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INTERVIEW/035: Deutscher Rock - Meine Geige, "Lüül" Lutz Ulbrich im Gespräch (SB)


Musikalische Wandlungen von Agitation Free bis zu den 17 Hippies

Interview am 27. Juni 2014 im Harburger Kulturcafé Komm du



45 Jahre nicht nur erlebte, sondern aktiv gelebte Musikgeschichte hinterlassen Spuren, die bei einigen Künstlern am Gesicht abzulesen sind. Nicht so bei Lüül, der mit über 60 Jahren so unverbraucht wirkt wie die Musik der 17 Hippies, deren Mitglied er seit Anbeginn dieser bunten Combo 1995 ist. Lutz Ulbrich, so der bürgerliche Name dieses Urgesteins der deutschen Rock- und Avantgardemusik, hat es nicht nötig, mit seinem großen Fundus an musikalischem Können und Wissen zu brillieren. Sein Interesse liegt, ganz wie in den Jahren, in denen er als Gründer der Berliner Band Agitation Free und als Musiker bei Ash Ra Tempel Impulse für die alternative deutsche Rockmusik setzte, in der lebendigen Auseinandersetzung mit der Kunst, die sein Leben bestimmt.

Musikmachen spielt nach wie vor die erste Geige für Lüül. "Und ich folge meiner Spur ..." hat der Musiker seine Autobiografie überschrieben, die an diesem Freitagabend im Kulturcafé Komm du in Hamburg-Harburg vorgestellt wird. Im Mittelpunkt der multimedialen Lesung, in der Lüül das Publikum anhand ausgewählter Texte, Songs und der Vorführung historischer Videoclips auf eine Tour d'horizon durch sein künstlerisches Schaffen mitnimmt, steht denn auch nicht so sehr die eigene Person als die Umstände und Begebenheiten einer Epoche der Rockmusik, die in der zweiten Hälfte der 60er und zu Beginn der 70er Jahre am Zenit ihres kreativen Potentials stand.

Was damals an Experimentierlust, Spielfreude und kollektiver Praxis freigesetzt wurde, mag in seinen Ergebnissen nicht immer höchsten Ansprüchen musikalischer Virtuosität genügt haben. Allein der Elan und Geist des Aufbruchs in eine, so verhieß die Rebellion der Jugend und die Erkundung neuer Lebensformen, freiere, friedlichere und gerechtere Welt machen diese Zeit für viele, die dabeigewesen sind, unvergeßlich. Ein wenig vom Spirit dieser Tage weht auch durch die Geschichten, in denen Lüül von den wilden Anfängen im Undergroundmilieu der Frontstadt Berlin, einem denkwürdigen Auftritt in einem römischen Amphitheater in Südfrankreich, seiner Begegnung und Zusammenarbeit mit der legendären Sängerin Nico und anderen außergewöhnlichen Ereignissen wie etwa dem Besuch bei einem japanischen Mäzen, der den Musiker in einem Wachsfigurenkabinett verewigte, erzählt.

So entstand in der gemütlichen, fast wohnzimmerartigen Atmosphäre des Harburger Kulturcafés eine bunt schillernde Blase aus Musik und Geschichten. In ihr konnte das Publikum durch eine Zeit reisen, die nicht der nostalgischen Verklärung bedarf, um als bislang ungenutzte Chance auf ein anderes Leben glaubhaft zu werden. Allen Behauptungen von der Unwiederbringlichkeit der hoffnungsfrohen Seiten dieser Epoche kann entgegengehalten werden, daß Vitalität und Imaginationskraft, die die Rückschau auf historische Aufbrüche in eine bessere Welt entfachen können, immer auch den Keim ihrer Verwirklichung enthalten.

Vor dem Soloauftritt des Künstlers nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, mit Lüül einen Zeitzeugen zu befragen, der über Her- und Hinkunft deutscher Rockmusik aus eigener Anschauung Auskunft erteilen kann.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Lüül
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Lüül, du hast deine 2006 veröffentlichte und inzwischen vergriffene Autobiografie neu herausgegeben. Warum hast du den Titel des Buches verändert?

