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HINTERGRUND/182: Hip Hop kann mehr als nur Rap (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012

Arm bis auf die Stimme

Hip Hop kann mehr als nur Rap

Von Silvia Flatho



Dank amerikanischen Rap-Größen wie Eminem, Snoop Dogg oder P. Diddy erfreut sich der Hip Hop-Sound der East- und Westcoast der USA, dessen Anfänge bis in die späten 70er Jahre zurückreichen, heutzutage einer globalen Popularität. Doch was genau steckt hinter dieser - vor allem von der Jugend zelebrierten - Kultur und wie stellt sie sich in Deutschland heute dar? Eine investigative Betrachtung anlässlich des "Graffitibox Summer Jam" vergangenen Sommer in Berlin.


Hip Hop - das ist deutlich mehr als ein reiner Musikstil. Dahinter verbirgt sich eine ganze Kulturszene, welche ihren Ausdruck neben dem Rap und DJing auch im Tanz (Breakdance), in der Kunst (Graffiti), der Unterhaltung (MCing) sowie in der mit der Musik verbundenen Mode und der eigenen Szenesprache findet.

Das Phänomen Hip Hop mit all seinen künstlerischen Expressionen, feierte seinen Ursprung in den Ghettos von New York und ging, historisch gesehen, aus der durch die defizitären Lebenslagen geschürten Unzufriedenheit der dort lebenden, marginalisierten Bevölkerungsschichten (primär Afroamerikaner und Lateinamerikaner) hervor. Ein musikalisches Zeichen des sozialen Aufschreis von unten, welcher seinen kritischen Ausdruck in den verschiedenen, oben genannten, Formen des Hip Hop fand. Dem Rap wird hierbei, aufgrund der sprachlichen Inhaltsfülle und der Unmittelbarkeit seiner direkten Ansprache, eine besondere Rolle zuteil. Rappen bedeutet so viel wie: Etwas zu sagen zu haben, sich mitteilen zu wollen, Aufmerksamkeit zu erregen, seine eigene Stimme - als das wohl günstigste, essenziellste und inhaltsreichste Instrument der Musik - zu erheben und gehört zu werden.

Hip Hop zeichnet sich, seiner Philosophie nach, primär durch Toleranz untereinander sowie Respekt füreinander aus. Eigenschaften, welche vor allem aus multiethnischen, hierachiearmen Kulturen hervorgehen - Zusammenhalt war schon immer auch eine Frage von sozialem Status. Die Gruppendynamik scheint diese Szene stark zu prägen, was auch im Sprachgebrauch deutlich wird, indem man seine Freunde oft in den Rang von Familienmitgliedern erhebt und als "Bruder" oder "Schwester" anredet. Ein weiteres Merkmal ist die unverblümte, meist weniger intellektuelle, dafür aber umso direktere Sprache: Ohne Umwege - mit einer oft gnadenlos provokanten Einfachheit - finden die Texte das Gehör ihrer Anhängerschaft. Die Szene polarisiert, wo sie nur kann: mit sowohl lauten, wutentbrannten, als auch zum Tanzen mitreißenden rhythmischen Tonsequenzen und Melodien; mit beachtlich poetischen Textpassagen sowie Empörung auslösenden Obszönitäten; mit einem künstlerischen Auftreten, welches entweder überschwänglichen Prunk oder bittere Armut verkörpert. Neben beruflicher Professionalität scheint die persönliche Authentizität und Lässigkeit, geprägt durch die der künstlerischen Inszenierung oft innewohnenden selbstironischen Sicht auf die Welt, eines der Hauptcharakteristika vieler Hip Hop-Künstler zu sein.

Hip Hop ist ein Kind des urbanen Lebens. In der Musik findet man hierfür durchaus Indizien: Die Texte behandeln zumeist Themen sozialer Ungleichheit und dessen Folgen sowie die Suche nach sozialer Zugehörigkeit und persönlicher Orientierung in der, durch die Schnelllebigkeit der Urbanität bedingten, individuellen Haltlosigkeit. Mit den Themen aus dem Bereich sozialer Disparitäten stellen die Künstler auch die politische Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Die ursprüngliche Perspektive des Hip Hop ist charakterisiert durch eine Sicht von unten auf die Gesellschaft. Meistens weist sie durch ihre junge Fan- und Künstlergemeinde einen hohen Aktualitätsbezug auf und ist somit eine interessante Zustandsbeschreibung der Lebenssituation von Unter- und Mittelschicht. Diese kommunizieren ihre Probleme, Wünsche, Ziele und Hoffnungen in den wortreichen Rap-Passagen, welche folglich als politischer Fundus gesehen werden können.

