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ARTIKEL/489: Forschungsprojekt - Wie wir vom Kopf auf den Charakter schließen (idw)


VolkswagenStiftung - 21.03.2011

Wie wir vom Kopf auf den Charakter schließen


Eine hohe Stirn steht für Intelligenz, ein "Dickkopf" für Starrsinn Ž dass die Kopfform mit bestimmten Charaktereigenschaften verknüpft wird, zeigen nicht nur stereotype Redewendungen. Menschen mit Schädelfehlbildungen haben oftmals mit Vorurteilen und Stigmatisierung zu kämpfen. Ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Forschungsprojekt untersucht, durch welche Einflüsse unsere Idealvorstellung vom Schädel geprägt ist, und will Hilfestellungen für einen reflektierten Umgang mit Patienten in der plastischen Chirurgie geben.

Jedes Jahr kommen in Deutschland über 650 Kinder mit einer Schädelfehlbildung auf die Welt, die auf vorzeitige Verschlüsse der Schädelnähte zurückzuführen ist. Durch einen komplexen chirurgischen Eingriff kann die Fehlbildung, die sich gravierend auf das Erscheinungsbild, sehr selten aber auf die geistige Entwicklung des Kindes auswirkt, korrigiert werden. Während die Ärzte den betroffenen Eltern die weit fortgeschrittenen Operationsverfahren sehr präzise erläutern können, bleibt die Beschreibung des angestrebten Ergebnisses, nämlich einer ästhetisch ansprechenden Kopfform, sehr vage. Eine medizinische Definition des "Normschädels" ist aufgrund eines in Deutschland historisch begründeten Unbehagens gegenüber Körpervermessung weitgehend tabuisiert.

Hier setzt das transdisziplinäre Forschungsvorhaben "SchädelBasisWissen" an, das im Rahmen der Initiative "Schlüsselthemen" mit rund 745.000 Euro von der VolkswagenStiftung gefördert wird: Welche kulturellen, medizinhistorischen und wissenschaftlichen Einflüsse haben unsere Vorstellung vom "wohlgeformten" Schädel geprägt? Worin liegen die impliziten Verknüpfungen zwischen der Schädelform und den persönlichen Charaktereigenschaften eines Menschen begründet?

In Zusammenarbeit mit Medizinethnologen und Kunsthistorikern arbeiten Prof. Dr. Dr. h.c. Sigrid Weigel, Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin, und der Neurochirurg PD Dr. Ernst-Johannes Haberl, Charité Ž Universitätsmedizin Berlin, am Beispiel der Schädelkorrektur bei Kleinkindern das historisch verankerte Wissen auf, das in unseren Vorstellungen über ein angenehmes Erscheinungsbild fortwirkt, ohne jedoch in der medizinischen Praxis reflektiert zu werden.

Wie die Vorstellung vom "wohlgeformten" Schädel entstanden ist, wird sowohl anhand von Texten in Lehrbüchern und Fachartikeln, von Visualisierungen und Modellen des Schädels in Medizin und Kunst als auch in der klinischen Praxis, also der Kommunikation zwischen Arzt und Eltern, untersucht. Zudem wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Patientenfamilien im Hinblick auf ihre Erwartungen und Bewertung der Operationsergebnisse befragen.

Die Forschungsergebnisse sollen in Form von Podiumsdiskussionen und Buchveröffentlichungen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, bei Medizinkongressen und in der Fachliteratur vorgestellt werden und Chirurgen so zu einem reflektierten Umgang mit ihren Patienten befähigen. Ziel ist aber auch, für betroffene Eltern allgemeinverständliche Informationen über die historisch verankerte Bedeutung des menschlichen Schädels bereitzustellen, damit sie die schwerwiegende Entscheidung für oder wider eine lebensbedrohliche Operation an ihrem Kind bewusst treffen können.


Kontakt
VolkswagenStiftung
Kommunikation Jens Rehländer
E-Mail: rehlaender@volkswagenstiftung.de

Schlüsselthemen
Dr. Vera Szöllösi-Brenig
E-Mail: szoelloesi@volkswagenstiftung.de

Prof. Dr. Dr. h.c. Sigrid Weigel
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin
E-Mail: direktion@zfl-berlin.org

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter:

http://idw-online.de/de/image137726
Die Medizin vermag mit ihren präzisen Operationsmethoden die Schädelknochen von 3 bis 9 Monate alten Kindern mit einer Schädelfehlbildung genauestens zu formen. Doch wie sieht der "normale" Schädel aus?

http://idw-online.de/de/image137727
Welche Einflüsse haben unsere Vorstellung vom "wohlgeformten" Schädel geprägt? Rudolf Virchow hat mit seinen Studien zu Schädelformen als erster das Krankheitsbild der zusammengewachsenen Schädelnähte beschrieben.


Hintergrund:

Die Förderinitiative "Schlüsselthemen"
Die Förderinitiative hat das Ziel, die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften darin zu unterstützen, dass sie auch und gerade in der öffentlichen Wahrnehmung an Beachtung und Profil gewinnen. Die Stiftung gibt diese Schlüsselthemen nicht vor Ž vielmehr sind bereits beim Aufspüren entsprechender Problemfelder und Fragestellungen Findigkeit und Kreativität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefordert. Seit 1998 wurden in dieser Initiative bisher 51 Vorhaben mit einem Gesamtvolumen von rund 26,7 Millionen Euro gefördert.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution458

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
VolkswagenStiftung, Jens Rehländer, 21.03.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2011

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