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PSYCHOLOGIE/080: Wenn sich die Gedanken im Kreis drehen - Behandlungsprogramm gegen depressives Grübeln (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013
Ruhr-Universität Bochum

Wenn sich die Gedanken im Kreis drehen
Psychologen entwickeln Behandlungsprogramm gegen depressives Grübeln

von Dr. Maren Volkmann



Wieso bin ich solch ein Versager? Wie kommt es, dass die anderen mich nicht mögen? Die Gedanken drehen sich im Kreis. Immer und immer wieder (Abb. 1). Wer grübelt, findet nicht nur schwer aus diesen negativen Gedanken heraus. Grübeln erhöht auch das Risiko, depressiv zu erkranken oder rückfällig zu werden. Auf Grundlage dieser Erkenntnis haben Psychologen vom Zentrum für Psychotherapie Bochum (ZPT) der RUB eine Behandlung entwickelt, mit deren Hilfe Grübeln verhindert oder beendet werden soll.


Grübeln - was ist das überhaupt? "Der Begriff ist recht schwammig. Am besten lässt er sich durch bestimmte Attribute charakterisieren", sagt Dr. Tobias Teismann (Abb. 2), geschäftsführender Leiter des ZPT (Hochschulambulanz der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum). Grübeln ist demnach ein Denkprozess, der immer wiederkehrt, der sich stark aufdrängt und vergangenheitsorientiert ist, sich also auf Ereignisse bezieht, die bereits eingetreten sind. Grüblerische Gedanken haben meist einen konkreten Auslöser ("Die anderen Mütter haben mich heute Morgen vor dem Kindergarten nicht gegrüßt"), gehen dann aber ins Abstrakte ("Wieso mögen mich andere Leute nicht?"). "Diese Fragen kann man endlos weiterdenken", so Teismann. "Sie nehmen außerdem keinen problemlösenden Fokus ein."

Mit dem Grübeln und der Depression verhält es sich wie mit der Henne und dem Ei: An der Frage, was zuerst da war, scheiden sich die Geister. "Menschen, die depressiv sind, grübeln eben" - diese Meinung hat sich lange Zeit in der Forschung gehalten. Erst in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren hat eine Reihe von Studien gezeigt, dass es genau anders herum ist: Erst kommt das Grübeln und dann (möglicherweise) die Depression. Grübeln ist also nicht Symptom, sondern Motor der Erkrankung.

In der Praxis haben sich verschiedene Formen durchgesetzt, eine Depression zu therapieren. Neben der medikamentösen Behandlung kann man dem Patienten ganz klassisch dabei helfen, aktiver zu werden, also zum Beispiel mehr Sport zu treiben oder einem Hobby nachzugehen. Negativen Gedanken wie "Ich bin eine schlechte Mutter" oder "Ich bin ein Versager" können sich Therapeut und Patient nähern, indem sie sich die Inhalte genau anschauen und überprüfen, ob diese tatsächlich der Realität entsprechen ("Stimmt es, dass Sie ein Versager sind?").

Am ZPT wählt man einen anderen Ansatz: Hier schaut man sich die negativen Gedanken nicht auf der Inhaltsebene an, sondern die Art und Weise, wie Personen mit diesen Inhalten umgehen. "Depressive lassen sich von negativen Gedanken leicht provozieren und steigen viel stärker darauf ein, weiter und weiter darüber nachzudenken", sagt Teismann. Diese Erkenntnis brachte die Bochumer Psychologen dazu, den Prozess des Denkens viel stärker in den therapeutischen Fokus zu nehmen. Herausgekommen ist eine Gruppentherapie namens "Kognitive Verhaltenstherapie depressiven Grübelns", die aus zehn Sitzungen besteht (Abb. 3). Sie hat das Ziel, den Patienten bewusster zu machen, was Grübeln überhaupt ist und wie sie sich davon distanzieren können. Ausgangspunkt für die Bochumer war der englische Therapeut und Forscher Adrian Wells, der in seinem Buch "Metakognitive Therapie" (2004, 2009) ein erstes Kapitel zum Thema geschrieben hat. "Dieses Kapitel haben wir zu einem Gruppenprogramm ausgeweitet und zusätzlich andere Strategien und Aspekte integriert", so Teismann.

Das Thema "Grübeln als Risikofaktor" macht den Auftakt des Behandlungsprogramms: "Der Patient muss eine Idee davon bekommen, dass Grübeln ein Problem ist", sagt Teismann. In den ersten beiden Gruppensitzungen (Einheit 1) machen die Therapeuten den Patienten deutlich, was man unter Grübeln versteht und wieso man überhaupt grübelt. Teismann: "Diese Vorbereitung ist wichtig, damit die Patienten besser nachvollziehen können, wo man mit ihnen hin will."

