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BERICHT/002: Barbara Thalheim - Lieder aus einem anderen Land (SB)


Konzert in Konau an der Elbe am 11. Juni 2011

Barbara Thalheim - © 2011 by Schattenblick

Barbara Thalheim
© 2011 by Schattenblick

Barbara Thalheim gehört zweifellos zu den profiliertesten deutschen Liedermacherinnen. Sie ließ sich Anfang der 70er Jahre an der staatlichen Fachschule für Unterhaltungskust zur Schlagersängerin ausbilden, um danach ein externes Kompositionsstudium an der Musikhochschule Hanns Eisler zu belegen, wo sie "ihr" Streichquartett kennenlernte, mit dem sie acht Jahre durch die Lande zog und mehrere Schallplatten aufnahm. Eine durchaus ungewöhnliche Kombination: Liedermacherin und Streichquartett. Seit 1977 hatte Barbara Thalheim regelmäßig Gastspiele im Ausland und veröffentlichte zugleich weiter Schallplatten in der DDR. 1990 entwickelte sie ein Programm mit der DDR-Rock-Band "Pankow". Jean Pacalet war seit 1993 der Name ihres kongenialen musikalischen Partners. Der französische Komponist und Akkordeonist wurde von der Sängerin von Paris nach Berlin gelockt. Viel zu früh ist er grad mal 60-jährig am 7. Juli 2011 verstorben. Barbara Thalheim läßt uns wissen: "Die Trauer um den besten Freund und großartigsten Musiker in meinem Leben wird mich mein restliches Leben begleiten."

Thalheims Texte sind ein Teamwork der besonderen Art. Es scheint so, als scheiterte sie oft an ihrem eigenen Anspruch. Songtexte sind keine Poesie. Vertonte Poesie ist selten songtauglich. Trotzdem hat sich Barbara Thalheim den Dresdner Poeten Michael Wüstefeld mit ins Text-Boot geholt, der mit ihr gemeinsam als Autor unterzeichnet. Nach über 20 veröffentlichten Tonträgern, dem autobiographischen Buch "Mugge", dem soeben erschienenen Buch "Vorm Tod ist alles Leben" und mehr als einem Dutzend Bühnenprogrammen kann Barbara Thalheim auf 40 Jahre hochkarätiger künstlerischer Tätigkeit zurückblicken.

Es wäre dennoch unangemessen, Barbara Thalheims Laufbahn als bloße Erfolgsgeschichte auszuweisen und damit die Widersprüche und Konflikte auszublenden, die ihrem Lebensweg und ihrer Kunst erst jenes einzigartige Profil verleihen, das im west-östlichen Kampf der Systeme Gestalt annahm. Nachdem sie 1980 mit einem in bundesdeutschen Medien veröffentlichten Text gegen das von der SED-Führung zwischenzeitlich verhängte Auftrittsverbot von DDR-Künstlern in Westeuropa protestierte, wurde sie aus der Partei ausgeschlossen und selbst wiederholt mit Auftrittsverboten belegt. Erst nach einer längeren Pause konnte sie wieder auf Tournee gehen und Schallplatten aufnehmen. Um des Erfolges willen zu jeder Spielart der Anpassung bereit zu sein, war ihr ebenso fremd wie der Wechsel ins andere Lager verhaßt, wo antikommunistische Tiraden großzügig honoriert wurden und sich die Abkehr von früheren Überzeugungen in vielerlei Hinsicht lohnte. Sie engagierte sich für eine sozialistische Gesellschaft, die sie in der DDR nicht realisiert fand, ohne sich deswegen mit dem Kapitalismus ins Bett zu legen.