Der "Graffitibox Summer Jam" in Berlin, welcher im August stattfand, bot für viele Anhänger des Genres eine gelungene Plattform, um sich in den verschiedenen Kulturdisziplinen des Hip Hop mit anderen Künstlern zu messen. Seine individuellen Fähigkeiten im Rahmen der Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen, sowie die Möglichkeit, Konflikte und Meinungen über Musik, Körperbewegungen oder Illustrationen auszutauschen, stellt ein besonderes Merkmal der Szene dar. Diese scheint für jedermann frei zugänglich zu sein - unabhängig vom sozialen Status, ohne große finanzielle Hürden für teures Equipment oder aufwändigen Musikunterricht, ohne den Nachweis eines bestimmten Bildungsgrades. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass sich vor allem die untere als auch die mittlere Gesellschaftsschicht mit dieser Musik und seiner Kultur zu identifizieren weiß.

Die Hip Hop-Szene hat, verglichen mit anderen Musikszenen, sicherlich mit den meisten Vorurteilen zu kämpfen. Homophob, sexistisch, gewalt- und drogenverherrlichend, rassistisch und ordinär sei sie. Doch diese Kritik, welche auf einzelne Künstler und Gruppierungen durchaus zutreffen mag, wird auch medial angeheizt:

"Die Medien reflektieren den Musikgeschmack der Masse als Hip Hop und berichten oft nur von der Mainstream-Hip Hop-Szene, gerade durch Bushido wurde die Musikrichtung in Deutschland oft negativ konnotiert und mit Sexismus oder Gewalt verbunden. 'Richtiger Hip Hop' kennzeichnet sich dadurch aus, dass die Songs vom Leben der Rapper, von ihren Lebensumständen handeln. Ohne dabei ein Image aufbauen zu wollen, sondern einfach nur, um sich mitzuteilen. Mainstream-Hip Hop dagegen orientiert sich an der Masse, dem Geschmack des Hörerkollektivs." (Jerry Arnstadt, Chefredakteur der Online Plattform hip-hop-ministries.de)

Der relativ schrankenlose Zugang zur Szene und die damit verbundene Möglichkeit, ohne großen Aufwand Hip Hop-Musik zu produzieren, vereinfacht aber auch den Missbrauch dieses musikalischen Sprachrohrs. Da oft in der Muttersprache gerappt wird, sind die Rezipienten vor allem auch in bildungsferneren Schichten zu finden und stellen leicht beeinflussbare Adressaten derartig negativer Auswüchse des Hip Hop dar. Hinzu kommt, dass Hip Hop schon längst keine Subkultur mehr darstellt, sondern, zielgerichtet auf die breite Masse, ein lukratives Geschäft ist. Provokante Songs heben sich vom Durchschnitt ab und spielen Geld in die Kassen der Musikkonzerne.

Zusammengefasst gleicht die Hip Hop-Kultur einer Farbpalette und spiegelt die Vielfalt unserer Gesellschaft wider: unendlich facettenreich - von fröhlich greller Graffitikunst bis hin zu dunkel wirkenden Raptexten. Vor allem für die Jugend bietet sie eine Plattform des Austauschs, einen breit gefächerten Kreativraum, welcher Interessen und Talente fördern kann sowie eine sinnvolle Zeitbeschäftigung, fernab von durch Langeweile verursachten kriminellen Machenschaften darstellt:

"Wenn man Berlin so betrachtet, ist es ja grau, die ganzen Häuser. Die wollen einfach Farbe. Farbe macht Freude. Je mehr legale Wände es gibt, je weniger illegale Schmierereien entstehen. Wir ringen nach mehr Flächen, um uns künstlerisch auszudrücken: Unsere Aggressionen und Ängste. Beim Sprayen kann man Farben und Formen kombinieren wie es einem beliebt, seiner Phantasie freien Lauf lassen, auf die Fläche bringen, was in einem vorgeht, ohne es selbst genau zu wissen." (Kira Sama, 22 Jahre, Graffitikünstlerin)

Im Rahmen einer ethnisch und sozial bunt gesprenkelten Interessengemeinschaft, jenseits von gesellschaftlicher oder kapitalbedingter Exklusion, übt man sich in der Hip Hop-Szene nicht nur auf seinem speziellen künstlerischen Gebiet, sondern vor allem auch im Austausch und Umgang mit Menschen, in Toleranz, Respekt, Niederlagen und Erfolg. "Das schönste Bild? Ich bin immer unzufrieden, das fördert mich. Das hat mein Vater mir beigebracht, nie 100% zufrieden zu sein, mit dem was ich tue, denn damit bin ich immer in der Lage, einen Tick mehr drauf zu setzen."

Diese, mit den Kulturdisziplinen des Hip Hop einhergehende Kompetenzentwicklung mit Spaßfaktor, sollte vor allem im Jugendbereich durch Veranstaltungen, freie Flächen zur künstlerischen Entfaltung und dem Informationsaustausch über die Historie und das Potenzial der Kultur sowohl politisch als auch gesellschaftlich gefördert, statt vorschnell kategorisiert werden.


Silvia Flatho (* 1987) hat Medien- und Erziehungswissenschaften studiert.
(silviaflatho@googlemail.com)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012, S. 49-51
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2012