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MEDIEN/599: Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland 6/2010 (Noweda)


NOWEDA eG - Pressemitteilung vom 8. Juni 2010

Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland / Ausgabe Juni 2010 - 08.06.2010

"Kopfpauschale" endgültig gekippt?
- Auf die Apotheke ist Verlass
- Sparen wie in Griechenland?
- Gespart am falschen Ende
- Wir haben es geahnt
    Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"


Essen - Unsinnige Sparmaßnahmen in Krankenhäusern, die Bedeutung der "Apotheke um die Ecke" im Bewusstsein der Bevölkerung und noch einmal der von Gesundheitsminister Rösler geplante Systemwechsel in der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung - gleich drei gesundheitspolitischen Themen widmet sich die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung in ihrer Juni-Ausgabe. Dass nach letzten Meldungen die Einführung der umstrittenen "Kopfpauschale" durch den Widerstand der CSU zunächst einmal vertagt ist, nimmt ihr nicht die im Leitartikel beschriebene grundsätzliche Problematik . Zu hoffen ist, dass die weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Thema zum endgültigen Verzicht auf die "Kopfpauschale" führt. Ein Umbau der Finanzierung , so er denn notwendig ist, muss - im Gegensatz zu den Vorschlägen Röslers - solide und solidarisch sein.

Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint monatlich deutschlandweit mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren und ist für den Endverbraucher kostenlos in Apotheken erhältlich.


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Auf die Apotheke ist Verlass
- Versuche, die Apotheke zu schwächen, sind erfolglos
- Der Verbraucher sieht das anders

An Versuchen, die Apotheke "um die Ecke" zu schwächen oder sogar totzureden, mangelt es seit Jahren nicht. Politiker aller Parteien, Krankenkassen, interessierte Unternehmen und nicht zuletzt die Medien finden sich in einer Reihe mit dem Chef der Monopolkommission, Professor Justus Haucap. Der meinte jüngst in einem Interview mit dem Branchendienst "Apotheke Adhoc", es müsse endlich Wettbewerb zwischen den Apotheken geben. Deshalb habe er auch nichts gegen "Pick-up-Stellen" und den Versandhandel mit Arzneimitteln. Im Übrigen sei der Apotheker nicht schutzbedürftig, der Patient aber schon. Nur um dann fortzufahren, die Arzneimittelsicherheit solle man aber auch nicht übertreiben. Wie das? Es gibt keinen Wettbewerb zwischen Apotheken? Arzneimittelsicherheit soll man nicht übertreiben?

"Pick-up-Stellen" sind Abholstellen für Arzneimittel in Drogeriemärkten, Blumenläden und Tankstellen. Entstanden sind sie als Auswuchs der Zulassung des Versandhandels von Medikamenten in Deutschland. Ganz nebenbei hat uns diese Zulassung ein massives Problem mit Arzneimittelfälschungen aus dubiosen ausländischen Versandapotheken bei Bestellungen via Internet beschert. Darauf wies Wolfgang Schmitz vom Zollkriminalamt in einem Interview mit ebenjenem Branchendienst hin: Die Gewinne bei Fälschungen von Medikamenten seien höher als beim illegalen Handel mit Rauschgift, Waffen oder Zigaretten - ganz abgesehen von den lebensgefährlichen Folgen gefälschter Arzneimittel. Die Koalition will wenigstens die Pick-up-Stellen verbieten. Aber reicht das? Der Verbraucher ist angehalten, sorgfältigst zu prüfen, wie und wo er seine Arzneimittel bestellt.

Das müssen Patienten und Verbraucher beim Besuch einer Apotheke nicht. Sie haben laut einer Umfrage zur Selbstmedikation des Infas-Instituts in Köln hohes Vertrauen in ihre Apotheke "um die Ecke". Ganze 69 Prozent der Befragten haben sogar eine Stammapotheke, in der sie regelmäßig ihre Arzneimittel einkaufen. Und 87 Prozent zeigen sich mit der Beratung in ihrer Apotheke sehr zufrieden. Das hat das Institut für Handelsforschung an der Universität Köln in einer Umfrage erfahren.

Ein besseres Ergebnis können sich die Apotheken nicht wünschen.