Barbara Thalheim nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie die deutsche Singer-Songwriterin sein dürfte, die konsequenter als die meisten andern ihrer Zunft das Bestreben, sich aus der eigenen Herkunft und der politischen Zeit heraus zu begreifen und zu artikulieren, in ihre Lieder und Auftritte einbringt. Sie ist eine politische Liedermacherin im besten Sinn, indem sie aus persönlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen schöpft, ohne sich ideologischen Vorgaben anzudienen oder der Beliebigkeit der Standpunkte das Wort zu reden. Daß sie ihren Überzeugungen treu bleibt und kein Blatt vor den Mund nimmt, hat ihren Lebensweg zwangsläufig dornenreich gemacht. Da sie nie mit Leib und Seele im Westen angekommen ist, sich vor einem Jahrzehnt in ihrer Autobiographie als "Unbehauste" bezeichnet hat und die bundesrepublikanische Gesellschaft nach wie vor kritisch besingt, winkt ihr keine Absolution. Wer die Unruhe nicht scheut, Liedkunst nicht mit Konsum gleichsetzt und seinen kritischen Geist nicht an der Garderobe abgibt, kann sich freuen: Barbara Thalheim ist streitbar geblieben.

Veranstaltungsort Frohe Zukunft e.V. - © 2011 by Schattenblick

Veranstaltungsort Frohe Zukunft e.V.
© 2011 by Schattenblick

Wenngleich ihr jüngster Auftritt in dem kleinen Dorf Konau an der Elbe weder im Zeichen symbolträchtiger Koinzidenz geplant noch mit derlei Bedeutungsschwere befrachtet war, glich er doch einer Schnittstelle zweier durchaus verwandter Entwicklungslinien. Barbara Thalheim, die im Osten und Westen angeeckt ist und die Mühlen beider Systeme kennengelernt hat, gastierte an einem Ort, dessen Bewohner im Laufe seiner bewegten Geschichte gleichermaßen zwischen den Fronten zerrieben zu werden drohten. Obgleich am östlichen Elbufer gelegen, gehörte das Amt Neuhaus und mit ihm Konau traditionell zum Niedersächsischen. Bei Kriegsende 1945 war die Region der britischen Besatzungsmacht unterstellt, die das Gebiet jenseits des Flusses in einem Willkürakt an die sowjetischen Besatzer abtrat. Familien wurden auseinandergerissen, soziale Verbindungen aller Art gekappt. Die Elbe wurde zur innerdeutschen Grenze und Amt Neuhaus zum Sperrgebiet erklärt. Die Folge waren Einschränkungen im Alltag, Gebäudeabrisse und Zwangsaussiedlungen.

Wachturm der Expo-Austellung 'Grenzgänge' - © 2011 by Schattenblick

Geschichtspolitisches Exponat
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Nach der Angliederung der DDR an die BRD im Jahr 1990 formierten sich Bestrebungen, den Landstrich in den Landkreis Lüneburg rückzuführen. Wohl fehlte es nicht an skeptischen Stimmen, die angesichts nicht vorhandener Brücken über die Elbe vor gravierenden Problemen im Alltag warnten, doch kam es 1993 zum Beschluß, Amt Neuhaus wieder Niedersachsen anzugliedern. Das Amt für Denkmalpflege in Lüneburg stellte das vollständig erhaltene Marschhufendorf Konau unter Denkmalschutz, umfassende Renovierungsarbeiten polierten es auf und im Jahr 2000 war das Dorf Teil des Expo-Projekts Flußlandschaft Elbe-Wendepunkte. Heute präsentiert sich Konau als schmucker Ort mit restaurierten Fachwerkhäusern im landschaftlich schönen Biosphärenreservat Elbtalaue, der Besucher mit Interesse für Natur, Kultur und Geschichte anlockt.

