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HINTERGRUND/147: Kritik der Kategorie "Weltmusik" - Was bringt die Welt zum Klingen? (ROSA)


ROSA:38 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Februar 2009

Was bringt die Welt zum Klingen?

Von Dani Oertle


Die Genrebezeichnung Weltmusik wirft Fragen über westliche Hörgewohnheiten und die Verflechtungen des Popdiskurses mit seiner Geschichte auf. Eine feministisch-postkoloniale Kritik an der Kategorisierung der "anderen" Popmusik.


Im Plattenladen werden ganz und gar unterschiedliche Musikstile aus allen Kontinenten noch heute in einer Ecke zusammengestellt. Ein Regal tragt die Bezeichnung Weltmusik, während Tonträger mit westlicher Musik den Rest des Ladens ausfüllen. Dieses Ungleichgewicht legt eine bestimmte Ignoranz westlicher Hörgewohnheiten nahe - eine Kritik von der ich mich aufgrund meiner Musiksozialisation nicht gänzlich ausnehmen kann. Es könnte eingewendet werden, dass andere Stilbezeichnungen oft auch nicht passen. Was ist denn so entsetzlich an der Bezeichnung? Bei der Kritik an der Kategorisierung Weltmusik geht es keinesfalls um eine falsche intellektuelle "Pfuihaltung", die etwa im gleichen Zuge die Leistungen von MusikerInnen dieser Sparte an den Pranger stellen wollte. Die Vermarktungsstrategie World Music birgt auch Chancen und stellt Selbstaneignungsstrategien für einzelne SängerInnen bereit - doch davon später. Beim Label Weltmusik bleibt nichts desto trotz ein Unbehagen, das zum Nachdenken über die schrecklich-praktische Schublade Weltmusik verleitet, mit der sich der Westen den "anderen" Pop durch die Fortsetzung kolonial-patriarchaler Verhältnisse ohrgerecht macht.


Befriedigung westlicher Sehnsüchte

Reggae fand Ende der 1970er-Jahre grosse Aufmerksamkeit im Westen. Nicht bloss karibische Klänge, sondern vor allem auch Musik aus Afrika südlich der Sahara war nun plötzlich sehr gefragt. Neben anderen namhaften westlichen MusikerInnen "entdeckte" etwa Paul Simon von Simon & Garfunkel afrikanische Musik für sich und reanimierte mit dem Album Graceland 1986 seine verkümmerte Karriere mit "frischen" Soundelementen aus Johannesburg. Die Musikindustrie kalkulierte das neue Interesse an "exotischeren" Gesängen und Rhythmen bewusst ein, die Verkaufszahlen von nicht-westlicher Folklore oder Pop stiegen rapide an. In der Logik der Musikindustrie wurde nun ein Genre benötigt, um Vermarktungsstrategien dieser Musik zu bündeln. 1987 trafen sich dazu RepräsentantInnen der Musikindustrie in London und schufen mit dem Begriff World Music eine Kategorie, die die damalige Hilfssparte International ersetzen sollte. [1] Die Promotionsstrategie der Branche ging auf, die Verkäufe von Weltmusik erlebten einen Boom, Kompilationen wurden auf den Markt geworfen und das US-amerikanische Branchenmagazin Billboard publizierte bald darauf seine ersten World Music Charts.


Klangwelten

Es drängt sich mir die Frage auf, ob die Kategorie Weltmusik nicht weit mehr über die westliche Perspektive auf die verschiedenen Musikkulturen aussagt, als der Begriff eine tatsächlich nützliche Bezeichnung für eine Sparte generiert. Folgt mensch der diskursiven Logik des Begriffs, werden die impliziten Dimensionen des Labels sichtbarer. Weltmusik suggeriert auf einer begrifflichen Ebene, die gesamte Welt durch diese Musik zu repräsentieren. Gemeinhin werden aber unter dem Label Weltmusik regionale und traditionelle Künstlerinnen aus der "Peripherie" subsumiert: lokale Folklore und besonders Fusionen mit westlichen Stilen. Die Musikstile des Westens werden - mit einigen Ausnahmen - nicht mit dem Label World versehen. Diese Auslassung pervertiert den (geographisch anmutenden) Begriff: Das Label bezeichnet also eher die Musik des Trikonts und nicht die der ganzen Welt, der Westen bleibt implizit ausgeschlossen. Stuart Hall betont, dass das westliche Denken durch eine Ideologie geprägt ist, die den "Rest" der Welt immerzu vom Westen abgrenzt und gleichzeitig das Denken von diesem "Rest" organisiert. Die Kategorisierung Weltmusik funktioniert meines Erachtens ebenfalls nach diesem Muster, indem es bestimmte Bilder auf die Musik der "Anderen" projiziert, Ein- und Ausschlüsse bewirkt und vergangene und gegenwärtige Wechselbeziehungen zwischen der Musikindustrie und peripheren Musiktraditionen ausblendet. Dabei sind die strukturellen Parallelen zu Normierungstendenzen in der Geschichte der Kategorie Geschlecht augenfällig: Die eurozentrischen Vorstellungen, die das "Fremde" exotisieren, stammen aus dem selben Gedankengut der europäischen Moderne wie die Konzeptionen, die Frauen als Geschlechtswesen und Männer als Kulturwesen denken.


