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HINTERGRUND/202: Schlager - Stiefkind der Sowjetkultur (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2014
Ruhr-Universität Bochum

DFG-Projekt beleuchtet den russischsprachigen Schlager von 1953 bis 1985
Stiefkind der Sowjetkultur

Von Dr. Maren Volkmann



Als Schlager bezeichnet man gemeinhin leichte, wenig anspruchsvolle Unterhaltungsmusik. Die Lieder sind gefällig, einfach gestrickt, haben triviale Texte. Dass Schlager aber durchaus revolutionäres Potenzial haben können, zeigt der RUB-Slavist Dr. Ingo Grabowsky in seinem Projekt "Estrada! Schlager und Gesellschaft in der Sowjetunion im Zeitraum von 1953 bis 1985", das von 2010 bis 2013 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde.


Welche Bedeutung hatte der Schlager für die sowjetische Bevölkerung? Diese Frage ist der Ausgangspunkt des Projekts, für das Ingo Grabowsky zahlreiche Zeitzeugen interviewt und Quellen in russischen Archiven bemüht hat. Er stellt die These auf, dass der Schlager für die Gesellschaft in der Sowjetunion ein Motor der Verwestlichung war. "Die Leute haben den Schlager benutzt, um sich mit seiner Hilfe Illusionsräume außerhalb der Sowjetunion zu erschaffen und sich aus der Tristesse wegzuträumen", erklärt der Slavist. "Der Schlager war ein Mittel, um diese durchideologisierte Welt überhaupt auszuhalten." Diese These steht der geläufigen Annahme gegenüber, dass Schlager das System stabilisieren.

Ingo Grabowskys Untersuchungszeitraum setzt 1953 mit dem Tod Stalins ein. Einige Jahre zuvor, 1948, hatte es eine staatliche Kampagne gegen den Einfluss westlicher Musik gegeben, sowohl in der Klassik als auch in der Estrada, der leichten Musik. Hielten Künstler sich nicht an die Vorgaben, wurden sie in Straflager gebracht. Aus Angst vor Zensur orientiert man sich deshalb um 1953 an bewährten Schemata, benutzt harmlose Liedtexte und gängige Klischees, komponiert nur noch Märsche oder langsame Walzer. "Diese Zeit wird auch als 'tödliche Langeweile' bezeichnet", so Ingo Grabowsky.

Nach dem Tod Stalins ändert sich einiges: Künstler fangen wieder an, Jazz zu spielen und ihn auch so zu nennen - unter Stalin war das verboten (Abb. 2). Ein bedeutendes Ereignis sind die Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die 1957 in Moskau stattfinden und zu denen 34.000 junge Menschen aus aller Welt zusammenkommen - auch Jugendliche aus dem Westen (Abb. 1). Diese bringen "ihre" Musik und "ihren" Modestil mit: Jazz, Rock'n'Roll (Abb. 3), Skiffle, gepaart mit Jeans und Lederjacken. Aber auch das Konzert des französischen Chansonniers Yves Montand ein halbes Jahr zuvor in Moskau hinterlässt Eindruck. Im Gegensatz zu den förmlichen Auftritten sowjetischer Künstler steht Montand nicht steif am Mikrofon, sondern bewegt sich, gestikuliert mit den Armen, tanzt, lächelt und kommuniziert mit dem Publikum. "Diese neuen Einflüsse kommen in das im Grunde völlig abgeschottete Land und brechen einiges auf", so Grabowsky. Sowjetische Künstler beginnen, sich an den westlichen Musikern zu orientieren.

Eine von ihnen ist die aus Polen stammende Edita Pjecha (Abb. 4). Sie ist die Erste, die mit ihrer eigenen natürlichen Stimme sowohl russische als auch ausländische Lieder singt. Sie hat einen leichten Akzent, der von den Russen als westlich eingeordnet wird, trägt Kleider, die über dem Knie enden, erzählt auf der Bühne Geschichten zu ihren Liedern. Pjecha benimmt sich freier, als es sich ein sowjetischer Mensch zu dieser Zeit erträumen kann. "Das war eine richtige Revolution", sagt Ingo Grabowsky.