Ausstellung des Fördervereins Konau e.V. - © 2011 by Schattenblick

Ausblick aus musealisierter Ortsgeschichte
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Auf den ersten Blick scheinen die historischen Verwerfungen überwunden und begradigt zu sein. Kleine Ausstellungen, ein Grenzweg und ein alter Wachturm erinnern an das durchweg als finster klassifizierte Kapitel DDR, wo vordem die LPG "Frohe Zukunft" Milchvieh hielt, befindet sich die gleichnamige Veranstaltungsstätte, die seit 2001 mit kulturellen Ereignissen Besucher von weither anzieht. Während etwa die Hälfte der Dorfbewohner zu den Alteingesessenen zählt, setzt sich die andere aus mehr oder minder gutbetuchten Zuwanderern zusammen, die das heutige Gesicht des Ortes prägen. Touristen, Naturfreunde und Kulturliebhaber - nicht selten in Personalunion - machen in Konau Station, das den wirtschaftlichen Aufschwung nicht unwesentlich seiner musealen Attraktivität zu verdanken hat. Daß das Dorf dank der Rückgliederung ins Lüneburger Land zu seinen Wurzeln zurückgekehrt ist, wie es in einem Prospekt des Fördervereins Konau e. V. heißt, muß mit einem Fragezeichen versehen werden. Die Menschen, die man im Wechselbad der Geschichte dieser Region nie gefragt hat und der Opferseite zurechnen muß, sind nicht dieselben, die heute von der Vergangenheitsbewältigung profitieren. Wenngleich es Überschneidungen in Gestalt einiger alteingesessener Familien gibt, sind es doch besser betuchte, bildungsbürgerliche und naturgenießende Kreise, die die Deutungshoheit übernommen haben.

Als dieser Landstrich nach Auflösung der DDR den alten Bundesländern zugeschlagen wurde, war dies ein einzigartiger Vorgang, der Züge einer Abrechnung mit dem besiegten Gesellschaftssystem nicht verhehlen kann. Längst mehren sich Zweifel, ob man wirklich so gut beraten war, auf die Karte der Westanbindung zu setzen. Mangels Brücken über die Elbe ist man auf eine Fähre angewiesen, die um 21 Uhr ihren Betrieb einstellt und bei schwierigen Windverhältnissen nicht verkehrt. Da Schulen, Behörden, Kirchspiel und oftmals die Arbeitsplätze auf der jenseitigen Elbseite liegen, läßt sich ausmalen, mit welchen Problemen die Bewältigung des Alltags verbunden ist. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß Konau und seine Umgebung zwar für eine überregionale Klientel, doch keineswegs für seine Bewohner im gepriesenen Westen angekommen sind.

Elbe bei Konau - © 2011 by Schattenblick

Elbe bei Konau
© 2011 by Schattenblick

Fast wäre das seit Monaten angekündigte Konzert ins Elbwasser gefallen. Barbara Thalheims langjähriger musikalischer Partner Jean Pacalet war bereits so sehr erkrankt, daß das in zahllosen Konzerten und Aufnahmen bestens aufeinander eingespielte Duo die schlimmsten Befürchtungen zu einem unerwarteten Ende weiterer gemeinsamer Auftritte schon seit geraumer Zeit ins Auge fassen mußte. Noch am 5. Mai hatte der Schattenblick die Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Akkordeonisten zusammen mit der Sängerin bei einer Veranstaltung in Berlin zu erleben [2]. Es st ihr anzumerken, daß sie, wenn auch tapfer, schwer an diesem Schicksalsschlag trägt. Nur auf Bitten der Veranstalterin Saskia Kuntzsch-Zschoch konnte sich Thalheim durchringen, das Konzert dennoch abzuhalten. Nicht als Ersatz für Pacalet, sondern in eigenständiger Präsenz wird sie dabei von dem Gitarristen Rüdiger Krause begleitet. Auch mit diesem Musiker, der die Sängerin noch in ihren Konzerten Ende der 1980er Jahre in der DDR erlebte, um später mit ihr gemeinsam die Bühne zu betreten, besteht eine seit längerem andauernde künstlerische Partnerschaft. Krause ist mit seinem ingeniösen, am Jazz orientierten Gitarrenspiel in diversen Formationen aktiv und unterrichtet darüber hinaus Improvisation an der Dresdner Hochschule für Musik. Aufgrund der Abwesenheit Pacalets wurde das ursprüngliche Vorhaben, den Auftritt für eine Live-CD mitzuschneiden, aufgegeben.

Den Veranstaltungsort in Konau hatte Thalheim eigens dafür ausgewählt, weil sie sich der Herausforderung stellen wollte, vor einem Publikum aufzutreten, dem sie zum größeren Teil unbekannt war. Wie der Schattenblick nach der Befragung diverser Gäste vor dem Konzert erfuhr, handelte es sich bei vielen der aus dem weiteren Umkreis dieses entlegenen Elbdorfes angereisten Zuhörern tatsächlich um Menschen, denen die Sängerin gänzlich unvertraut war oder die zwar ihren Namen, aber nicht ihre Musik kannten. Sie kamen, weil an diesem Ort stets hochwertige Kultur geboten werde, war mehrfach zu vernehmen.