Natürliche Musik

In erster Linie nivelliert die Kategorie distinkte Musiktraditionen und -produktionen. Dabei kommt es nicht bloss zu Absurditäten, wie dass etwa die Gipsy Kings und Youssou N'Dour unter dem gleichen Genre vermarktet werden. Die kategoriale Gleichschaltung durch das Label schiebt World Music-KünstlerInnen auch in eine "Ethno-Ecke", indem diese mit Mythen von Authentizität und Exotik operiert: Die so genannte erste Welt projiziert bestimmte Vorstellungen auf MusikerInnen aus dem Trikont. In der westlichen Vorstellungswelt existieren Bilder z.B. vom so genannten "edlen Wilden" oder von der vermeintlichen Ursprünglichkeit bestimmter Musiktraditionen, die dann an Weltmusik-KünstlerInnen festgemacht werden. Dies stellt ein essentialisierender Rückschluss dar, der die Musik der "Anderen" im gleichen Zug naturalisiert. Vielerorts bedienen sich KünstlerInnen geschickt dieser Bilder: Native Americans führen beispielsweise Tänze vor, die eben in den Augen der TouristInnen als "indianisch" gelten, die sie jedoch vor einem Jahrhundert so noch gar nicht praktizierten. Die eurozentrischen Phantasmen um die vermeintlich indigene Musik degradieren über die Naturalisierung die unter dem Label zusammengefassten Stile. Klassische Musik, Pop und Rock gelten dagegen gegenüber World Music als echte Kulturleistungen und deshalb als höherwertig.


Exotisches Erlebnis

In zweiter Linie macht sich der Westen durch die Genrebezeichnung ungewohnte Musik und sperrigere KünstlerInnen zugänglich. Beim Hören einer traditionell anmutenden Platte aus Marokko oder einer anonymen Trommlergruppe stellt sich mensch den "ursprünglichen" Orient respektive das "authentische" Afrika vor und exotisiert damit die Musikerfahrung. Die Stilbezeichnung bringt ein Begehren [2] des westlich-hegemonialen Subjekts zum Ausdruck, das einerseits das vermeintlich Exotische als Abgrenzung benötigt und andererseits eine wirkungsmächtige Ordnung durch die Kategorisierung herstellt. Dieses Begehren ist überdies patriarchal organisiert: Ein dominantes und privilegiertes Subjekt macht sein Begehrensgegenstand zum Objekt, das somit kein/e gleichberechtige/r AkteurIn mehr sein kann - analog funktioniert die Struktur der modernen Geschlechterverhältnisse. In Bezug auf die Erfindung der Kategorie Weltmusik kommt es somit zu neokolonialen Vereinnahmungen, indem die Musikindustrie vorgibt, sie "entdecke" "unverfälschte" Musik, die paternalistisch als schützenswert (v)erklärt wird - mit dieser Strategie wird dann das westliche Publikum beworben. Die abendländische Faszination am Fremden verhindert dabei eine vertiefte Auseinandersetzung mit der "anderen" Musik.