Dass diese Entwicklung dem sowjetischen Staat nicht gefällt, liegt auf der Hand. Um ihr Einhalt zu gebieten, gibt es künstlerische Räte. Das sind quasi Zensurkommissionen, die es in allen Institutionen gibt, zum Beispiel in Konzertagenturen oder in der Schallplattenfirma Melodija. Diese künstlerischen Räte sind unter anderem dafür zuständig, ein Bühnenprogramm abzusegnen, bevor es zur Aufführung kommt. Sie nehmen einigen Künstlern die Existenzgrundlage dadurch, dass sie ihnen verbieten, weiterhin aufzutreten. Das geht so weit, dass Musiker emigrieren, darunter die erfolgreiche Sängerin Larissa Mondrus, die 1973 nach München geht.

Im Jahr 1963 kommt der Twist vom Westen in die Sowjetunion - das nächste Großereignis, das vonseiten des Staates bekämpft wird. Doch Bands finden immer wieder Methoden, dennoch Twist-Stücke zu spielen. Ein Sänger der Band von Edita Pjecha zieht auf der Bühne beispielsweise ein Steinzeitkostüm an, um so den Song "Let's twist again" zum Besten zu geben. Diese Inszenierung wird vom künstlerischen Rat als Parodie - sozusagen der westlichen Steinzeitmusik - interpretiert und darf deswegen aufgeführt werden. "Die Parodie war damals gängige Praxis", sagt Ingo Grabowsky. Der Twist wird zu einer Massenbewegung und ist nicht mehr aufzuhalten. Die sowjetischen Kommunisten fangen im Zuge dessen selber an, Twists zu komponieren.

Ab 1966 schwappen dann die Beatles in die Sowjetunion. "Die Beatle-Manie, die es im Westen gibt, ist im Osten noch stärker ausgeprägt", so Ingo Grabowsky. Die sowjetischen Menschen gründen eigene Beat-Bands und spielen Beatles-Lieder in russischer Übersetzung. Grabowsky: "Ein weiterer Schritt der Verwestlichung." Die Beat-Band "Die singenden Gitarren" aus Leningrad tritt vor 100.000 Menschen im Kirow-Stadion in Sankt Petersburg auf, kann ihre Musik aber nur über die schlechte Lautsprecheranlage des Stadions verstärken. Die Band ist kaum zu hören, aber das Publikum stört es nicht. "Die Leute waren vor allem an der freiheitlichen, westlichen Stimmung interessiert", erklärt Ingo Grabowsky.

Im Gegensatz zum Radio und Fernsehen, die ausstrahlen, was sie für ideologisch korrekt halten, müssen die staatlichen Konzertorganisationen ab Anfang der 70er-Jahre einen wirtschaftlichen Plan erfüllen - also Geld verdienen. Und das tun sie mit Künstlern, die westlichen Mustern folgen. Das ermöglicht es Musikern und Bands zum ersten Mal, die Musik zu machen, die sie wirklich machen wollen. Auf den Bühnen gibt es plötzlich viel mehr Freiheit als im Radio und Fernsehen, wo eine große Tristesse herrscht. Die großen Stars treten in Kultur- und Sportpalästen auf, wo bis zu 12.000 Personen hineinpassen. Dort geben sie am Tag teilweise fünf Konzerte nacheinander. Daneben finden "Bunte Abende" statt, zum Beispiel in Kulturheimen von Fabriken, bei denen neben den Schlagersängern auch Kabarettisten, Schauspieler und Zirkusartisten auftreten. An diesen Abenden werden auch stark ideologische Nummern aufgeführt - das nimmt das Publikum aber in Kauf für ein westlich geprägtes Unterhaltungsprogramm.