In der zweiten Einheit, "Grübeln beenden", bekommen die Patienten Übungen an die Hand, die sie im Notfall beherzigen können, wenn sich ihre Gedanken wieder einmal im Kreis drehen. "Grübeln passiert im Zustand exzessiver Selbstaufmerksamkeit", so Teismann. Das bedeutet: Die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen, alles um einen herum wird ausgeblendet. Fast immer erleben die Patienten dies als einen unfreiwilligen Zustand. Um ihnen zu helfen, einen Ausweg aus dieser Selbstaufmerksamkeit zu finden, führen die Bochumer Psychologen unter anderem ein Aufmerksamkeitstraining (nach Wells) durch. Die Patienten werden verschiedenen Geräuschquellen ausgesetzt und müssen sich dann auf einzelne Geräusche konzentrieren beziehungsweise zwischen den verschiedenen Quellen wechseln. "So wird selektive Aufmerksamkeit geschult", so Teismann.

In der dritten Einheit versuchen die Therapeuten in insgesamt vier Sitzungen, den Patienten dabei zu helfen, Grübeln gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das bedeutet zum Beispiel, sich weniger von negativen Gedanken provozieren zu lassen. "Man muss diese Gedanken wie ein Fratzen schneidendes Kind behandeln", sagt Teismann. "Das klingt leicht, ist in der Umsetzung aber sehr schwer." Die Therapeuten arbeiten mit Stimulusworten, bei denen die Patienten beobachten sollen, was ihnen dabei durch den Kopf geht. Erst sind die Worte neutral ("Orange", "Kindergeburtstag"), dann werden sie zunehmend relevant ("Versager", "schlechte Mutter"). Ziel ist es, dass sich die Patienten nicht mehr in diesen Worten verstricken, sondern sie einfach vorüberziehen lassen.

Ein wichtiger Punkt ist es zudem, den Patienten den Unterschied zwischen hilfreichem problemlösenden Denken und Grübeln klar zu machen. Dabei geben ihnen die Therapeuten eine Faustregel an die Hand: Wenn man nicht weiß, ob man grübelt, sollte man einfach für zwei Minuten seine Gedanken weiterverfolgen. Nach dieser Zeit stellt man sich folgende Fragen: Habe ich etwas verstanden, was mir vorher nicht klar war? Bin ich einer Lösung nähergekommen? Fühle ich mich in irgendeiner Weise weniger depressiv? Kann der Patient keine dieser Fragen mit Ja beantworten, grübelt er sehr wahrscheinlich.

Zum Ende des Behandlungsprogramms werden dem Patienten schließlich Alternativen zum Grübeln aufgezeigt (Einheit 4). Dabei geht es darum, Techniken vorzustellen, die dann zum Einsatz kommen, wenn Problemlösungsstrategien nicht mehr helfen - wenn Dinge beispielsweise in der Vergangenheit passiert und damit abgeschlossen sind. "Dabei geht es um Akzeptanz", so Teismann. Eine der Techniken ist das expressive Schreiben - eine Schreibtechnik, die in den 1980er-Jahren von einem amerikanischen Sozialpsychologen entwickelt wurde. An mehreren aufeinander folgenden Tagen schreiben die Patienten dabei ihre traumatischen Erlebnisse auf eine neugierige und explorative Art und Weise nieder - ohne sich dabei selbst zu bewerten. "Der Unterschied zum Grübeln ist, dass man sich nicht abstrakt, sondern sehr konkret mit einer Sache auseinandersetzt", so Teismann. "Der Effekt ist klein, aber sehr konsistent."

Das Behandlungsprogramm haben Teismann und seine Kolleginnen und Kollegen vom ZPT mit 45 (Behandlungsgruppe) beziehungsweise 36 Personen (Wartekontrollgruppe) seit 2009 erprobt. Die Gruppen, die aus vier bis neun Personen bestanden, waren sehr heterogen: Die Patienten waren zwischen 20 und 65 Jahre alt; von den Berufsgruppen waren sowohl Studierende als auch städtische Angestellte oder Selbstständige vertreten. Bei allen handelte es sich um Personen, die immer wieder depressive Episoden erlebt hatten, also für mindestens zwei Wochen unter Symptomen wie niedergeschlagener Stimmung, Veränderung des Schlafs und des Appetits, Konzentrationsschwierigkeiten oder Antriebsschwäche litten. Um das Behandlungsprogramm zu evaluieren, mussten die Patienten sowohl vor und nach der Therapie als auch vor und nach jeder Sitzung einen Fragebogen ausfüllen. Finanzielle Unterstützung bekam das Team um Teismann dabei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Mit den Ergebnissen ist Teismann zufrieden. Im Verlauf der depressiven Symptomatik (Abb. 4a), des selbstberichteten Grübelns (Abb. 4b) und der Unkontrollierbarkeit des Grübelns (Abb. 4c) lassen sich bei den Patienten deutliche Verbesserungen feststellen. Insgesamt ist die Abbrecherquote relativ gering; die Rückfallrate entspricht der anderer etablierter Verfahren (Abb. 5). Zudem waren die Patienten sehr zufrieden mit den einzelnen Sitzungen. "Das Behandlungsprogramm ist genauso gut wie andere Behandlungen, aber nicht besser", zieht Teismann ein Fazit. "Es ist interessant, dass man die Leute über diesen Fokus genauso gut behandeln kann wie über etablierte therapeutische Ansätze."