Falls Weltmusik-KünstlerInnen doch im westlichen Musikbewusstsein auftauchen, dann funktioniert diese Integration meist über eine ambivalente Zuweisung: Die britisch-tamilische Rapperin M.I.A. wird in der Popjournaille als "todschicke[s] Tanzmariechen" oder als "Fräuleinwunder" beschrieben, die dem Westen mit ihrer "revolutionäre[n] up-to-date Weltmusik" oder dem "tribalistische[n] Ausdruckstanz" einen "direkten und unbeschwerten Zugang zur Kultur der Dritten Welt" beschert. [3] Damit schreibt die Musikpresse M.I.A. eine kapitalistische Erfolgsgeschichte auf den Leib, naturalisiert sie jedoch gleichzeitig als die "authentische" "Andere" und als erotische Sängerin. Die Warenförmigkeit der Musikindustrie weiss die westliche Sehnsucht nach dem Exotischen bestens zu integrieren, indem die zugewiesene Differenz als Ressource eingesetzt wird.


Einseitige Geschäfte und Wahrnehmung

Pophistorisch kann die Kategorisierung von World Music auch als nachträgliche Kolonialisierung der Musikindustrie betrachtet werden. Die Selbstwahrnehmung der Geschichte der westlichen Musik ist durch blinde Flecken gekennzeichnet. Viele Publikationen zur Geschichte des Rocks blenden noch heute die nicht-weissen und nicht-westlichen Einflüsse gänzlich aus, indem sie die Bedeutung des Jazz, Soul, Rhythm & Blues, Funk oder Detroit House - um nur einige zu nennen - von afroamerikanischen MusikerInnen für die Entstehung der Rock-, Pop- und elektronischen Musik marginalisieren. Gleichzeitig wird Rockgrössen wie den Rolling Stones und Beatles das ganze Verdienst zugesprochen. Der westliche Popdiskurs hat Jazz, Rock und Pop längst vereinnahmt. Mit dem Begriff "westlicher Popdiskurs" ist hier nicht bloss das Sprechen über die Musik gemeint, sondern deren Entstehungs- und Produktionsbedingungen, die insbesondere im Falle der erwähnten Musikinnovationen in den USA in den Kontext einer Geschichte von Sklaverei und Segregation zu stellen sind. Derweilen schafft die relativ neue Kategorie World eine neue Strategie "fremde" Musik nutzbar zu machen. So macht die in den Händen von wenigen Marktriesen vereinte Musikindustrie gute Geschäfte mit einzelnen World Music-InterpretInnen. Verkürzt ausgedrückt, lässt sich sagen, dass das Geld selten dahin fliesst, wo die Musik herkommt - eine Kritik, die nicht erst seit der Veröffentlichung von Buena Vista Social Club bekannt ist. Ausnahmen gibt es zwar einige, aber das Muster bleibt bestehen.


Hybride Sounds

Schafft die Genrebezeichnung Weltmusik eher eine Distanz zwischen den vermeintlich westlichen und den nicht-westlichen Musikkulturen? Vermögen einzelne KünstlerInnen die Selbstgewissheiten der Musikindustrie oder der eurozentrischen Musikwahrnehmung zu brechen? Diese Fragen können hier nicht abschliessend diskutiert werden.

Vielerorts gilt der Begriff World Music längst als überholt, oder es wird mit grosser Selbstverständlichkeit globaler Pop produziert, der unabhängig von der Herkunft seiner MacherInnen funktioniert. Ohne ein naives Loblied auf die Demokratisierung des Internets singen zu wollen, können sich durch das Medium viele Bands und SängerInnen etwas unabhängiger von der Musikindustrie und vom Diktat des Mainstreams behaupten. Schliesslich ist Musikwahrnehmung immer von der Perspektive der/s Betrachtenden abhängig. Wenn auch die einseitigen Marktmechanismen in der Musikindustrie nicht gesprengt werden, so ist doch ein Aufbrechen der sonderbaren Genrebezeichnung und eine Auseinandersetzung mit deren westlich-partriarchalen Geschichte zu erhoffen.


Anmerkungen

[1] Taylor, Timothy: Global Pop. World Music, World Markets, London 1997.

[2] Diesen Hinweis verdanke ich Patricia Purtschert.

[3] In Reihenfolge der Zitate: Frank Sawatzki in: Musikexpress, 621, Oktober 2007. Alex Bohn in: Spex, 286, April 2005. Ebd., Sebastian Ingenhoff in: Intro, August 2007. Christoph Lindenmann in: Musikexpress, 621, Oktober 2007.


Autorin
Dani Oertle hat sich in einer Seminararbeit mit den skurrilen Zuschreibungen der Musikpresse zur Rapperin M.I.A. befasst.
dani.oertle@access.uzh.ch


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Quelle:
ROSA:38 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe Februar 2009, S. 20-22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2009