Lüül: Die Orginalausgabe war irgendwann vergriffen, der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf wollte es aber nicht noch einmal herausbringen und hat mir die Rechte überlassen. Ich wollte den Titel schon immer so haben, wie er jetzt ist. "Und ich folge meiner Spur ..." ist ein schöner Titel, der auch meinem Leben entspricht. Schwarzkopf & Schwarzkopf wollte im Untertitel alles mögliche unterbringen, damit die Leute auch wissen, worum es geht, weil "Lüül" nicht jedem bekannt ist. Deshalb stehen in der Orginalausgabe Agitation Free, 17 Hippies und so weiter, obwohl ich über die 17 Hippies damals gar nicht schreiben wollte. Jetzt habe ich aber alles in eigener Hand. Meine Frau, die Lektorin ist, und ich haben alles noch einmal überarbeitet und gekürzt und auf die Musik fokussiert. Daher erscheint das Buch nun auch mit neuem Titel.

SB: Geht es in dem Buch vor allem um dein eigenes Leben, oder verstehst du dich auch als Chronist der Entwicklung der Musik, mit der du angefangen hast?

Lüül: Nein, als Chronist sehe ich mich nicht, aber natürlich bin ich Zeitzeuge über Jahrzehnte. Das ist auch ein Grund dafür, daß ich mich hingesetzt habe, das Buch zu schreiben. Die Idee kam mir vor zehn Jahren, als wir mit den 17 Hippies Konzerte in Deutschland, Frankreich und Spanien spielten. Ich war schon 20 Jahre zuvor mit einer jeweils anderen Band dort gewesen und konnte immer irgendwelche Geschichten aus dieser Zeit erzählen. Das stieß bei den anderen immer auf großes Interesse, so daß sie meinten, ich sollte das doch einmal aufschreiben. Als ich dann 50 wurde, sagte ich mir, nun kannst du auch einmal zurückschauen. Ich habe schon im Alter von zwölf Jahren mit der Musik angefangen, und seitdem ist viel geschehen.

SB: Es gibt einen großen Fundus an seit den 60er Jahren in Deutschland produzierter Rock- und Avantgardemusik. Die kulturgeschichtliche Verarbeitung im deutschsprachigen Raum scheint dieser Entwicklung jedoch nicht unbedingt gerecht zu werden. Einige dieser Gruppen sind sogar in der englischsprachigen Welt bekannter als hierzulande, wie etwa ihre Einträge in Wikipedia zeigen, die dort mitunter um ein Mehrfaches umfangreicher sind als in der deutschsprachigen Ausgabe. Wie erklärst du diese relative Vernachlässigung in der Würdigung der eigenen Musikkultur?

Lüül: Es ist eigentlich eine Schande, aber die Gründe dafür kann ich auch nicht erklären. Es heißt immer, der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Es erging mir mit verschiedensten Gruppen so, ob jetzt Ash Ra Tempel, Agitation Free oder auch Nico, mit denen ich gespielt habe. Auch mit den 17 Hippies hatten wir eher im Ausland Erfolg. Vielleicht waren die Leute dort einfach offener als hier, obwohl wir alle aus Deutschland kommen. Möglicherweise ist es aber umgekehrt auch so. So haben Leute aus der amerikanischen Jazzszene hier große Erfolge, während in den USA kein Hahn nach ihnen kräht. Bei uns verhält es sich mit dem Krautrock so. Die werden weltweit abgefeiert, aber in Deutschland ist es immer noch ein Nischenprodukt.

Lüül auf Hocker mit aufgeschlagenem Buch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Lesung nicht nur in eigener Sache
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Das Label "Krautrock" diente im Grunde der Kommerzialisierung, weil unter diesem Etikett ganz verschiedene Stile und Gruppen versammelt waren. In der Bundesrepublik wurde der Eindruck erweckt, daß deutsche Gruppen den angloamerikanischen Bands eigentlich nur nacheifern und nicht mehr als Kopien ausländischer Musikrichtungen sind. Wie hast du das damals erlebt?