Zur "Kognitiven Verhaltenstherapie depressiven Grübelns" haben Teismann und seine Kollegen bereits im Mai 2012 ein Behandlungsmanual veröffentlicht. Zur Beschreibung der Effektivität und zum therapeutischen Vorgehen werden im laufenden Jahr weitere Artikel publiziert. Momentan schaut sich das Team zudem verstärkt Binnenanalysen an, um zum Beispiel voraussagen zu können, wer am meisten von der Therapie profitiert. mv


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Wenn sich grüblerische Gedanken verselbstständigen, hat es der Betroffene schwer, daraus auszubrechen.

Abb. 2: Dr. Tobias Teismann

Abb. 3: Das Behandlungsprogramm gliedert sich in vier Einheiten, die aufeinander aufbauen.

Einheit 1: Grübeln als Risikofaktor
Sitzung 1: Bedeutung depressiven Grübelns
Sitzung 2: Ursachen depressiven Grübelns

Einheit 2: Grübeln beenden
Sitzung 3: Aufmerksamkeitstraining
Sitzung 4: Kontrolle über Grübeleien gewinnen

Einheit 3: Grübeln verhindern
Sitzung 5: Achtsame Distanzierung
Sitzung 6: Positive Annahmen über das Grübeln
Sitzung 7: Umgang mit Symptomen - Grübeln, Hypervigilanz & Rückzug
Sitzung 8: Umgang mit Symptomen - Akzeptanz und Aktivität

Einheit 4: Alternativen zum Grübeln
Sitzung 9: Expressives Schreiben
Sitzung 10: Problemlösestrategien

Abb. 4a: In einem Selbstbericht sollten die Patienten angeben, inwieweit sie vor (Prä), unmittelbar nach (Post) und ein Jahr nach der Therapie (Kat 12) von depressiven Symptomen betroffen waren. In der Wartekontrollgruppe (WKG), die auf die Therapie warten musste, hat sich nahezu nichts geändert. Bei der Behandlungsgruppe (EG) hingegen sieht man eine deutliche Verbesserung, die sich auch nach Ende der Therapie konstant hält. Die beiden Effektstärken ESWithin (Vergleich einer Gruppe vor und nach der Therapie) und ESBetween (Vergleich der beiden Gruppen zum Therapieende) bestätigen dies. Eine Effektstärke von über 0.80 ist eine große Effektstärke, die darauf hindeutet, dass es zu einer statistisch bedeutsamen Veränderung gekommen ist.

Abb. 4b: Beim selbstberichteten Grübeln fällt erneut auf, dass sich in der Wartekontrollgruppe kaum etwas verändert. Bei der Behandlungsgruppe nimmt das Grübeln über den Therapiezeitraum ab; auch hier lassen sich große Effektstärken verzeichnen. Bemerkenswert ist, dass es sogar nach der Therapie zu einer weiteren Verbesserung kommt - die Patienten scheinen also das, was sie in der Therapie gelernt haben, weiter zu transportieren.

Abb. 4c: Der stärkste Effekt lässt sich an der Frage "Wie viel Kontrolle haben Sie über ihr Grübeln?" verzeichnen. Hier sind die Effektstärken extrem hoch; der Wert hat sich nahezu halbiert. Auch in der Zeit nach der Therapie bleibt er stabil. Das bedeutet, dass sich die Leute dem Grübeln nicht mehr so stark ausgesetzt fühlen.

Abb. 5: Die Rückfallrate entspricht exakt den Rückfallquoten von allen anderen etablierten Verfahren. In diesem speziellen Fall hat nach drei Monaten eine Person die Therapie abgebrochen, nach einem Jahr acht Personen. "Das ist dennoch unbefriedigend", sagt Tobias Teismann. "Wahrscheinlich ist es der Natur der depressiven Störung geschuldet." Was viele nicht wissen: Die Rückfallraten nach einer Depression sind höher als bei Alkoholismus.


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-fruehjahr-13/beitraege/beitrag5.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013, S. 34-37
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
und Markenbildung der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2013