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BERICHT/001: Generation Talk mit Achim Reichel und Rudi Dolezal in Hamburg (SB)


Ein wilder Geist muß her!

Einladungsplakat zum Generation Talk - Foto: © 2010 by Schattenblick

Einladung zum Generation Talk
Foto: © 2010 by Schattenblick

Zwei große Namen der Musikbranche konnten am 19.10.2010 in Hamburg für eine Veranstaltung der ganz besonderen Art gewonnen werden. Unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang H. Swoboda von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) produzierten Studenten der Fakultät Design, Medien und Information unter dem Titel Generation Talk ein Gespräch über das spannungsreiche Verhältnis von technischer Innovation, Kreativität und Kommerz im Musikgeschäft und über die Dramaturgie des Storytellings. Anlaß war die neue DVD von Musikerlegende Achim Reichel Solo mit Euch - mein Leben, meine Musik, gesungen und erzählt, produziert vom Musikfilmspezialisten Rudi Dolezal, die Mitte des Monats auf den Markt kam.

Der Abend, ein Mix aus eingespielten Ausschnitten aus der neuen DVD und Gesprächssequenzen vom halbrunden Sofa, fand nicht nur im Saale statt, sondern wurde zeitgleich per Livestream von den ELBE-STUDIOS vom Kunst- und Mediencampus in der Finkenau aus ins Internet übertragen. Der kleine Sitzungssaal lieferte die lockere Gesprächskulisse, die weite Welt sorgte für eine dem Thema und den Talkteilnehmern angemessene Öffentlichkeit.

Spezialist in Sachen Musikproduktion: der Filmemacher Rudi Dolezal - Foto: © 2010 by Schattenblick

Spezialist in Sachen Musikproduktion:
der Filmemacher Rudi Dolezal
Foto: © 2010 by Schattenblick

Der Wiener Musikfilmregisseur und -produzent Rudi Dolezal gilt als Pionier nicht nur von Musik-Videos, sondern auch Live-Konzert-Filmen und als der Fachmann auf diesem Gebiet überhaupt. Er arbeitete mit internationalen Künstlern wie Queen, Rolling Stones, David Bowie, Miles Davis, Michael Jackson, Bon Jovi, Whitney Houston, Bruce Springsteen oder Frank Zappa, aber auch für deutschsprachige Künstler wie Marius Müller-Westernhagen, BAP, Peter Maffay, Herbert Grönemeyer, Nina Hagen, Sandra Cretu, Trio, Udo Lindenberg, H-Blockx, Tic Tac Toe, Die Toten Hosen, Die Fantastischen Vier, Erste Allgemeine Verunsicherung, Wolfgang Ambros, Georg Danzer, Rainhard Fendrich und Falco - die Liste ließe sich verlängern. Zuletzt produzierte er das aktuelle Programm von Achim Reichel auf DVD. In einem neuen Format bringt dieser, in kleiner Besetzung musikalisch begleitet von seinen Weggefährten Berry Sarluis und Pete Sage, Musik und Anekdoten, Lieder, Erinnerungen und Reflexionen zusammen. Die DVD entstand aus einem Mitschnitt von zwei Konzerten aus dem Jahre 2009.

Musikerlegende Achim Reichel -Foto: © 2010 by Schattenblick

Musikerlegende Achim Reichel
Foto: © 2010 by Schattenblick
Achim Reichel zählt zweifellos zu den vielseitigsten und experimentierfreudigsten deutschen Musikern. Er ist Rocker, Barde, Chansonnier und Geschichtenerzähler. 1960 Mitbegründer der Rattles, einer der erfolgreichsten deutschen Rockbands in den 60er und 70er Jahren und eine der wenigen mit internationalem Erfolg, die als erste und einzige deutsche Band und zeitgleich mit den Beatles im legendären Star-Club auftrat, den Reichel später, wenngleich mit erfolglosem Ausgang, übernahm, auf Tour mit Little Richard und den Stones, Begründer der Gruppe Wonderland, begann er in den 70er Jahren eine eindrucksvolle Solokarriere.

Als einer der ersten sang er (wieder) in deutscher Sprache, ob Volkslieder, Shanties, Gedichte und Balladen deutscher Klassiker wie auch zeitgenössischer Lyriker, vertonte neben eigenen Texten Ringelnatz, Morgenstern und Fontane, Liliencron, Mörike, Glassbrenner oder Goethe, aber auch Peter Paul Zahl, Jörg Fauser, Jürgen Theobaldy, Kiev Stingl, Richard L. Wagner u.a. und wurde zum Vorbild für viele andere deutsche Künstler. Immer abseits vom mainstream, machte er seine Musik stets nach eigenem Gusto. Dolezal nennt ihn den großen deutschen Musikpoeten.