Lüül: Wir mochten den Begriff "Krautrock" nie, und von uns hat ihn auch keiner benutzt. Das taten vielleicht die Engländer oder Amerikaner, aber wir Musiker mochten ihn nicht. Später hat er sich als Gütesiegel etabliert, und daher benutzen wir ihn nun selber. Es stimmt schon, daß fast alle Bands, die in Deutschland anfingen, erst einmal kopiert haben, was aus Amerika und England kam. Irgendwann aber haben die meisten einen eigenen Weg gefunden. Gruppen wie Amon Düül, Popol Vuh oder Can, die ganzen Berliner, Klaus Schulze, Tangerine Dream und wir haben versucht, eine eigene musikalische Sprache zu finden. Aber natürlich gab es immer Vorbilder. Auf uns übte Pink Floyd einen bahnbrechenden Einfluß aus, ähnliches galt auch für die Westcoast Bands Byrds und Grateful Dead, und dann waren da natürlich auch noch die Allman Brothers. Dazu kam noch, daß viele deutsche Bands im Gegensatz zu den amerikanischen und englischen Gruppen ohne Gesang gearbeitet haben. Auch das war ein Markenzeichen, warum auch immer.

Ich hatte früher einmal die Idee, daß Berliner Bands wie wir in der Mauerstadt eingeschlossen waren und durch ihre Musik in die Weite schweifen wollten, weshalb wir auch so lange Improvisationen machten. Aber das Argument läßt sich natürlich nicht halten, denn es gab auch in Köln, München und anderswo Gruppen, die auf diese Weise Musik machten. Aber die hauptsächlichen Einflüsse kamen anfangs schon aus den USA und England.

Gruppenbild mit sechs Musikern - Foto: © by Lutz Ulbrich

Agitation Free in den frühen 70er Jahren
Foto: © by Lutz Ulbrich

SB: Welche Bedeutung mißt du heute diesem hohen Anteil an Improvisation und freier Form in der Musik zu? Hat man das aus guten Gründen hinter sich zurückgelassen, weil es keine musikalische Relevanz hatte, oder steckt da ein kreatives Potential drin, das sich nur nicht so leicht vermitteln läßt?

Lüül: Nun, wir waren damals nicht in den Hitparaden, dazu war die Musik zu spröde oder nicht radiotauglich genug. Wir haben auch nie daran gedacht, Singles zu machen. Es war gar nicht in unseren Köpfen, daß man eine Nummer produziert, die nur drei Minuten lang ist, weil wir nicht kommerziell gedacht haben. Aber ich will gar nicht in Abrede stellen, daß das eine sehr musikalische Entwicklung und auch aufregende Zeit war. Gerade für Agitation Free kann ich sagen, daß wir ernsthaft versucht haben, neue Sounds zu entwickeln und neue Klänge zu suchen. Dann kam der Synthesizer auf, ein Instrument, das vorher gar nicht denkbar gewesen war, und kreierte wirklich Sounds, die man vorher noch nie gehört hatte. Auch bei der elektrischen Gitarre hat man mit Echo und allen möglichen Effekten versucht, Töne zu verfremden und weiterzuentwickeln. Das war uns schon ein Auftrag und eine Lust und ein Abenteuer dazu, nach neuen Klängen zu suchen.

Wir waren einfach sehr offen für alles, Ende der 60er war ja die ganze Welt in Bewegung. Dann kamen noch indische und asiatische Einflüsse durch die Beatles und insbesondere George Harrison hinzu. Man hörte sich stundenlang Sitar-Konzerte an, alle haben gekifft und Trips genommen. Alles Neue war erst einmal gut und sensationell. Wir waren jung, da hatte man sowieso keinen breiten musikalischen Horizont und konnte vieles nicht einschätzen. Bei uns im speziellen kam noch hinzu, daß wir im Electronic Beat Studio in Berlin die Möglichkeit hatten, über den Avantgarde-Komponisten Thomas Kessler, der es leitete, viele seiner Kollegen aus der Avantgarde-Szene kennenzulernen. Er brachte uns mit der Neuen Musik und der Minimal Music in Kontakt, wie zum Beispiel Steve Reich und Terry Riley, die wir teilweise kennengelernt oder deren Stücke wir gespielt haben. Wir haben das alles aufgesaugt und versucht, etwas Eigenes daraus zu machen.

