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MEDIEN/625: Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland 10/2010 (Noweda)


NOWEDA eG - Pressemitteilung vom Montag, 11. Oktober 2010

Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland / Ausgabe Oktober 2010 - 11.10.2010

"Keimzelle" Krankenhaus
- Wir sind Entwicklungsland
- Sicherheit kostet Geld
   Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"


"Keimzelle" Krankenhaus

Essen - Die Wellen schlagen hoch in der Diskussion um die Hygienemängel in deutschen Krankenhäusern. Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland greift das Thema im Leitartikel der Oktoberausgabe auf und beleuchtet, wie es in den vergangenen Jahren zu einem so dramatischen Qualitätsverlust kommen konnte, der jedes Jahr nach Berechnung von Hygienefachleuten bis zu 40.000 Tote zur Folge hat. Grund: Der aggressive Sparkurs in der Gesundheitspolitik hat viele Krankenhäuser in finanzielle Schieflage gebracht. Eine von vielen Folgen: Personalmangel - nicht nur in der Pflege, sondern auch bei Reinigungs- und Hygienedienstleistungen in den Kliniken. Durch mangelnde Hygiene aber infizieren sich jedes Jahr hunderttausende Krankenhauspatienten mit gefährlichen Keimen. Wie können sich die Zustände bessern, wenn der lebensgefährliche Sparkurs nicht nur beibehalten, sondern sogar ausgebaut wird? Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint deutschlandweit mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren und ist kostenlos in Apotheken erhältlich.


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Wir sind Entwicklungsland
Krankenhaushygiene auf dem Prüfstand.

Die Kinder der fünfziger Jahre werden es noch wissen. Wenn sie krank waren, kam der "Onkel Doktor" zu ihnen nach Hause. Sie hatten die Masern oder Mumps oder Halsschmerzen. Und wenn der Arzt sie abgehorcht und in den Hals geguckt hatte, lagen immer Seife und Handtuch bereit und der Doktor wusch sich ausgiebig die Krankheitskeime von den Händen. Erst dann fuhr er zum nächsten Patienten. Wäre der Arzt gegangen, ohne sich die Hände zu waschen, hätten die Kinder das als befremdend empfunden. Auch oder gerade weil sie es selbst immer wieder vergaßen. "Hände waschen!" war eine der meistgehörten elterlichen Ermahnungen. Gab es ein Kind, das den Satz "Nach dem Klo und vor dem Essen Händewaschen nicht vergessen!" nicht kannte?