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Sparen wie in Griechenland?
Die Euro-Krise hat auch Auswirkungen auf das Gesundheitswesen

"Nur eins ist teurer als Bildung: keine Bildung." John F. Kennedy, der charismatische amerikanische Präsident, hat das vor vielen Jahren gesagt. Dieser Satz ist heute so wahr wie damals. Doch Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen, sieht das anders: Jetzt, wo überall gespart werden müsse, müsse man auch an der Bildung sparen. Also weniger Geld für Kindergärten, Schulen und Universitäten?

Es wird so kommen - dank der griechischen Schuldentragödie, für die Deutschland mit der unfassbaren Summe von 125 Milliarden Euro haften muss.

Auch wenn in geheimen "Sparrunden" im Bundeskanzleramt andere Beschlüsse gefasst worden sein sollen: Länder und Kommunen tragen die Hauptlast der Bildungs- und Kinderbetreuungsausgaben. Insbesondere die Kommunen stöhnen unter den vielen durch den Gesetzgeber aufgezwungenen Ausgaben. Da liegt es nahe, hier den Rotstift anzusetzen. Doch wird das der Bürger auch verstehen?

Richtig verstehen wird man dies wohl nie. War FDP-Gesundheitsminister Rösler nicht gerade dabei, die funktionierende solidarische Beitragsfinanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf eine für den Staatshaushalt teure "Kopfpauschale" umzustellen? War da nicht sogar die Rede von Zuschüssen zu dieser "Kopfpauschale" - eleganter auch "Gesundheitsprämie" genannt - von bis zu 30 Milliarden Euro aus Steuermitteln? Und hält Rösler nicht immer noch, wenn auch in kleinerem Rahmen, an diesem Umstieg fest?

Doch woher sollen die Zuschüsse für die Versicherten kommen, die sich diese "Gesundheitsprämie" nicht leisten können? Aus Steuermitteln, die man nicht hat?

60 Milliarden Euro pro Jahr muss Deutschland in seinen öffentlichen Haushalten einsparen. Erst dann würde Deutschland die europäischen Richtlinien zur Haushalts- und Schuldenpolitik der Staaten wieder einhalten. Sechs Jahre Zeit hat die Politik sich dazu gegeben. Jedes Jahr müssen Einsparungen von 10 Milliarden Euro neu (!) gefunden und realisiert werden. "Die Zeit der Behutsamkeit ist vorbei", sagte Roland Koch in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".

Doch Gesundheitsminister Rösler gibt nicht auf. Zwar spürt er, dass die Bürger nicht mitziehen - die Landtagswahl in NRW hat die FDP hart getroffen - doch lassen will er von seiner Gesundheitsprämie nicht. Wenn schon nicht die ganze Sache, dann wenigstens eine halbe: Es werde lediglich ein Teil des einkommensabhängigen Arbeitnehmerbeitrags durch die Gesundheitsprämie ersetzt - mit sozialem Ausgleich über das Steuersystem, schreibt die FDP Bundespartei auf ihrer Website. Wer soll das noch verstehen?

Dennoch - für ihn scheint nichts wichtiger zu sein als der Umstieg in ein Finanzierungssystem, von dem niemand weiß, wie viele Milliarden es kostet und wie viel Bürokratie es produziert. "Die Pauschale ist ein Monster-Thema, das schwarze Loch der Gesundheitspolitik. Sie bindet Energie und Zeit, und sie nimmt den Politikern die Kraft, sich um Wichtigeres zu kümmern", schrieb die "Süddeutsche Zeitung". Wie wahr. Rettung vor der "Monster-Pauschale" gibt es wohl nicht. Dazu sind die koalitionsbedingten Machtkämpfe, Absprachen und Einigungen auf kleinstem Nenner zu weit fortgeschritten. Doch täten die Politiker gut daran, sich eines Merksatzes aus der Computerbranche zu erinnern: "Never change a running system." - "Verändere niemals ein funktionierendes System."

Es gibt eine moderne Abwandlung dieser Informatik-Weisheit. Betrachtet man das Reform-Chaos der letzten zwei Jahrzehnte im Gesundheitswesen, dann passt sie haargenau: "Never run a changing system!" - "Betreibe kein System, das sich dauernd ändert!"

Aber zu einer solchen Entscheidung sind mehr Einsicht, Weitsicht und Mut notwendig als zur Einführung unausgegorener "Reformen".