SB: Kannst du dir vorstellen, daß die Idee, bestimmte formale Zwänge zu überwinden und alles mögliche auszuprobieren, woraus sich im nachhinein sehr viel entwickelt hat, ohne halluzinogene Substanzen überhaupt entstanden wäre?

Lüül: Diese Drogen haben auf jeden Fall eine wichtige Rolle gespielt. Wir haben immer gekifft, bevor wir improvisierte Musik gespielt haben, später wurde auch ab und zu ein Trip eingeschmissen, und natürlich gab es bei einigen dann auch harte Drogen. Gerade halluzinogene Drogen waren Bestandteil der ganzen Szene und auch bei uns Musikern. Ich glaube nicht, daß diese Musik so entstanden wäre, wenn wir diese Drogen nicht genommen hätten. Wenn wir allerdings im Studio waren, haben wir uns darauf geeinigt, nüchtern zu spielen, und das ging auch. Aber für das Öffnen des Kopfes und des Gefühls hatte das schon großen Einfluß.

SB: Heute spielst du in einer Gruppe, die sich 17 Hippies nennt. Bei manchen Leuten ist der Begriff des Hippies schon ein halbes Schimpfwort. Wie siehst du diese Art von Gegenkultur aus heutiger Sicht? Gibt es vielleicht noch Kontinuitäten oder Dinge, auf die zurückzukommen sich lohnen würde?

Lüül: Auf jeden Fall. Ich sehe vielleicht nicht mehr aus wie ein Hippie, aber im Geist bin ich es immer noch. Es steht für gewaltfrei, für neue Ideen, für Liebe und Frieden. Das sind schon gute Dinge, die man damals versucht hat, ins Leben zu bringen. Gerade in dieser Welt des Krieges, die damals und heute noch immer existiert, war das eine wahnsinnig wichtige Gegenbewegung. Auch die Grünen sind ja ein wenig aus dieser Idee heraus entstanden. Bei Entwicklungen wie alternativen Energien und gemeinschaftlichem Wohnen ist zwar einiges verloren gegangen, weil es vielleicht zu extrem war, aber es wurden dennoch wichtige Impulse für unsere Zeit freigesetzt. Ich weiß, daß Hippies von vielen für naiv gehalten werden. Natürlich war es naiv, aber es hatte auch eine Form von Unschuld. Mir ist das viel lieber, als total abgeklärt und was weiß ich wie klug, aber menschlich fragwürdig zu sein. Da sind mir naive Leute lieber, die friedlich und tolerant durchs Leben gehen.

SB: Elektronische Musik wie von Ash Ra Tempel, die man vielleicht mit Tangerine Dream und Popol Vuh in deren Frühphase vergleichen könnte, wird heute in der Popgeschichte durchaus als Errungenschaft gefeiert. Hättest du dir diese Entwicklung damals vorstellen können?

Lüül: Ja, es war eine erstaunliche Entwicklung, die uns alle überrascht hat. Natürlich haben Cluster schon damals mit Brian Eno zusammen Musik gemacht, und man bekam immer mehr Feedback aus England. David Bowie zog nach Berlin, und es gibt einige Gruppen, die sich auf diese Musik beziehen oder zumindest große Sympathien dafür haben. Wir erfuhren erst später, daß viele Künstler aus England und den USA diese Musik als sehr inspirierend erlebten, weil sie so mutig und unkonventionell war. Man muß sich einmal die Bundesrepublik von damals vorstellen. Agitation Free trat 1972 bei den Olympischen Spielen in München im offiziellen Programm eines Events auf, auf dem heute nur noch aalglatter Pop gespielt wird.