Zur Podiumsgespräch ebenfalls geladen waren die Journalistin Mehtap Özkan, der Musiker Alexander Bujack und der Student der Medienwissenschaften Nicolas Häfelinger. Moderiert wurde der Abend vom Musikjournalisten des Deutschlandradio Kultur Uwe Wohlmacher.


Blick in den Sitzungssaal der HAW -Foto: © 2010 by Schattenblick

Vom Sitzungssaal in die weite Welt
Foto: © 2010 by Schattenblick

Zweifellos war das Gespräch dominiert von den Giganten des Musikgeschäftes, Rudi Dolezal, der sich wort- und gestenreich in Szene zu setzen wußte, und Achim Reichel mit seiner ganz eigenen Art der Präsenz, die sich auch nach 50 erfolgreichen Jahren im Musikgeschäft nicht produzieren muß, um wirksam zu sein. Wollte man einen leider oft mißbrauchten Begriff benutzen, hier träfe er zu: Authentizität - der Mann macht einfach sein Ding. Und er war seinem Partner und Produzenten ein Widerpart auf Augenhöhe; ein freundschaftliches Gekabbel, wie der Hamburger sagen würde, aber mit ernstem Hintergrund. Als Dolezal nicht ohne Koketterie davon erzählte, daß er bereits mit 18 Jahren regieführend hinter der Kamera gestanden habe, konterte Reichel ganz trocken: "Man hat dich gelassen" und verwies damit zu Recht auf die Offenheit und Experimentierfreudigkeit einer Zeit, die Karrieren möglich machte, die sich unter den heutigen Umständen der Zurichtung von Künstlern unter Verwertungsgesichtspunkten viel schwieriger gestalten:

Ich glaube, wir beide haben das seltene Glück, möglicherweise im Gegensatz zu den Studenten, die hier anwesend sind, daß wir aus einer Zeit hervorgegangen sind, wo die künstlerische Freiheit, von der Du da sprichst, noch möglich war. Ich habe den Eindruck, im Moment wird da was bestellt, und genau das muß geliefert werden und wenn da so ein Freigeist daherkommt mit Ideen, da kannst du ganz schön auflaufen und oft wirst du gar nicht mehr reingelassen, weil das, was in den 70er, 80er Jahren innovativ und begeisternd war, da sind heute weite Bereiche der ganzen Medienlandschaft so betonmäßig: Wir wollen nur das, weil die Zuschauer, die wollen das, sonst schalten sie um und dann haben wir ein Problem.

Rudi Dolezal und Achim Reichel im Gespräch -Foto: © 2010 by Schattenblick

Nicht immer einer Meinung:
Rudi Dolezal und Achim Reichel
Foto: © 2010 by Schattenblick

Achim Reichel erinnerte sich daran, wie Künstler damals ganze Weltbilder von Jugendlichen geformt haben, nicht nur durch ihre Musik, sondern auch durch ihre Äußerungen. Man fand sich wieder, konnte sich identifizieren. "Der hat das auf den Punkt gebracht, genau so sehe ich das auch."

Heute dagegen lassen sich 50 Jahre Popgeschichte mit einem Mausklick aus dem Netz herunterladen. Die Arbeit des Künstlers werde nicht mehr geschätzt, denn was nichts kostet, ist auch nichts wert.

Er habe allerdings immer zu denen gehört, die sich weniger am Erfolg orientieren, als immer eine neue Herausforderung suchten und so entstand auch die Idee zum neuen Format des Storytellings, einer Abfolge von Liedern mit lockeren Erzählungen aus dem eigenen Leben. Die Zuschauer, so habe er festgestellt, wollten mehr von dem, was sonst meist nur als kleiner Einschub zwischen zwei Titeln stattfindet. Aber natürlich gäbe es auch solche, die fänden, daß er lieber singen sollte, anstatt "so viel zu labern". Das hat ihn nicht abgehalten - es allen recht zu machen, war seine Sache nie. Und das spontane Erzählen liege ihm allemal mehr, als eine Biografie zu schreiben. "In solcher Disziplin gefalle ich mir nicht. Und das kann ich wahrscheinlich auch nicht so gut."

Moderierte den Abend: Radio- und Musikprofi Uwe Wohlmacher -Foto: © 2010 by Schattenblick

Moderierte den Abend:
Radio- und Musikprofi Uwe Wohlmacher
Foto: © 2010 by Schattenblick

Wie läuft die Produktion einer solchen DVD von der Idee bis zum vollständigen Produkt, wollte der Moderator ganz im Sinne des Abends wissen.