Eine Scheune als Konzertsaal - © 2011 by Schattenblick

Eine Scheune als Konzertsaal
© 2011 by Schattenblick

Die für rund 150 Personen bestuhlte ehemalige Scheune ist bis auf den letzten Platz besetzt, als das Duo die Bühne betritt und das Konzert mit einem von Krause kunstvoll gespielten Jazz-Standard beginnt. Mit einer kurzen Erklärung Thalheims zur krankheitsbedingten Programmänderung, die sich auch auf die Auswahl der Stücke auswirkte, wurde mit "Insel Sein" ein gutgelauntes, zur sommerlichen Atmosphäre des späten Nachmittags bestens passendes Lied angestimmt. Doch schon das nächste, von Thalheim mit einer unterhaltsam beginnenden und tragisch endenden Geschichte aus ihrem Leben in der DDR eingeleitete Stück "Kinderland" versieht die gute Stimmung mit einem ersten Wermutstropfen nicht nur ihrer Betroffenheit. Es ist die Geschichte eines Verlustes, der schmerzt, auch wenn das Verlorene Seiten einer plötzlich gewahr gewordenen Fremdheit aufweist, die sich mit der Identifikation mit diesem Land nicht in Übereinstimmung bringen ließ.

Wem nur die Lieder Barbara Thalheims vertraut sind, der kann sie nun als begnadete Conférencieuse kennenlernen. Mühelos zwischen Komödie und Tragödie changierend bezieht sie das Publikum in Erlebnisse ein, die bei aller bekundeten Authentizität ins Aberwitzige zu entgleiten drohen, um dann mit einer gehörigen Portion Realsatire auf dem harten Boden allzu menschlicher Verirrungen aufzuschlagen. Dabei ist der Blick Thalheims auf ihre Umgebung nie distanziert verurteilend, sondern von einer Hinwendung respektive Streitbarkeit geprägt, die stets den Kontakt mit der Wirklichkeit sucht. Dies bleibt beim Publikum nicht ohne Wirkung, wird es doch von Anfang an so sehr einbezogen, daß seine abwartende Haltung schnell verfliegt und es mit lautem Lachen, konzentriertem Zuhören und begeistertem Applaus ein Zwiegespräch mit der Künstlerin beginnt.

Barbara Thalheim, Rüdiger Krause - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim, Rüdiger Krause - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim, Rüdiger Krause - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim, Rüdiger Krause - © 2011 by Schattenblick

Barbara Thalheim, Rüdiger Krause
© 2011 by Schattenblick

Ein besonderes Anliegen ist Thalheim das französische Chanson, das sie mit ihrer CD "herzverloren" gewürdigt hat. Wie alle anderen Titel dieser Arbeit wurde das Stück des Texters und Sängers Renaud Séchan "Je vis caché" nicht nur übersetzt, sondern den gesellschaftlichen Bedingungen der Bundesrepublik gemäß nachgedichtet. "Ich leb' versteckt" ist ein Abgesang auf die mediale Trash-Kultur, den zu hören einfach guttut, wenn die Menschenverachtung wieder einmal quotenträchtige Triumphe feiert und der Pranger sozialrassistischer Selbstgerechtigkeit auch noch um den Geschützstand kriegslüsterner Schreibtischtäter erweitert wird.

Doch es gibt auch Lichtblicke in der deutschen Kulturindustrie, wie Thalheim mit ihrem musikalischen Beitrag zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011 an den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal mitteilt. In Anbetracht dessen, was die Menschen in diesem nordafrikanischen Land zu erleiden hatten und haben, beeindrucken "Die Leiden", die Thalheim und Krause gemeinsam auf der Gitarre vortragen, durch das scheinbar unüberbrückbare Nebeneinander individueller Befindlichkeiten. Daß der Mensch ein soziales Wesen ist, der durch den anderen Menschen erst zur eigenen Existenz gelangt, wurde in einem Land wie Algerien vielleicht noch nicht so wirksam tabuisiert, daß keine Chance auf eine sozial gerechte Transformation der Gesellschaft mehr bestünde.