An einem Kachelofen sitzend - Foto: © by Lutz Ulbrich

Nico und Lüül 1974
Foto: © by Lutz Ulbrich

SB: Die berühmte Platte "The Velvet Underground and Nico" erschien schon 1967. Da wurde ein ganz anderer Ton angeschlagen als die lebensfrohe Musik der Hippies. Woher kommt dieser Einfluß des Düsteren, fast Verzweifelten, der sich bei Nico auch in ihren eigenen Produktionen stark niedergeschlagen hat? Entspringt das einer persönlichen Geschichte oder wurde da etwas Gesellschaftliches, Zeitgeistiges transportiert?

Lüül: Wenn es eine Bewegung gibt, gibt es immer auch eine Gegenbewegung dazu. Die Doors, die wir sehr gemocht und viel gehört haben, waren auch eine eher düstere Band. Bei Nico weiß ich einfach, daß die Nachkriegszeit auf sie ganz persönlich Einfluß hatte. Wenn so ein junges Mädchen mit fünf Jahren ins verbrannte Berlin kommt, und alles stinkt nach Leichen, überall stehen Ruinen, dann sind das natürlich Eindrücke, die jeder auf seine Weise verarbeitet. Ich glaube schon, daß Nico diese Erfahrungen in ihren Liedern verarbeitete, sie wieder entdeckte und auch ein Faible dafür entwickelte. Ich glaube aber nicht, daß Nico politische oder gesellschaftliche Gründe für ihre Musik hatte. Als ich neulich bei der David-Bowie-Ausstellung war, wurde dort ein Velvet-Underground-Buch präsentiert. Darin beschreibt sie sich als Hippie, obwohl sie bei Velvet-Underground war. Lou Reed und John Cale standen eher für die individualistische Gegenbewegung, und trotzdem haben sie zusammen Musik gemacht.

SB: Bei Velvet Underground kam auch eine gewisse Intellektualität hinzu. So hatte John Cale Musik studiert und eine klassische Ausbildung erhalten. Mitglieder der Gruppe Can hatten bei Karlheinz Stockhausen studiert. Rockmusik hingegen hatte einen eher proletarischen, zum Teil autodidaktischen Hintergrund. Wie war das bei Agitation Free?

Lüül: Zum Beispiel stieß Michael Hoenig als blutiger Laie zu uns. Er hatte keine Ahnung von irgendwelchen Instrumenten, und dann kam der Synthesizer auf, der wie für ihn gemacht war. Mit dem Instrument gab es keine Vorgaben, man konnte wirklich auf Entdeckungsreise gehen und mußte sich nicht nach jemandem richten oder nach Noten spielen. Dann haben wir ein O-Ton-Hörspiel gemacht, das war damals sensationell. Wir waren zusammen in der Lüneburger Heide bei einem Freund, wo eine Woche lang ein Mikrofon hingestellt wurde. Alles, was wir redeten, machten und an Musik spielten, wurde aufgezeichnet. Dann wurde unheimlich lange über alles diskutiert, das war immer ganz wichtig. Heute wird eher entschieden und nicht so viel gequatscht.

SB: Wenn man die Biografien der Bands dieser Zeit betrachtet, fällt auf, daß die Szene von Männern dominiert wurde und es sehr wenig Frauen gab.