Da war Rudi Dolezil gefragt und in seinem Element. Von der behutsamen Annäherung des Produzenten an den Künstler spricht er, der einfühlsamen, fast intimen Zusammenarbeit, die viel Vertrauen erfordert, damit der Künstler ganz bei sich sein kann und die Kameras vergißt, von der Notwendigkeit, den technischen Zuschnitt immer wieder neu auf den jeweiligen Künstler abzustimmen. Bei dem einen sind mehr Schnitte angesagt und Showeffekte, bei anderen soll es ruhiger zugehen, weil die Musik mehr aufs Zuhören ausgerichtet ist, oder auf eine Atmosphäre des Erzählens, wie bei Achim Reichel zum Beispiel, obwohl, so der Regisseur, man sich wundern würde, "wieviele Schnitte auch da drin sind". Was für eine Halle habe ich, welches Lichtkonzept ist das beste, welches Lied braucht bzw. verträgt eine Kamerafahrt? Um die richtige Balance geht es zwischen der Ruhe zum Zuhören, ohne abgelenkt zu werden durch "irgendwelchen Schnickschnack", und der "variety", damit es dem Publikum nicht langweilig wird.

Manchmal müssen Regie-Ideen durchgekämpft werden, da sei Konsequenz und Kompromißlosigkeit gefragt, immer aber gelte es, den Film nicht über den Künstler zu stellen. Man muß sich als Filmemacher selbst zurücknehmen, ohne auf Eingriffe zu verzichten.

Es gebe aber auch gelungene Beispiele dafür, daß sich ein Künstler "rücksichtslos" über den Produzenten hinwegsetze. Freddie Mercury etwa, der mehr als einmal bewies, daß ein Stück entgegen aller Expertenbehauptung, bei 3 Minuten Spiellänge sei die Schallgrenze erreicht, auch mit 7 ½ Minuten ein Nr. 1-Hit werden kann.

Rudi Dolezal erläutert die Besonderheiten des Musikfilmproduktion -Foto: © 2010 by Schattenblick

Rudi Dolezal in seinem Element
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Obwohl die Runde unter dem Titel Generation Talk stand, kamen die jungen Gesprächsteilnehmer erst nach rund 40 Minuten zu Wort. War es die Ehrfurcht vor den Großen der Musikgeschichte, die ihre Statements mit spannenden Beispielen aus ihrer persönlichen Geschichte zu spicken wußten oder eher die eigene Orientierungslosigkeit, oder war es die noch ungewohnte Selbstpräsentation vor einer gefühlten weltweiten Öffentlichkeit?

Wie findet man als angehender Kunstschaffender seinen Weg angesichts einer Medienwelt, in der es alles schon gibt, alles schon gemacht ist und schon einmal da war, war die Frage von Uwe Wohlmacher. Kann man überhaupt noch Neuland betreten, hat man den Freiraum, Entdeckungen zu machen? Wie kann man unter dem Druck ständiger Promotions und Quotierungen kreativ bleiben oder es gar erst werden?

Alexander Bujacks Antwort: "Man kann immer Neuland betreten, man muß nur drauf kommen." Nicolas Häfelinger meinte: "Kreativität ist nicht lernbar.", von Dolezal ergänzt: "Es gehört viel Ausprobieren dazu, viel Üben, das Spielerische ist unverzichtbar, das gibt es heute, wenn man Glück hat, in der Ausbildung." Ein Künstler müsse heutzutage nicht nur an seinen kreativen Qualitäten arbeiten, sondern auch daran, wie er sich promotet. "Wenn er morgens aufsteht, muß er sich fragen: Was kann ich heute für meine Karriere tun, und wenn er abends ins Bett geht: Was kann ich morgen für meine Karriere tun?" Eine DVD, bestätigt der Student, ist heute nicht mehr Kunstwerk, sondern Werbeträger.

Nicolas Häfelinger und Alexander Bujack -Foto: © 2010 by Schattenblick Die Journalistin Mehtap Özkan -Foto: © 2010 by Schattenblick

Mehr Zuhörer als Diskutanten
Foto links: Nicolas Häfelinger und Alexander Bujack
Foto rechts: Die Journalistin Mehtap Özkan
Foto: © 2010 by Schattenblick

Marktmechanismus und Kreativität - ein Widerspruch in sich und von Anfang an! Und noch einem Angriff sieht sich der Künstler ausgesetzt: dem der Technik.

