. Braun u.a. sprechen von einem "sozialen Dilemma", wenn Appelle zu mehr Eigenverantwortung das Ziel einer Änderung des Lebensstils nicht erreichen: "Dieselben Gruppen und Schichten der Bevölkerung, die das größte Risiko tragen zu erkranken, behindert zu sein oder vorzeitig zu sterben, verfügen zugleich über die geringsten Möglichkeiten der Kontrolle ihrer Lebensumstände und der Selbsthilfe im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sinne. Sie haben die geringsten Einkommen, den geringsten Bildungsstand, die geringsten Gestaltungsmöglichkeiten, die schwächste soziale Unterstützung durch kleine soziale Netze (social support) und den geringsten politischen Einfluß, sei es individuell oder als Gruppe." (7)

In der "Jakarta-Deklaration" (WHO 1997) werden folgende Prioritäten zur Gesundheitsförderung genannt:

- Förderung sozialer Verantwortung für Gesundheit
- Ausbau der Investitionen in der Gesundheitsentwicklung
- Festlegung und Ausbau von Partnerschaften für Gesundheit
- Stärkung der gesundheitlichen Potentiale von Gemeinschaften und der Handlungskompetenzen des Einzelnen
- Sicherung einer Infrastruktur für die Gesundheitsförderung.

Das BM für Gesundheit bekennt sich neben der "Jakarta-Deklaration" auch zur "Bangkok-Charta" (WHO 2005), die den Setting-Ansatz in der Gesundheitsförderung betont. Demnach sind Gesundheitsprobleme einer Bevölkerungsgruppe das Resultat einer wechselseitigen Beziehung zwischen ökonomischer, sozialer und institutioneller Umwelt und persönlichem Verhalten. Demgemäß würde eine erfolgreiche Gesundheitsproduktion einer Gesellschaft möglichst viele gesunde Menschen bedeuten. Dazu ist es erforderlich alle Lebensbereiche der Menschen gesundheitsförderlich zu gestalten.


Anmerkungen:

(1) vgl. Österreichische Gesellschaft für Politikberatung, 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich, Wien, Dezember 2008

(2) vgl. WHO; www.euro.who.int/mentalhealth/CtryInfo/20030829_1

(3) vgl. Martin SCHENK, Armut kann ihre Gesundheit gefährden. Abbau von Ungleichheit - eine "neue" Herausforderung der Gesundheitspolitik, in: MEGGENEDER O. (Hg.) Reformbedarf und Reformwirklichkeit des österreichischen Gesundheitswesens, Was sagt die Wissenschaft dazu?, Frankfurt am Main 2004, S. 95-105., hier S. 98.

(4) vgl. Statistik Austria, Sozio-demografische und sozio-ökonomische Determinanten von Gesundheit, Auswertungen der Daten aus der Österreichischen Gesundheitsbefragung 2006/2007

(5) vgl. SIEGRIST Johannes, Medizinische Soziologie, 5. Auflage, München; Wien; Baltimore 1995, S. 180-186.

(6) vgl. Willibald-Julius STRONEGGER, Gesellschaftliche Grundlagen der Gesundheit-Infrastrukturgerechtigkeit als zentrale Voraussetzung, in: Die Armutskonferenz (Hg.), Pflicht zum Risiko?, Wien 2004, S. 12-16.

(7) Bernhard BRAUN, Hagen KÜHN, Hartmut REINERS, Das Märchen von der Kostenexplosion. Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik, Frankfurt am Main 1998, S. 126.

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Quelle:
guernica Nr. 2/2009, April/Mai 2009, Seite 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009

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