Lüül: Ja, das war schon immer schlecht. Es gab einmal die Musikerzeitschrift Riebes Fachblatt. Da habe ich Anfang der 70er einen Artikel mit dem Titel "Frauen an die Front" hingeschickt. Frauen waren eigentlich nur Sängerinnen, ansonsten spielten sie als Musikerinnen keine Rolle. Wir haben damals eine reine Frauenband in Berlin unterstützt, denen wir Unterricht und Instrumente gegeben haben, weil wir das immer toll fanden, wenn Frauen Musik machen. Inzwischen hat sich das Bild ein bißchen gewandelt. So gibt es heute viele weibliche Singer/Songwriter, aber immer noch wenige gute E-Gitarristinnen. Und Schlagzeugerinnen sind wirklich Ausnahmen. Damals gab es nur Renate Krötenschwanz, die Sängerin von Amon Düül, oder Inga Rumpf von Frumpy, viel mehr war da nicht. Daß es so lange dauerte, bis die Frauen mitmischen, finde ich schade. Bei den 17 Hippies hatten wir anfangs ganz viele Frauen, so daß das Verhältnis eine Zeitlang ausgewogen war. Ich habe lange in Männerbands gespielt, wo immer so eine Art Stammtischatmosphäre entsteht. Wenn du Frauen dabei hast, ist alles netter, freundlicher, mit ein bißchen mehr Niveau, jedenfalls kann es so sein.

Lüül mit akustischer Gitarre - Foto: © 2014 by Schattenblick

Worte zum Tanzen bringen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Die Stammbelegschaft der 17 Hippies besteht zur Zeit aus 12 Musikerinnen und Musikern. Ihr reist viel durch die Welt, und wenn man eure Clips anschaut, gewinnt man den Eindruck, daß es euch durchaus Spaß macht, so viel unterwegs zu sein. Ansonsten wird das Tour-Dasein der Rockbands eher als furchtbarer Streß dargestellt. Dient es euch zur Erweiterung des eigenen Horizontes, wenn ihr andere Länder bereist und mit anderen Leuten zu tun habt?

Lüül: Ja, auf jeden Fall. Meine letzte Solo-CD heißt "Tourkoller", da habe ich alles so beschrieben, wie du es gerade mit dem ganzen Streß und so weiter gesagt hast. Anfangs denkst du, jetzt machst du viel Musik, doch im Grunde genommen sitzt du bei den weltweiten Tourneen 90 Prozent der Zeit irgendwo herum, wartest oder fährst von A nach B. Musik machen reduziert sich dann wirklich auf nur zehn Prozent der Zeit. Ich bin allerdings sowieso gerne auf Reisen und liebe neue Einflüsse, neue Menschen, neue Kontinente, je weiter desto besser. Gleichzeitig ist unsere Heimat auch wichtig. Ich bin noch nie so viel durch Deutschland gefahren wie in den letzten 15 Jahren, seit ich bei den 17 Hippies spiele. Wir haben wirklich auch schöne Orte und Landschaften.

Aber natürlich sind fremde Kulturen wie etwa Japan oder China, wo wir auch schon waren, immer sehr aufregend. Möglicherweise wäre alles banaler, wenn man die Sprache verstehen würde, aber dieses Fremde, nicht Erfaßbare hat eine große Faszination. Vor zwei Jahren waren die 17 Hippies das erste Mal in Australien und in Neuseeland bei dem Festival World of Music, Arts and Dance (WOMAD), das Peter Gabriel vor 30 Jahren mitentwickelt hat. Dann wirst du mit 150 Musikern von den Maori in Neuseeland eingeladen. Dort gibt es eine Nasenbegrüßung. 150 Leute kommen in dieses Haus, wo dich 70 Stammesmitglieder von alt bis jung erwarten. Mit jedem machst du die Nasenbegrüßung. Das dauert drei Stunden. Dann singen sie ihre tollen polynesischen Gesänge und führen ihren Kriegstanz auf, und du kommst dir vor wie Captain Cook vor 200 Jahren. Solche Begegnungen sind natürlich ganz zauberhaft, und du merkst, welches tolle Leben du als Musiker führst und wie privilegiert es ist, solche Reisen machen zu können.

SB: Du hat 1972 mit Agitation Free eine Reise durch den Nahen Osten gemacht. Hat das musikalisch auf euch abgefärbt?