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Gespart am falschen Ende
Die Union schlägt trotz Unterfinanzierung weitere Sparmaßnahmen in Krankenhäusern vor.

Mitte Mai schlug die Union über ihren Sprecher Jens Spahn ein umfangreiches Sparpaket für Kliniken vor. Anlass für diese Botschaft waren die Meldungen über das erwartete Milliardendefizit bei den Krankenkassen. Wie die ohnehin massiv gebeutelten Kliniken in Deutschland mit immer weiter reduzierten Mitteln eine angemessene Patientenversorgung realisieren sollen, ist angesichts dieser Pläne nicht nur den Krankenhausmitarbeitern ein Rätsel.

Wie schlecht es um die Patientenversorgung steht, verdeutlicht unter anderem das "Pflege-Thermometer 2009", das im Mai vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) in Köln veröffentlicht wurde. Im Rahmen der Studie hat das dip mehr als 10.000 Pflegekräfte zu ihrer Arbeitssituation befragt. Die Ergebnisse sind schockierend: Die Kürzung von rund 50.000 Stellen in der Pflege in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, dass sich die ohnehin schon angespannte Personalsituation weiter verschlechtert hat. Ein Großteil der Befragten berichtet von Problemen, unter anderem bei einer angemessenen Überwachung von verwirrten Patienten, der Mobilisierung und fachgerechten Lagerung von bewegungseingeschränkten Patienten und der Betreuung Schwerstkranker. Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer können Fehler und Mängel bei der Medikationsverabreichung, Verbandswechseln und Hygienemaßnahmen nicht mehr ausschließen.

Der Beruf des Gesundheits- und Krankenpflegers (früher Krankenschwester/ Krankenpfleger) wird für Schulabgänger aufgrund der massiven Arbeitsbelastung zunehmend unattraktiv. Darüber hinaus wird auch in der Ausbildung gespart und es werden immer weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt. Die Folge: In der Pflege vollzieht sich ein berufsdemografischer Wandel. Pflegekräfte werden immer älter und die Arbeitssituation sorgt dafür, dass sie - oft aus gesundheitlichen Gründen - deutlich früher aus dem Beruf ausscheiden müssen. Besonders beunruhigend ist, dass die Zahl der Pflegekräfte zunimmt, die sich in "ihrem" Krankenhaus nicht würden behandeln lassen.

Auch auf Seiten der Ärzte ist die Situation alles andere als optimal. Zwar wurde die Zahl der Stellen in den letzten Jahren erhöht, der Ärzteverband Marburger Bund rief im Mai jedoch auch zum Streik an kommunalen Kliniken auf, an dem sich Ärzte aus fast allen Bundesländern beteiligten. Anlass für den Streik ist die vom Marburger Bund beklagte mangelnde Vergütung von Bereitschaftsdiensten, z. B. nachts und am Wochenende. Die von den Streiks betroffenen Kliniken mussten ihre Versorgung auf Notfallniveau herunterfahren.

Angesichts dieser desolaten Ausgangssituation ist es nicht nachvollziehbar, wie die Union weitere, ausufernde Sparmaßnahmen vorschlagen kann. Dass eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung Geld kostet, ist unbestritten. Statt sich jedoch Gedanken darüber zu machen, wie man das "Sparpotenzial" des gebeutelten Gesundheitswesen über das Maß des Möglichen hinaus ausschöpft, sollte die Politik endlich erkennen, dass das "Gut Gesundheit" mehr ist als ein herkömmlicher Wirtschaftsfaktor und dass es seit Jahren an einer angemessenen Finanzierung scheitert.


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Wir haben es geahnt
Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"

Wie borniert, wie anmaßend, wie ungeheuer frech muss ein Politiker sein, wenn er wider jede Vernunft, wider jeden Rat wirklich ernstzunehmender Experten, wider die übergroße Mehrheit des Volkes "seine" Vorstellungen von Reformen durchsetzt - um jeden Preis. Ulla Schmidt hat dies mit dem überflüssigen und unterfinanzierten "Gesundheitsfonds" getan. Das fehlende Geld sollte der Staat zuschießen. Jetzt ist kein Geld mehr da. Das sollte der Politik eine Warnung sein.


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Quelle:
NOWEDA eG: Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010