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MEDIEN/576: Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland 4/2010 (Noweda)


NOWEDA eG - Pressemitteilung vom Mittwoch, 31. März 2010

Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland / Ausgabe April 2010 - 31.03.2010

Gesundheitspolitik: Schluss mit den Legenden!
- Die Lebenslügen der Gesundheitspolitik sind langlebig
- Unverantwortlich
    Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"


Essen - Irrtümer, Legenden und Lebenslügen des Gesundheitswesens bilden oft genug die Grundlagen für Entscheidungen der Gesundheitspolitik in Deutschland.

Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland räumt im Leitartikel der Aprilausgabe ausführlich mit einigen dieser schwer auszurottenden Irrtümer auf und fordert Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler auf, sie - mit einer sinnvollen Reformpolitik - jetzt ein für alle mal aus dem Weg räumen. In Rösler setzen die Beteiligten im Gesundheitswesen große Hoffnungen: Nach vielen Jahren Reformchaos unter Ulla Schmidt kann es schließlich nur besser werden. Doch Skepsis bleibt.


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Die Lebenslügen der Gesundheitspolitik sind langlebig
Schluss mit den Irrtümern und Legenden

"Wir sind ja nicht zum Spaß hier". FDP-Gesundheitsminister Dr. Philipp Rösler gab diesen bedeutungsschweren Satz in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Die Zeit" zum Besten. Das war im November 2009. Rösler war erst wenige Wochen im Amt. Man erwartete frischen Wind in der Gesundheitspolitik, neue Ideen zur Finanzierung des Gesundheitswesens und mehr Verständnis für die Probleme der Patienten. Denn Rösler ist Arzt. Doch er wusste damals schon: "Wer versucht, bei seinem Handeln nur auf die öffentliche Meinung zu schielen, wird die traurige Erfahrung machen, dass der Wähler schneller ist als er selbst".

Rösler hat in den ersten Monaten seiner Amtszeit nun wirklich nicht auf die öffentliche Meinung geschielt. Und dennoch hat seine Partei die traurige Erfahrung machen müssen, dass der Wähler auch so schneller war, als der FDP lieb sein konnte: Er hat ihr blitzartig den Rücken gekehrt. Gründe dafür gab es einige, und die Gesundheitspolitik war daran nicht unbeteiligt. Dabei hat Rösler bis heute nicht gehandelt, nur den Beteiligten am und im Gesundheitswesen zugehört - leider nicht allen.

Inzwischen haben die ersten großen Krankenkassen den gesetzlich erlaubten Zusatzbeitrag erhoben. Das mussten sie, weil der Gesundheitsfonds, aus dem die Kassen ihre Zuwendungen erhalten, dramatisch unterfinanziert ist. Das ist zwar die Schuld von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und der ehemaligen Koalitionsregierung, doch hat man dem neuen Gesundheitsminister wohl zugetraut, das Abkassieren der Versicherten durch die Kassen zumindest aufzuschieben. Nun hört man von ersten Plänen, wie Rösler sich seine Reform des Gesundheitswesens vorstellt.

Ob der Wähler daraufhin zurückkommt, bleibt abzuwarten. Denn bisher ist nicht zu erkennen, was an den bekanntgewordenen Maßnahmen neu oder besser für den Patienten wäre. Und dass der - wenn auch zögerliche - Einstieg in die "Kopfpauschale", die alle Kassen ab 2011 zusätzlich von jedem Versicherten eintreiben sollen und die niemand außer der FDP ernsthaft will, den Wähler milder stimmt, ist auch zweifelhaft.

Aber noch sind die Konturen einer neuen Reformpolitik nur in Umrissen sichtbar. Röslers Pläne werden Patienten, Versicherte und die Leistungsträger im Gesundheitswesen dann nicht enttäuschen, wenn es ihm gelingt, den Umgang mit den "üblichen Verdächtigen", die Akzeptanz der gleichen Irrtümer, Legenden und Lebenslügen in der Gesundheitspolitik, die auch Richtschnur des Handelns seiner Vorgänger war, zu vermeiden.

Es gibt in Deutschland zu viele Apotheken? Legende!
4 Millionen (!) Menschen suchen jeden Tag in Deutschland eine Apotheke auf, weil sie ein Medikament benötigen - entweder für sich selbst oder für einen Angehörigen. Rund um die Uhr sind die deutschen Apotheken für die Kranken im Lande da. In wie vielen Apotheken suchen nachts die Eltern kranker Kinder Rat und Hilfe!

Apotheken haben einen eminent wichtigen gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Auftrag. Sie sind erste Anlaufstelle für alle leichter Erkrankten und Ort ständiger Beratung und Begleitung für Millionen schwerer erkrankter Menschen. Die psychosoziale Funktion, Kompetenz und Bedeutung der Apotheken stehen außer Zweifel. Die Patienten beraten dürfen laut Recht und Gesetz nur Apotheker und pharmazeutisch ausgebildete Fachkräfte. Die Erreichbarkeit der Apotheken in Notlagen, die hohe Qualität der Beratung und die Arzneimittelsicherheit sind tief im Bewusstsein der Menschen verankert. In Umfragen nehmen deshalb die Apotheken im Vertrauen der Bevölkerung regelmäßig einen der Spitzenplätze ein.