Bands gibt es in der Sowjetunion zu dieser Zeit weniger als im Westen. "Als Wissenschaftler ist es möglich, über die wichtigsten Namen einen ganz guten Überblick zu haben - im Westen wäre das kaum denkbar, dort gibt es eine viel größere Vielfalt", so Grabowsky. Während die Klassik anerkannt ist und Jobs in diesem Bereich gut bezahlt sind, ist die Estrada immer eine Art Stiefkind der Sowjetkultur. Die Musiker wohnen - wie jeder andere - in winzigen Kommunalwohnungen. "Glück hatten die, die noch fit genug waren, um von der Wende zu profitieren", sagt Ingo Grabowsky. Er hat Musiker getroffen, die inzwischen Millionäre sind, weil sie nach der Wende von Oligarchen für Auftritte gebucht wurden.

Für sein Projekt ist Ingo Grabowsky viele Male nach Russland gereist, um Zeitzeugen zu interviewen (Abb. 5). Relevante Personen fand er durch einen befreundeten Moskauer Radiomoderator, der durch Kontakte an die entsprechenden Telefonnummern kam. Mit über 25 Zeitzeugen hat der Slavist gesprochen, darunter Interpreten, Komponisten, Textdichter, Rundfunk- und Fernsehangestellte, Mitarbeiter der Plattenfirma, Fans. Neben den Interviews, die seine wichtigste Quelle waren, hat Ingo Grabowsky auch russische Archive aufgesucht, wo er sich unter anderem Protokolle der künstlerischen Räte angeschaut hat. "Die schriftliche Quellenlage, was diese staatlichen und parteilichen Institutionen angeht, ist recht dünn", berichtet er. "Hier wurde schnell etwas aus dem Archiv aussortiert, weil Schlager keinen hohen Stellenwert hatten." Daneben hat er sich natürlich den künstlerischen Werken und den Fernsehsendungen aus der damaligen Zeit gewidmet.

Es gibt zwar Chroniken und biografische Untersuchungen zu einzelnen Schlagerstars. Wissenschaftliche Literatur zum Thema sucht man ansonsten vergeblich. Ingo Grabowsky schließt diese Lücke mit seinem Projekt: Er hat einen wissenschaftlichen Artikel in der Zeitschrift "Osteuropa" veröffentlicht; in naher Zukunft folgen ein Beitrag für einen Sammelband sowie eine umfassende Monografie, in der er anhand von Schlüsseldaten die Geschichte des sowjetischen Schlagers abbildet. Außerdem hat er mit RUB-Studierenden ein fast zweistündiges Radiofeature produziert, das im Oktober 2013 im Dortmunder Campus-Radio Eldoradio ausgestrahlt wurde.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: "Für den Frieden - für das Leben - für das Glück": offizielles Plakat der Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Jahr 1954 in Moskau. Jugendliche aus dem Westen "infizieren" die sowjetische Jugend auf dem Festival mit ihrer Musik.

Abb. 2: Schlagerband aus dem Jahr 1958. Das Saxofon war bis 1953 verboten, fünf Jahre später ist es wieder auf den Bühnen zu sehen.

Abb. 3: Karikatur aus dem Jahr 1972. Wenn ein Sänger mit Verstärkung singen muss, gilt das in der Sowjetunion per se als schlecht. Der Idealtyp sollte eine Gesangsausbildung absolviert haben und seine Lieder im Stile der klassischen Opern- oder Operettensänger vortragen.

Abb. 4: Edita Pjecha zu ihrer Glanzzeit ... und im Interview mit Ingo Grabowsky

Abb. 5: "Errungenschaften des Staates" heißt eine sehr beliebte russische Fernsehshow, in der einzelne Schlagerstars gewürdigt werden. Neben dem Publikum, das darüber abstimmt, was der beste Song des Künstlers war, gibt es auch eine Jury, die ihre Meinung abgibt. Ingo Grabowsky war bereits in vier Folgen als Experte zu Gast und konnte dort Kontakte zu Zeitzeugen knüpfen.


Den Artikel mit Bildern finden Sie unter:
www.rub.de/de/stiefkind-der-sowjetkultur

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2014, S. 34 - 37
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit dem Dezernat Hochschulkommunikation
(Abteilung Wissenschaftskommunikation) der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Dezernat Hochschulkommunikation,
Abteilung Wissenschaftskommunikation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2014