Thalheim an der Gitarre  - © 2011 by Schattenblick

Freude kann man nicht erzwingen
© 2011 by Schattenblick

Ein Höhepunkt im zweiten Teil des Konzerts, das anhand einiger exemplarischer Stücke dokumentiert werden soll, war zweifellos das Lied "Biographien". Die in einer Mischung aus gesprochenem Text und gesungenem Refrain präsentierten Lebensgeschichten des spanischen Internationalisten Pepe, des deutschen Neonazis Mirko und der von ihren Ehen entfremdeten Lisa entblättern sich wie Folien einer nur scheinbaren Schicksalhaftigkeit, ist doch das persönliche Scheitern innigster Ausdruck einer Vergesellschaftung, die auf die zersetzende Wirkung von Konkurrenz und Gewalt nicht verzichten will und sie daher fortschreibt.

Barbara Thalheim am Mikro - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim am Mikro - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim am Mikro - © 2011 by Schattenblick Barbara Thalheim am Mikro - © 2011 by Schattenblick

Die Sängerin in ihrem Element
© 2011 by Schattenblick

"Die Afrikanerin" entstand auf der kleinen Insel Gorée vor der Küste des Senegal. An diesem Ort des Gedenkens an die Verschleppung afrikanischer Sklaven nach Amerika begegnete Thalheim der 27jährigen Mariana, einer von mehreren miteinander verfeindeten Frauen eines Mannes, der in keiner Weise in der Lage ist, seine große Familie zu ernähren. Mariana faßte Vertrauen zu der Sängerin, die von ihr wissen wollte, was die unter elenden Bedingungen lebenden Insulaner eigentlich in den Weißen, für die Gorée nur eine Station ihrer luxuriösen touristischen Exkursionen sei, sähen. Herausgekommen ist ein Lied, das nicht anklagt, sondern die Autonomie eines Lebens unterstreicht, das bei aller Armut und allen Konflikten in seiner Eigenart und Unverwechselbarkeit nicht zu vereinnahmen ist:


die afrikanerin

daß ihr so viele schuhe habt
und müsst ihr barfuß gehn
euch eure sohlen blutig schabt
daß ihr gern ring und kette tragt
nicht um schön auszusehn
nur um zu zeigen dass ihrs habt
daß ihr euch vor kindern schützt
als machen Kinder blind
ihr tut als ob alleinsein schmückt
und wollt ihr doch ein Kind
fragt ihr was es euch nützt
ob gott und staat euch unterstützt
dass ihr statt liebe ehe macht
und wenn zerbricht das glas
ihr richter braucht zur scheidungsschlacht
dass ihr euch nicht gern legt ins gras
auch nicht zur liebesnacht
weil das die kleider schmutzig macht

Refrain
wenn ihr in weißen wannen liegt
wäscht mich der ozean
wenn ihr in teurem schaum euch wiegt
wiegt mich der salzorkan
wenn ihr mit cremes die haut belügt
riech ich nach meinem meridian
euch lässt die mode gleich aussehn
ich bin nur einmal da
ihr lasst in haare locken drehn
mich lockt schwarzafrika
ihr glaubt ans seligauferstehn
mir ist der himmel immer nah
er deckt mich zu und gibt mir ruh
hier in schwarzafrika

dass ihr durch berge tunnel grabt
und sie bequem durchfahrt
statt ihr den gipfel euch erjagt
dass ihr nichts lasst wie gott es gab
das nennt ihr lebensart
und heute ist euch gegenwart
dass ihr alles lesen könnt
und doch so viel nicht wisst
was ich weiß ohne alphabet
dass viel mehr wert uns ist
was nicht geschrieben steht
von mund zu mund im kreis sich dreht
dass ihr von großen tellern esst
satt schon vorm ersten biss
gelangweilt stochert im gebiss
dass ihr vergesst was hunger ist
kein essen ohne rest
das ihr in futterkübel presst