Lüül: Ja, unser Bassist Michael Günther, der kürzlich verstorben ist, hatte die Idee, ein tragbares Uher-Tonbandgerät mitzunehmen. Er hat wirklich alles mitgeschnitten, was irgendwie hörbar war: Straßenlärm, Autolärm, Musik aller Art. Als wir in Zypern ins Flugzeug stiegen, begrüßte uns der Pilot persönlich mit der Ansage: I am the Captain, I fly the airplane, you play music, okay. Das haben wir dann auf unserer Platte verarbeitet. Vieles von den musikalischen Einflüssen, die wir dort aufzeichneten, floß in unsere Musik ein. Deshalb sagen wir manchmal, daß wir die Erfinder der Weltmusik wären, was natürlich ein bißchen hochgehängt ist. Na klar, wir waren damals erst 18, 19 Jahre alt, hatten noch nie außerhalb Berlins gespielt, und auf einmal reist du nach Kairo und siehst die Pyramiden. Wir waren drei Wochen wie auf Wolken. Das war eine wahnsinnig eindrucksvolle Reise und ist heute eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens.

SB: Ihr habt im Grunde etwas vorweggenommen, was zum Beispiel die Gruppe Embryo später fast zu ihrem Markenzeichen machte, als sie ganz gezielt mit Musikern, etwa in Pakistan, Straßenmusik gemacht hat. Die Verschmelzung orientalischer und westlicher Stile gab es in den 60er Jahren bereits im Jazz, aber in der Pop- und Rockmusik war es eigentlich etwas Neues.

Lüül: Das stimmt, Embryo haben das wirklich noch expressiv weiterentwickelt, indem sie nach Asien gefahren sind und mit den Musikern dort gespielt haben. Für uns war es eher diese eine Phase. Ansonsten haben wir zumeist in Frankreich und Deutschland Konzerte gegeben. Ich bin da ein bißchen vorsichtig, alle sind immer Erfinder von Techno oder ich weiß nicht was. Einiges läuft auch parallel, wenn Musiker eine ähnliche Idee haben und einfach einen Impuls der Zeit erleben, der solche Entwicklungen auslöst.

Lüül sitzt am Bühnenrand und erzählt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aus dem Füllhorn des Erlebten ...
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Die heutige Musikkultur ist sehr vielfältig. Es gibt ungeheuer viele Etiketten für die verschiedensten Stilhybride. Hat man es mit einer Ära besonderes ausdifferenzierter Kreativität zu tun, oder wird eher viel recycelt und im Grunde auch wiederholt?

Lüül: Ich finde, daß beides zutrifft. Dazu muß ich sagen, daß ich selber so gut wie keine Musik höre. Ich schöpfe eher aus dem eigenen Potential, wenn ich nicht auf Tour und auf Festivals bin, wo ich natürlich auch andere Bands höre. Obwohl wir mit den 17 Hippies viel in der Welt herumkommen, treffe ich auf wenige Bands, die mich mit über 60 Jahren noch richtig vom Hocker hauen, das gibt es wirklich selten. Gut finde ich, daß sich viele Menschen mit Musik beschäftigen und selber Musik machen. Andererseits macht es diese Masse, in der jeder ein Songschreiber sein kann und mit Computerprogrammen arbeitet, natürlich unheimlich schwierig, gute Ergebnisse zu erzielen. Häufig ist es einfach ein Wust von Klängen oder Atmosphären. Ich habe mich ein bißchen ausgeklinkt, mir ist das einfach zu viel, und daß überall Musik läuft, ist für mich eher eine negative Erscheinung.

Der Einsatz von Samples, bei dem alles vermischt wird und alles möglich ist, birgt natürlich auch die Gefahr der Beliebigkeit. Neuland zu entdecken scheint mir heute fast unmöglich zu sein. Andererseits ist es für die 17 Hippies eine große Wonne, sich überall bedienen zu können. Heutzutage kannst du viel recherchieren, du kannst überall irgend etwas finden und anhören, um es in eigene Musik umzumünzen. Wenn du, wie wir es mit den 17 Hippies machen, mit Musikern in anderen Ländern zusammenspielst, sind das Begegnungen, die sehr fruchtbar und inspirierend sind. Aber generell ist das Musikbusineß heute viel mehr ein Geschäft als früher. Damals hat keiner groß von der Kunst leben wollen, man hat einfach Lust gehabt, Musik zu machen. Heute wird man mit Musik zugeschüttet, das ist für mich persönlich eher eine unangenehme Randerscheinung.