"Vom Boden essen" konnte man auch in den Krankenhäusern. Die Linoleumböden wurden gewischt und gebohnert, dass man sich darin spiegeln konnte. Damals waren es noch katholische und protestantische Ordensfrauen, die in den Hospitälern das Sagen hatten - oft mehr als der Chefarzt, wie freche Zungen behaupteten. Ihre "Putzfrauen", wie man sie damals noch nennen durfte, hatten die frommen Frauen jedenfalls im Griff. Alles war blitzsauber. Es roch nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln.
Irgendwann auf dem Weg ins dritte Jahrtausend muss die Tugend des Händewaschens im Allgemeinen und der blitzenden Sauberkeit im Krankenhaus im Besonderen verloren gegangen sein - mit zum Teil dramatischen Folgen.
Dass unsere Hände sich geradezu ideal für die Verbreitung von Krankheitserregern - gefährlichen Viren, Keimen und Bakterien - eignen, ist eigentlich sonnenklar. Hände fassen alles an. Ob wir uns die Hand zur Begrüßung geben oder uns umarmen oder eine Wange streicheln - wir sind es dem anderen schuldig, dass wir saubere Hände haben.
Natürlich ist das nicht so einfach. Blättern wir nicht im Wartezimmer unseres Arztes die vielfach benutzten Zeitschriften durch? Schieben wir nicht mit beiden Händen den gleichen Einkaufswagen vor uns her, den eben noch die grippekranke Frau benutzt hat? Was ist mit der von Fingerabdrücken übersäten Festhaltestange in der U-Bahn? Und was mit der Toilettentür in der Autobahnraststätte?
Überhaupt die Sache mit den Toiletten. Zwei von drei Männern waschen sich nach dem Toilettengang nicht die Hände. Jede dritte Frau auch nicht. Hygienisch gesehen ist Deutschland wieder ein Entwicklungsland. Aber alles dies ist nichts gegen die mangelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern.
Aktuell entbrannte die öffentliche Debatte über die hygienischen Zustände in den Kliniken durch die Nachricht über den tragischen Tod von drei Säuglingen durch verunreinigte Infusionen in der Universitätsklinik Mainz. Die Schuld liegt zwar höchstwahrscheinlich nicht bei der Uniklinik, doch die Diskussion über mangelnde Hygiene im Krankenhaus war nun einmal in Gang gekommen. Endlich - kann man da nur sagen.
Denn dass bis zu 600.000 Patienten sich jährlich im Krankenhaus mit Krankheitserregern infizieren und bis zu 40.000 Menschen daran sterben - viele davon an dem multiresistenten Keim MRSA - ist ein Skandal, der normalerweise die Staatsanwaltschaft auf den Plan rufen müsste. Dieser unglaublichen und für Deutschland zutiefst beschämenden Zahl wird auch von Seiten der Fachleute und Gesundheitspolitiker nicht widersprochen. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Holland. Dort werden Krankenhauspatienten schon bei der Einlieferung auf den Keim MRSA hin untersucht und gegebenenfalls isoliert. Auch das Pflegepersonal wird regelmäßig untersucht und intensiv geschult. Das Ergebnis: Die Infektionsraten und damit auch die daraus resultierenden Todesfälle sind um ein Vielfaches niedriger als bei uns.
Wie immer, wenn jahrelange Versäumnisse der Politik plötzlich und dramatisch zutage treten, regt sich schlagartig das schlechte Gewissen ebenjener Politiker, die für diesen Zustand verantwortlich sind. Ihre Aufgabe wäre es, Mahnungen und Vorschläge von Fachleuten dann wahrzunehmen und zu handeln, wenn die Probleme sichtbar werden. Darauf vertrauen die Menschen. Doch erst, wenn die öffentliche Diskussion über Missstände nicht mehr aufzuhalten ist, überbietet sich die Politik in Erklärungen und Rechtfertigungen, in Aktionismus und dem Ruf nach neuen Gesetzen.
Das ist in der Debatte über das Buch von Sarrazin, "Deutschland schafft sich ab", und die Versäumnisse in der Migrationspolitik nicht anders als in der Diskussion über die personellen, organisatorischen und finanziellen Probleme in den Krankenhäusern.
Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), die nach eigenen Angaben mehr als 800 Hygiene-Experten vertritt - darunter Ärzte für Hygiene und Umweltmedizin, Ärzte für öffentliches Gesundheitswesen, Krankenschwestern und -pfleger für Krankenhaushygiene -, konnte in der Vergangenheit noch so nachhaltig auf die hygienischen Probleme in den deutschen Kliniken hinweisen, geschehen ist wenig. Im Gegenteil - der Kostenabbau in den Krankenhäusern ging und geht ungebremst weiter. Und der trägt zu einem nicht geringen Grad die Verantwortung für die Hygienemisere.
Allerdings sind auch Ärzte und Pflegepersonal nicht ohne Schuld. Sie waschen sich viel zu selten die Hände - sei es, weil die Zeit für Desinfektionsmaßnahmen fehlt, sei es, weil der Aufmerksamkeitsgrad in dieser Klinik oder der entsprechenden Abteilung dafür niedrig ist. Auch mangelhafte Schulung kann schuld sein. Viele Infektionen ließen sich, Fachleuten zufolge, durch konsequentes Händewaschen und Desinfizieren verhindern.
Prof. Walter Popp, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene und Leiter der Hygiene-Abteilung im Klinikum Essen, sieht dies ähnlich. Doch er geht noch weiter. In "Der Westen", dem Online-Portal der WAZ Mediengruppe, gab er den Sparmaßnahmen der Krankenhausverwaltungen eine nicht geringe Schuld: Die Einstellung von ungelernten Kräften statt erfahrener Krankenschwestern sei genauso verantwortlich für mangelnde Hygiene im Krankenhaus wie die Beschäftigung externer Firmen mit ausländischen, der deutschen Sprache kaum mächtigen Mitarbeiterinnen für die Reinigung der Klinikräume. Doch das scheint nur die halbe Wahrheit zu sein. Ein Gewerkschaftssekretär der IG Bau meldete sich auf diesen Artikel hin zu Wort und relativierte Professor Popps Aussagen: Die Reinigungskräfte seien die gleichen wie vorher, nur aus Kostengründen in eine externe Firma ausgelagert. Allerdings stünde ihnen nur noch die Hälfte der Zeit für die Reinigung zur Verfügung: "Glaubt ernsthaft jemand, dass man in drei Minuten ein Mehrbettzimmer zuzüglich des Bades und Toilette reinigen kann?" Und zu mangelhafter Sterilisation von OP-Räumen: Wenn zwischen Operationen nur 15 Minuten Zeit eingeplant sei, der Hersteller des Desinfektionsmittels aber eine Einwirkzeit von 50 Minuten vorschreibe, wie könne da wirksam sterilisiert werden?
Letzten Endes ist es also der den Kliniken seitens der Krankenkassen und der Gesundheitspolitik aufgebürdete ungeheure Kostendruck, der die Krankenhausleitungen dazu veranlasst, jede nur mögliche Form der Kosteneinsparung zu realisieren: Personal wird eingespart, wo immer es möglich erscheint, Dienstleistungen, wie die Raumpflege und das Desinfizieren, werden auf externe, billige Unternehmen übertragen, eine kontrollierende Hygieneabteilung mit Hygienearzt und Fachpersonal gar nicht erst eingerichtet. Verantwortungslos?
Das Krankenhauswesen ist zwar Ländersache, doch jetzt will sich auch Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler um die mangelhafte Hygiene in den Krankenhäusern kümmern: Die Gesundheitskonferenz von Bund und Ländern soll sich der Sache annehmen.
Doch ist ein bundeseinheitliches Hygienegesetz wirklich die Lösung? Bringt man es auf den Punkt, dann weigert sich die Gesundheitspolitik, wegen der "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen - die es im Übrigen nicht gibt - genügend finanzielle Mittel aus den Beiträgen der Versicherten zur Verfügung zu stellen, um in den Krankenhäusern einwandfreie hygienische Zustände herbeizuführen. Im Gegenteil - weitere Einsparungen sind angesagt. Die Jahr für Jahr seitens der Kassen vorgebrachte Äußerung, es gäbe immer noch Rationalisierungsreserven in den Krankenhäusern, die nur zu heben seien, hört sich im Zusammenhang mit 600.000 Infektionen im Jahr beinahe schon zynisch an.

