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BERICHT/034: HipHop Open Air - die neue Klasse ... (SB)



Transparent 'Klassenfest gegen Kapital und Staat' - Foto: © 2018 by Schattenblick

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Karl Marx hat Geburtstag, und die anläßlich des 5. Mai anberaumten Pflichtübungen geschichtspolitischer Würdigung könnten nicht peinlicher sein. Wer nicht ohnehin Ignoranz vorschützt, betreibt die Ausdeutung seines Vermächtnisses mit allen möglichen Verrenkungen apologetischer Art. Das Gespenst der sozialen Revolution hat, allen Abgesängen und allem Triumphgeheul der vermeintlichen Sieger zum Trotz, immer noch so viel stoffliche Substanz, daß die Angst vor seiner Wiederkehr nicht unbegründet ist. Schlimmer noch, die sozialen Widersprüche in aller Welt haben derart an Explosivkraft gewonnen, daß zumindest in einigen Krisenregionen ein Funke reicht, um die Grundfesten der herrschenden Ordnung zu erschüttern.


Bühne auf dem Fischmarkt Hamburg St. Pauli - Foto: © 2018 by Schattenblick

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Auf dem harten Boden notgedrungener Prekarität wie dem kalten Pflaster urbaner Tristesse bedarf es des Auslotens der Frage, wie revolutionär Marx gewesen sein mag, nicht. Mit seinen Erkenntnissen zum gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, zu dem aus den Produktionsverhältnissen erstehenden Klassenantagonismus, der grundsätzlichen Problematik des Warencharakters von allem und jedem im Kapitalismus wie auch dem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur hat er die Voraussetzungen für einen grundstürzenden Erkenntnisprozeß und dessen umstürzlerische Konsequenz geschaffen. Wer damit konfrontiert ist, jeden Tag aufs neue die Frage nach dem Überleben zu beantworten, sich am Monatsende zwischen Miete und Essen entscheiden zu müssen, autoritären Herrenmenschen oder herablassenden Erfolgstypen ausgeliefert zu sein, der braucht keinen revolutionären Zorn zu entwickeln, sondern hat alle Mühe, ihm nicht auf die eigene Existenz bedrohende Weise freien Lauf zu lassen.

Sich zusammenzuschließen und zu organisieren empfiehlt sich schon allein deshalb, um die Wut in produktive Bahnen zu lenken, aber auch aufgrund der Angreifbarkeit jeder isolierten Existenzform. Dazu zu ermutigen ist die Absicht der Gruppe Roter Aufbau, wenn sie zum Mittel einer populären Jugendkultur greift, um die Menschen in ihrem Sinne zu agitieren und zu mobilisieren. Auch dieses Jahr wurde daher ein HipHop Open Air gegen Staat und Kapital als Klassenfest etwas anderer, nämlich widerständiger Art angeboten. Dieses Mal nicht am Schanzenpark, sondern auf dem Fischmarkt in St. Pauli, wo weniger als ein Jahr zuvor die Welcome To Hell-Demo gegen G20 mit großer Aggressivität von der Polizei zerschlagen wurde.


Transparente zu Marx und Merkel - Foto: © 2018 by Schattenblick Transparente zu Marx und Merkel - Foto: © 2018 by Schattenblick

Fotos: © 2018 by Schattenblick

So wurde der 200. Geburtstag von Karl Marx zum Anlaß einer Party, auf die sich nicht nur Angehörige bestimmter Szenen, sondern jeder Mensch begeben konnte, ohne über abschreckende Zugangsschwellen steigen zu müssen. Wie eine exotische, von schrägen und merkwürdigen Wesen bevölkerte Insel ragte das Klassenfest aus den Fluten der durch City-Marketing und Quartiersmanagement betriebenen touristischen Erschließung des Hafenrandgebietes in St. Pauli empor. Auf dem Kopfsteinpflaster eines Ortes, der alteingesessenen HamburgerInnen neben dem sonntäglichen Fischmarkt noch von den dort auf allerdings weit größerem Terrain stattfindenden Flohmärkten bekannt sein dürfte, fanden sich mehrheitlich jugendliche Menschen ein, um gemeinsam mit allen dazugehörigen Mitteln zu feiern. Für den Sound sorgte ein Line-Up auch überregional bekannter HipHopperInnen, deren mitunter recht kämpferischen Ansagen, aber auch nachdenklichen Töne desto besser in Ohren, Kopf und Bauch gingen, als an trink- und rauchbaren Stimmungsmachern kein Mangel zu herrschen schien.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Zombies
Foto: © 2018 by Schattenblick

Polizei war zumindest in direkter Nähe des Konzerts kaum präsent, und offenkundig gab es außer Sprechchören, mit denen der Aversion gegen die staatlichen Ordnungskräfte so unmißverständlich wie lautstark Ausdruck verliehen wurde, auch im Publikum wenig Neigung, den sonnigen Nachmittag mit körperlichem Einsatz bis zur Schmerzgrenze zu belasten. Statt dessen wurde dem Mitverfasser des Kommunistischen Manifestes wie den sich auf dieses Vermächtnis berufenden RevolutionärInnen auf der Bühne Respekt erwiesen, und das auf eine Art und Weise, die die dort auftretenden Acts als dem Underground der deutschen HipHop-Szene zugehörig auswiesen.


