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MEDIEN/601: Dokumentarfilm "Wenn Ärzte töten - Über Wahn und Ethik in der Medizin" (IPPNWforum)


IPPNWforum | 120 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Wenn Ärzte töten
Über die Instrumentalisierung von Medizinern in totalitären Gesellschaften

Von Anne Tritschler


Der KZ-Arzt Josef Mengele, berüchtigt für seine Menschenversuche in Auschwitz, steht im öffentlichen Gedächtnis stellvertretend für das Grauen, zu dem politischer Wahn führen kann. In dem sehr reduzierten Dokumentarfilm "Wenn Ärzte töten - Über Wahn und Ethik in der Medizin" beschreibt nun der namhafte Psychiater Robert Jay Lifton, wie "ganz normale Ärzte" von Heilern zu Mördern werden können. Damit leistet der Film einen wichtigen Beitrag zu einer sehr aktuellen Auseinandersetzung, die durch die medizinische Hilfeleistung bei Folter in britischen und amerikanischen Militär-Gefängnissen an Brisanz gewinnt: die Diskussion um Ethik und Moral in der modernen Medizin.


Robert Jay Lifton, Gründungsmitglied der IPPNW, ist bekannt für seine Studien über die psychologischen Hintergründe und Auswirkungen von Krieg, Genozid und politischer Gewalt. Bis heute untersucht er, wie Terror und Gewaltherrschaft dazu führen können, dass Menschen ihre Menschlichkeit verlieren. Seine Forschung über die Verstrickung der Medizin in den Holocaust und andere politische Gewaltakte begann der amerikanische Wissenschaftler, nachdem er Dokumente des Frankfurter Auschwitz-Prozesses gesichtet hatte. Rund 20 Jahre nach Kriegsende sprach er mit 40 Ärzten, die der Nationalsozialismus zu einer "kriminellen Verkehrung von Heilung und Tötung" geführt hatte. Die meisten waren gut situiert und sich einer Schuld kaum bewusst. Durch Nebenbemerkungen der Ärzte ("Ich bin froh, dass ich jetzt Kinder zur Welt bringen kann") und unterstützt durch viele Gespräche mit Opfern gelang es Lifton, das Unausgesprochene zu verstehen und ein Erklärungsmuster für das Verhalten der Ärzte zu finden.

Mehrere Stufen führten aus Liftons Sicht vom Heilen zum Massenmord, "der entscheidende Schritt war der von Sterilisation zur sogenannten Euthanasie. Denn das eine war Sterilisation - die Unterdrückung sogenannter schlechter Gene, ein kleiner chirurgischer Eingriff - das andere war das Töten menschlichen Lebens. Worüber ich immer noch nachdenke, ist, was den einzelnen Arzt dann psychologisch dazu bewegt, tatsächlich Mord zu begehen." Eine Erklärung liegt für ihn in einem medizinisch-ethischen Konstrukt, das sich die Ärzte zurechtlegten. Euthanasie als die "Tötung lebensunwerten Lebens", die Beteiligung an der Massenvernichtung als "Dienst am Erhalt der Volksgesundheit": Auschwitz als klinisches Zentrum. Experimente an Menschen halfen ihnen dabei, sich in dieser Umgebung das Gefühl des Arzt-Seins zu erhalten und sie rechtfertigten die Versuche damit, etwas zur Wissenschaft beizutragen.

Mediziner spielten im Nationalsozialismus eine zentrale Rolle. Sie hatten zwar den hippokratischen Eid, aber auch einen Eid auf Hitler geschworen. Für die Nazis wiederum gehörte die Spritze in die Hand eines Arztes, in der Folge also auch der Hebel zur Gasdüse. Dass sich Ärzte dazu haben instrumentalisieren lassen, begründet Lifton mit der historischen Rolle von Ärzten, beginnend mit Schamanen, die über Leben und Tod herrschten. "Ärzte können sich als mystische Heiler sehen, die ein moralisches Vorrecht haben, über Leben und Tod zu walten. Die sehr spezielle Rolle von Ärzten in der Gesellschaft kann sie zur dieser Sicht verführen - so dass totalitäre Gesellschaften [...] immer dazu neigen, Ärzte zur Mitarbeit zu gewinnen, sei es, um zu töten, oder um die Realität auf gewisse Weise zu kontrollieren. Und sie müssen sie gar nicht mal unbedingt dazu zwingen."

Lifton bietet mehrere Erklärungsversuche, auch weitere Fragen. Was bleibt, ist das Wissen darum, dass und warum kein anderer Berufsstand so gründlich »nazifiziert« worden war wie die Ärzte. Und ein Bewusstsein dafür, dass man gerade als Mediziner die Verpflichtung hat, ethischen und moralischen Fragen nicht aus dem Weg zu gehen.

Ohne die mehr oder weniger bekannten Bilder von Auschwitz, ohne historische Fotos von Ärzten mit Versuchsopfern zeigt der Film allein Interviewausschnitte mit Lifton. Dadurch gelingt es dem Film, in die Tiefe zu gehen und überlässt es dem Zuschauer, innere Bilder mit dem Gesprochenen in Verbindung zu bringen. Ob das für das große Kinopublikum der richtige Weg ist, bleibt fraglich. Für Mediziner und Medizinstudierende ist der Film jedoch ein wichtiges und interessantes didaktisches Material, fast ein Muss.


Anne Tritschler ist Assistentin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der IPPNW.


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Quelle:
IPPNWforum | 120 | 09, Dezember 2009, S. 12
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2010