Refrain
wenn Ihr fürs nichtstun geld bekommt
leb ich vom baumwollbaum
wenn ihr euch an unsern stränden sonnt
spieln kinder euch den clown
wenn ihr uns mit almosen kommt
versteht ihr nichts von unserem traum
bei euch sind weiß die engelein
hier schwarz und namenlos
wer von euch kommt zur hölle rein
hier sind die teufel los
ihr lasst versichern stein und bein
ich brauch das nicht bin rettungslos
verwurzelt wie ein baobab
im schwarzen erdenschoß

komp.: b. thalheim, j. pacalet, text: b. thalheim, m. wüstefeld [1]

Rüdiger Krause an verschiedenen Gitarren - © 2011 by Schattenblick Rüdiger Krause an verschiedenen Gitarren - © 2011 by Schattenblick

Raumfüllender Vortrag eines Gitarristen
© 2011 by Schattenblick

Ausgesprochener Höhepunkt des Konzerts war der als letztes Lied angekündigte Titel "Die arme Schwester der Liebe". Der ebenfalls auf "herzverloren" erschienene Titel ist eine Nachdichtung des wohl populärsten Liedes der inzwischen aufgelösten französischen Band Noir Désir. Wo der Wind im Original "Le vent nous portera" auf eher träumerische und schicksalhafte Weise in kosmischen Dimensionen verweht, hat die Version Thalheims das schleichende, im Ergebnis um so desaströsere Gift der Eifersucht zum Thema. Von Rüdiger Krause mit der E-Gitarre auf so sparsame wie akzentuierte Weise auf das Wesentliche der einprägsamen Melodie gebracht greift der Refrain "Ich finde keine Ruh" auf das Publikum über und reißt es zu einem wohlverdienten Begeisterungssturm hin.

Publikum - © 2011 by Schattenblick

Konzentriert bei der Sache
© 2011 by Schattenblick

Nach zwei Zugaben, darunter das so anheimelnde wie wehmütige "Sehnsucht nach der Schönhauser", war das empathische Aufnahmevermögen des Publikums erreicht. Von dieser für viele Anwesende neuen Entdeckung im höchsten Maße begeistert strömten die Gäste ins Freie, wo die abendliche Stimmung zum Verweilen in kleinerer Runde einlud. Kontakte wurden geknüpft. Gleich mehrere Interessenten fragten, ob die Sängerin vielleicht auch in ihrem Heimatort für einen Auftritt zur Verfügung stände. Man erfuhr, daß ein Thalheim seit 30 Jahren verbundener westdeutscher Fan aus Hamburg mit 19 Freundinnen und Freunden angereist war, und konnte feststellen, daß deutschsprachiges Liedgut, wenn es denn künstlerisch und inhaltlich den Nerv der Zeit und ihrer Widersprüche trifft, keinesfalls als blutleeres Rudiment einer sich vermeintlichen überlebten Sprachkultur abgeschrieben werden kann.

Thalheim signiert Schallplatte - © 2011 by Schattenblick

Ein unzeitgemäßer Tonträger voller Erinnerungen
© 2011 by Schattenblick

Barbara Thalheim und Rüdiger Krause hatten in diesem von zeitgeschichtlichen Spuren gezeichneten Ort gezeigt, daß das andere Land, das mit der sogenannten Wende hätte Gestalt annehmen können, wenn es denn nicht von den antagonistischen Kräften materieller Konkurrenz und sozialchauvinistischer Verachtung zerrissen worden wäre, zumindest in einer Liedkultur fortlebt, die nicht um jeden Preis gefallen will und keine Mühe scheut, die echtes Zuhören stets voraussetzt. Wann, wenn nicht unter den Zeichen nationalistischer Restauration und neofeudaler Herrschaft, wären beißende politische Lieder, die Mut zum solidarisch geführten Streit machen, wohl wertvoller als gerade heute.

Fußnoten:

[1] Dieser Songtext und viele andere unter
http://www.barbara-thalheim.de/frame5.htm

[2] BERICHT/007: Erich Fried zum 90. Geburtstag - Plädoyer für politische Dichtkunst (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0007.html

Sonnenuntergang an der Elbe - © 2011 by Schattenblick

11. Juli 2011