Zeigt den Mittelfinger - Foto: © 2018 by Schattenblick

King Kolera
Foto: © 2018 by Schattenblick

Zwischen Kampfansagen im Agitprop-Stil, düsteren Reflexionen über das elende Leben als Insasse der kapitalistischen Gesellschaft, Mackerposen im Gangsta-Style, abgründigen Exkursionen in die arrivierte Konsumgesellschaft und selbsterlittenen Berichten aus der Unwirtlichkeit der Stadtmaschinen war alles vertreten, was von der Vielfalt und Relevanz des HipHop-Underground zeugte. Auf dem Fischmarkt konnte das Publikum erleben, daß die in den letzten Wochen ins massenmediale Gerede geratene deutschsprachige Rap-Szene so vielfältig und divers ist wie jede andere Kunstform auch. Der Antirassismus zog sich wie ein roter Faden durch die Auftritte, gab es hier doch niemanden, der meinte, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft ausgrenzen zu müssen.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Pyro One, Blockwart & BasuR
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Berliner Rapper wie PTK, Tayler oder AOB Army of Brothers waren stark vertreten und vermittelten einen Eindruck davon, wie sehr man dort auf die jeweiligen Kieze der größten Metropole in Deutschland bezogen ist. Der ebenfalls an der Spree aktive Pyro One bestach durch ausgefeilte Texte und einen Rap ohne Soundbegleitung über die Zusammenhänge zwischen Staat und NSU. Wortschöpfungen wie "schwarz-gold-blut" treffen ins Schwarze dieses Komplexes manipulativer Herrschaftsicherung, für deren Blendwirkung es Anlässe und Bedarf ohne Ende zu geben scheint. Lokalheroen wie Reeperbahn Kareem standen den Berlinern in Sachen Direktheit und Authentizität in nichts nach - der Auftritt seiner Crew wurde im Publikum besonders enthusiastisch gefeiert.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Zynik, Celoviz
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Insbesondere Celoviz und Zynik, aber auch andere Rapper prangerten das enge Verhältnis der Bundesrepublik zum türkischen Despoten Erdogan und zu seinem Regime an. Was in den bunten Oberflächen massenmedialer Berieselung kaum Erwähnung findet, ist in der Wirklichkeit sozialer Kämpfe um so präsenter - mit dem Angriff auf das nordsyrische Afrin wurde nicht nur ein imperialistischer Krieg geführt, sondern auch ein aufstrebendes Gesellschaftsmodell mit fortschrittlichen Entwürfen zum Zusammenleben der Menschen wie der Überwindung patriarchaler Frauenunterdrückung zerschlagen. Selbstverständlich hat auch diese Bundesregierung kein Interesse daran, daß die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und systematisch die strukturell angelegten Herrschaftsverhältnisse gegenstandslos machen.


Und Partnerin - Foto: © 2018 by Schattenblick Und Partnerin - Foto: © 2018 by Schattenblick

King Veganismus One
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Selbst für die Befreiung der Tiere war auf der Bühne Platz. King Veganismus und eine im Programm nicht genannte Mitstreiterin führten den "veganen Jihad" ohne Rücksicht auf Verluste ideologischer wie sittlicher Art gegen "Wurstbitches" und andere Nutznießer tierischer Körpersubstanzen wie etwa der Plazenta von Hühnern. Bei allen Rundumschlägen in die Weichteile sozialer Empfindlichkeiten und der wortreich beschworenen Bodenlosigkeit sozialer Regression wurde doch deutlich, daß nicht etwa nur gegen Omnivoren Front gemacht wurde, sondern das System der Tierausbeutung gerade auch durch die stylish-vegane Konsumkultur und ihre aus Funk und Fernsehen bekannten Connaisseure aufrechterhalten wird. Unerschrocken gegen den vegan-vegetarischen Konter in den eigenen Reihen vorgehend, bezog King Veganismus One Stellung auf der Kommandohöhe eines Politkommissars, dessen satirische Verstiegenheit die Widersprüche tierbefreiter Reproduktion nicht besser auf die Spitze ihrer Negation und Aufhebung hätte nehmen können.


Rapperin mit Mikro auf Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Tice
Foto: © 2018 by Schattenblick

Daß Frauen in der deutschen HipHop-Szene immer noch stark unterrepräsentiert sind, ist beklagenswert, weil ihre Sicht der meist maskulinen Dinge ein klareres Bild auf die gesellschaftlichen Widersprüche am Beispiel der Geschlechterverhältnisse werfen würde. So gesehen war es ein Lichtblick, daß mit der Düsseldorfer Rapperin Tice in einer Line-Up von insgesamt 15 Acts wenigstens eine Frau mit dabei war, die den Erfahrungen vieler MigrantInnen, sich zwischen zwei Welten fremd zu fühlen, eine Stimme gab.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hamburger Lokalmatadore Boz & Reeperbahn Kareem & Kareeminell Fotos: © 2018 by Schattenblick


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

PTK & Tayler
Foto: © 2018 by Schattenblick

Wollte man sich auf die Suche nach einem revolutionären Subjekt begeben, dann wäre dieses Treffen keine schlechte Wahl. So unscharf und von Gewinnbeteiligungen aller Art korrumpiert das Bild der Arbeiterklasse 150 Jahre nach Veröffentlichung des Marxschen Hauptwerks "Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie" geworden ist, so sehr lassen die sozialen Kämpfe in aller Welt, die Bereitschaft imperialistischer Akteure zu neuen Waffengängen und die ökologischen, die weltweiten Wanderungsbewegungen zusätzlich zu Krieg und Unterdrückung anheizenden Verwüstungen der Natur erkennen, daß sich dieses Subjekt, wenn überhaupt, in den Fluchten und Abseiten gesellschaftlicher Wohlanständigkeit formiert. Ein HipHop, der die sich daraus ergebenden Fragen aufgreift, sie in einer Sprache artikuliert, die nicht nur in der Szene verstanden wird, und im Kontakt mit dem Publikum die Distanz des bürgerlichen Kulturbetriebes einebnet, könnte als Medium der neuen Klasse nicht besser geeignet sein.


Pyros vor der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick Pyros vor der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Fotos: © 2018 by Schattenblick


9. Mai 2018


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