Immer wieder versuchen interessierte Kreise, das Märchen von den zu vielen Apotheken lebendig zu erhalten - zuletzt die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes Dr. Doris Pfeiffer in einem Gespräch mit der "Rheinischen Post". Sie erliegt - wie viele Gesundheitspolitiker und "Experten" auch - dem Irrtum, weniger Apotheken bedeuteten weniger Kosten. Wenn das stimmen würde, müssten die Verwaltungskosten in den Krankenkassen gewaltig gesunken sein, denn durch von der Politik gewollte Fusionen sind von mehr als 1200 Kassen (1991) im November 2009 gerade einmal 184 übriggeblieben. Sind deshalb die Verwaltungskosten gesunken? Im Gegenteil - sie sind so hoch wie nie zuvor.

Die "Vertriebskosten" für Arzneimittel sind zu hoch? Irrtum!
Das Märchen von den "Apothekenpreisen" hält sich hartnäckig. Aber es ist falsch. Apotheke und Großhandel erhalten vom Arzneimittelpreis nur einen ganz geringen Anteil. Mehr als 65 % vom Arzneimittelpreis bekommen die Hersteller. Dafür forschen, produzieren und vermarkten sie das Arzneimittel. Der Staat kassiert den vollen Mehrwertsteuersatz auf die Arzneimittel. Das sind satte 19 %. Und zu allem Überfluss kassieren die Krankenkassen für jedes Medikament von den Apotheken noch einen Zwangsrabatt - genauso wie der Staat ohne irgendeine Gegenleistung. Zusammen kommen die drei auf knapp 86 %!

Zur Deckung der eigentlichen Vertriebskosten bleiben demnach gerade einmal 14 % vom Arzneimittelpreis übrig. Dafür müssen 80 Millionen Menschen an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr mit über 150 000 verschiedenen Medikamenten versorgt werden. Diese Leistung vollbringen 21 500 Apotheken und 15 vollversorgende Pharmazeutische Großhandlungen mit über 100 Niederlassungen in ganz Deutschland. Und sie machen es perfekt - jedenfalls sehen es die Verbraucher so.

Deshalb verbietet sich jede weitere Kürzung der Handelsspannen. Sie ist nicht zu verantworten, will man die schnelle und umfassende Versorgung der Patienten nicht gefährden. Doch in den Plänen des Gesundheitsministers sieht es gefährlich danach aus.

"Pick-up-Stellen" dienen dem Verbraucher? Irrtum!
In ihrem Bemühen, das hervorragend funktionierende Distributionssystem für Arzneimittel in Deutschland zu zerstören, hat Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vor der Zulassung des Versandhandels nicht zurückgeschreckt. Seitdem haben die Probleme mit Arzneimittelfälschungen bei Bestellungen über das Internet dramatisch zugenommen. Und im Schlepptau des Versandhandels entstanden "Sumpfblüten", wie die "Pick-up-Stellen" in Blumenläden, Tankstellen und Drogeriemärkten. Dort können Verbraucher die bei Versandhändlern im Ausland bestellte Arzneimittel abholen; ohne Kontrolle durch einen Apotheker oder eine pharmazeutische Fachkraft, ohne Beratung und ohne die strenge staatliche Aufsicht durch den Amtsapotheker.

Juristisch waren diese "Pick-up-Stellen" nicht zu verhindern. Erreicht wurde lediglich, dass sie sich nicht zu "Schmalspur-Apotheken", zu "Primitiv-Apotheken zweiter Klasse" entwickeln durften. "Pick-up-Stellen" sind schlichtweg überflüssig. Gesundheitsminister Rösler sollte sie per Gesetz verbieten. Die Arzneimittelsicherheit verlangt es.

Die Mehrwertsteuer kann nicht gesenkt werden? Legende!
Knapp 5 Milliarden Euro an Mehrwertsteuer auf Arzneimittel entzieht der Staat Jahr für Jahr dem Gesundheitssystem. Das ist einmalig in Europa. Die meisten Staaten haben die Medikamente von der Mehrwertsteuer befreit oder berechnen einen niedrigen Steuersatz. Nicht so Deutschland. Deshalb fordern Krankenkassen, Verbände, Gewerkschaften und Patientenvereinigungen unisono eine Absenkung der Mehrwertsteuer. Selbst die FDP hat dies immer gefordert. Aber da war sie noch nicht in der Regierung.

Dass die Steuer auf Arzneimittel innerhalb von Monaten gesenkt oder abgeschafft werden kann, hat die FDP soeben bewiesen. Um die Hotelbranche von 1 Mrd. Euro Mehrwertsteuer zu befreien, brauchte sie, zusammen mit der CDU/CSU, nur drei Monate. Es geht also, wenn man will. Aber man will nicht.


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Unverantwortlich
Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"

Wir sind mitten in einer Wirtschaftskrise. Die Exportwirtschaft lahmt, die deutschen Unternehmen erholen sich nur langsam. Die Zeitungen sind voll davon. Wie schaffen wir neue Arbeitsplätze? Wie verringern wir die Zahl der Hartz-IV-Empfänger? Wie beseitigen wir die Jugendarbeitslosigkeit? Wie gut, dass es da einen Bereich gibt, der Arbeitsplätze schafft: das Gesundheitswesen. Eine halbe Million Arbeitsplätze waren es in den letzten 10 Jahren. Dieser Jobmotor muss doch kaputtzukriegen sein. Zu viele Krankenhäuser, zu viele Arztpraxen, zu viele Apotheken. Sagen die Krankenkassen. Unverantwortliches Gerede.


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Quelle:
NOWEDA eG: Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2010