Wo die Politik versagt, sind wir auf uns selbst gestellt. Wer die Fernsehdiskussionen zu diesem Thema verfolgt hat, war nicht wenig erstaunt. Der Rat der Experten an den Patienten im Krankenhaus: Beschweren Sie sich, wenn Ihnen Ihr Zimmer nicht ausreichend sauber vorkommt, notfalls bei der Verwaltungsleitung.
Doch wer tut das schon, wenn er sich miserabel fühlt?


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Sicherheit kostet Geld
Ein Kommentar der Redaktion der "Neuen Allgemeinen Gesundheitszeitung für Deutschland"

Sicherheit im Straßenverkehr wird in Deutschland groß geschrieben. Sicherheit der Autos auch. Jahr für Jahr sinkt die Zahl der Verkehrstoten. Im Jahre 2008 waren es nur noch 4.774. Doch damit gibt man sich nicht zufrieden. Es müssen weitere Anstrengungen her, fordern Verkehrspolitiker. Doch Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Wer weiß das besser als der Käufer eines PKW?

Bis zu 40.000 Menschen sterben jährlich an Infektionen, die sie sich im Krankenhaus zugezogen haben. Auch Hygiene im Krankenhaus kostet Geld. Das Geld der Versicherten. Wer entscheidet eigentlich, dass die Versicherten nicht dafür bezahlen wollen?


Hinweis:
Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint monatlich mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren. Sie ist deutschlandweit kostenlos in Apotheken erhältlich.


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010