SB: Woher kommt die Vorliebe der 17 Hippies für Polka und ähnliche Musikrichtungen?

Lüül: Bei den 17 Hippies sind einfach ganz verschiedene Menschen versammelt. Anfangs war es eher ein Spaßprojekt, man wollte akustische Musik machen. Es war ganz wichtig, keine Verstärker zu schleppen und so weiter, sondern einfach irgendein Instrument zu nehmen, vielleicht eines, das du noch nicht kennst, und Musik zu machen, Volksmusik. Das war die Uridee. Die Band entwickelte sich rasend schnell. Andauernd kamen neue Leute hinzu. Es hatte Magie und Eigendynamik, und jeder konnte Vorschläge machen. Auf einmal spielten wir einen französischen Kadettenwalzer mit Klarinette, Geige, ganz konventionellen Instrumenten wie Ukulele, Dudelsack - jeder konnte sich einbringen. Und aus dieser Konstellation hat sich dann das Konglomerat unser Musik entwickelt. Das war nie so geplant. Es waren Leute dabei, die gerne Balkanpop hörten, es gab aber auch Leute aus der Klassik oder solche, die eher Pop- oder Rockmusik oder französische Chansons mochten. Und so hat sich diese Mixtur ergeben, ganz natürlich, ohne Planung.

Es ist immer noch so. Auf der letzten Platte "Biester" haben wir zum Beispiel Stücke verwendet, die man nie mit uns in Verbindung bringen würde, wie etwa einen Song von Frank Zappa oder ein Stück der Allman Brothers. Wir haben uns praktisch selber überrascht, weil wir jetzt auch Perkussionisten dabei haben. Jedes Stück hat einen neuen Schlagzeuger. Wir hatten eine Probe, und schon ging es ins Studio. Das sind dann wirklich Herausforderungen. Du triffst Leute, die du nie zuvor gesehen hast, machst mit ihnen Musik, und die wird gleich auf Platte gebannt. Und es muß irgendwie hinhauen. Das war schon ein großes Risiko. Ich finde es einfach gut, wenn die Musik etwas Abenteuerliches hat und man nicht genau weiß, wie das Ergebnis ausfallen wird.

SB: Heute abend bestreitest du ein Soloprogramm. Wie bist du darauf gekommen, alleine aufzutreten?

Lüül: Wenn man ein Buch geschrieben hat, macht man auch gerne Lesungen, und die kommen immer super an. Jetzt habe ich das ein bißchen ausgeweitet, indem ich auch ein paar Songs spiele. Das ist ein bißchen abwechslungsreicher. Multimedial nennt sich das, weil ich den einen oder anderen Clip aus Fernsehshows oder Dokus, der sich über die Jahrzehnte angesammelt hat, mit ins Programm genommen habe. Das ist immer sehr kurzweilig und unterhaltsam und stellt natürlich auch ein Stück Zeitgeschichte dar. Natürlich bin ich dann sehr bei mir, weil es mein Leben ist. Ich genieße es auch, den Leuten etwas von diesen vielen Geschichten, die ich erlebt habe, nahezubringen. Dazu muß ich keine Band haben - ich fahre mit der Bahn hin und her und nehme Bücher und Gitarre mit, und zack geht es dann los. Das ist eine sehr angenehme Art, auf der Bühne zu stehen. Ich würde mich freuen, wenn einmal mehr Lesungen zustandekommen, weil es für mich eine große Freude ist, auf so einfache Weise aufzutreten.

SB: Lüül, vielen Dank für das lange Gespräch.

Lüül mit Gitarre neben Projektionsfläche - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

15. Juli 2014