Daß die Technik und vor allem das world wide web die Kulturlandschaft im allgemeinen und das Musikgeschäft im besonderen verändert hat, steht außer Frage. Musik ist nur noch ein Nebenprodukt, so Reichel, das fällt nebenbei so ab. Die Technik sei übergewichtig geworden nach der Maßgabe: Alles ist machbar und jeder kann's. Wer kein Gefühl für Rhythmus hat - die Technik wird es richten. So werde Technik zur Krücke für ein inadäquates Talent, kritisiert der Musiker. Alles ziele darauf ab, daß da draußen der Rubel rollt. Formate würden auf bestimmte Zielgruppen hin ausgerichtet, die man vorher ausforscht. "Es gibt keine Überraschungen."

Das grenzenlose Angebot führe auch zu einer großen Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit, man weiß gar nicht mehr, wo man klicken soll, so Mehtap Özkan, die selber am liebsten Klassik hört.

Gegen eine Verteufelung der neuen Medien und des Internet wandte Rudi Dolezal ein, das Netz gebe gerade Minderheiten die Möglichkeit, ihr Programm, ihre Musik zu veröffentlichen. Das habe es früher nicht gegeben. Und man könne Musik kreieren und produzieren über Ländergrenzen und Kontinente hinweg, ohne sich jemals begegnen zu müssen. - Aber wer will das schon, lebt doch gerade die Musik von der Begegnung und kann auf diese nur unter Verlust von Substanz verzichten.

Für Achim Reichel kann die Technik immer nur Zulieferer für Kreativität sein. "Technik ist nicht gleich Inhalt." Der Mensch werde sich selber ein bißchen unheimlich, weil er die Perfektion der Technik nicht erzeugen kann. Eigentlich, so sein Schluß, sollte das Scheitern kultiviert werden, "das nicht Perfekte, der verzweifelte Versuch." Die Rolling Stones waren Meister darin. "Die ganze Synthetik macht einen Schweißgeruch, den keiner mag!"

Uwe Wohlmacher weist auf die vereinfachte Herstellungsweise hin, die den Markt überschwemmt und verstopft. Und Alexander Bujack plädiert für die Freiheit, sich nach wie vor auch analoger Techniken zu bedienen. Dazu Dolezal: "Die Auswahl muß jeder selber treffen."

Achim Reichel: "Es gibt Leute, die sich an der Technik berauschen in der Art: Weißt du, wieviel Songs ich auf meinem iPod habe? - 5.000! Und wenn man dann fragt: Welchen findest du denn am besten?, heißt es: 5.000." Mehr Möglichkeiten bedeute nicht automatisch mehr Vielfalt, Freiheit könne auch ein 'Zurück in die Zukunft' sein. Reichel plädiert für kleine Clubs und gegen das Qualitätskriterium, ob jemand ein Stadion füllen kann.

Achim Reichel - Ratgeber ohne Verfallsdatum -Foto: © 2010 by Schattenblick

Ratgeber ohne Verfallsdatum
Foto: © 2010 by Schattenblick

Bei all den Schwierigkeiten, mit denen er junge Künstler heute konfrontiert sieht, will der Altrocker Mut machen.

Wer sagt, daß man die Welt immer wieder neu erfinden muß? Die Unbekümmertheit finde ich eigentlich super, sonst redet man am Ende nur davon, was man machen könnte, da kommt dann eine Flut von Möglichkeiten raus, aber keine Tat, das ist es. Es gehört ja auch eine gewisse Begeisterung dazu, Leidenschaft für die Sache, die ist mindestens genau so viel wert wie eine gute Ausbildung.

Ich habe mir, wenn ich einen Song schrieb, nie überlegt, ob das mal ein Hit wird. Man soll sich gar nicht darum kümmern, was mal war, sondern: In sich suchen, wo das Herz am meisten schlägt, wo es hin will und sich nicht um die kümmern, die sagen, das erinnert mich jetzt aber da und daran. Da muß noch ein wildes Herz, ein wilder Geist dabei sein."

Ein zweifelsohne zeitloser Ratschlag.

Daß eine Veranstaltung wie diese, in angenehmer Atmosphäre, mit hervorragender Besetzung, modernster Technik und kostenloser Bewirtung in einer Arena stattfindet, die sich einer stärkeren Vernetzung von Wissenschaft und Kultur mit der Wirtschaft und damit der Ausrichtung von Forschung und Kreativität an ihrer ökonomischen Verwertbarkeit verschrieben hat, mag manchen Kunststudenten nachdenklich stimmen.

Portal des Kunst- und Mediencampus in Hamburg -Foto: © 2010 by Schattenblick

Der Kunst- und Mediencampus in Hamburg
Foto: © 2010 by Schattenblick

22. Oktober 2010