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NACHLESE/013: 50 Jahre später ... Jimi Hendrix - Electric Ladyland (SB)


Giant pencil and lip-stick tube shaped things Continue to rain and cause screaming pain And the arctic stains From silver blue to bloody red
The Jimi Hendrix Experience - 1983... (A Merman I Should Turn To Be)


Was im Sommer 1967 in zahlreichen Aufständen hervorbrach und im Juli in Detroit zu 43 Todesopfern führte, die meist dem Schußwaffeneinsatz der Polizei und Nationalgarde geschuldet waren, ist in den strukturellen Gewaltverhältnissen der US-Gesellschaft bis heute präsent. Die rassistische Diskriminierung ethnischer Minderheiten drückt sich in verschiedenen Formen sozialer und ökonomischer Benachteiligung wie der massiven Repression des US-Knastsystems aus. Im Unterschied zu den 1960er Jahren könnten die Aussichten insbesondere der schwarzen Bevölkerung kaum schlechter sein. Die Hoffnung, ein schwarzer Präsident im Weißen Haus, das bezeichnenderweise zu einem Gutteil von afroamerikanischen Sklaven errichtet wurde, werde deren Nachfahren substantielle Verbesserungen bescheren, haben sich nicht nur zerschlagen. Mit Donald Trump führt ein Mann die politischen Geschäfte Washingtons, der von den reaktionärsten und damit auch rassistischsten Segmenten der US-Bevölkerung in sein Amt gehievt wurde.

Am 4. April 1968 mußte die schwarze Bürgerrechtsbewegung mit der Ermordung Martin Luther Kings einen weiteren Tiefschlag hinnehmen, der mit landesweiten Riots seiner verzweifelten AnhängerInnen beantwortet wurde. Nur kurz zuvor hatte er die Poor People's Campaign initiiert, die sich auf fundamentale Weise gegen "Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus", so der begnadete Prediger King, richtete. 50 Jahre später wird mit einer Neuauflage der Bewegung [1] versucht, an den damals brutal unterbrochenen Versuch anzuknüpfen, den Millionen sozial verelendeten Menschen in den USA Gesicht und Stimme zu geben, um politisch auf eine Weise wirksam zu werden, die der weiße Repressionsapparat bislang stets mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zu torpedieren verstand.

Jimi Hendrix blieb als schwarzer Künstler trotz seines großen Erfolges, der ihn Mitte der 1960er Jahre aus aller materiellen Bedrängnis herauskatapultierte, nicht davon verschont, von Weißen beleidigt und verfolgt zu werden. Zugleich war er als eine Art musikalisches Vorbild der Hippiebewegung weit entfernt von den Kämpfen, die schwarze Menschen in den USA tagtäglich auszufechten hatten. Als Innovator der elektrischen Gitarre und wesentlicher Vertreter eines zwischen Blues und Psychedelik angesiedelten Rocksounds war er praktisch immun gegen Anwürfe, die seine Hautfarbe zum Gegenstand hatten. Die Geschichte seines Erfolges, in den USA von dem ehemaligen Animals-Bassisten Chas Chandler entdeckt und unter Vertrag genommen zu werden, um von London aus Europa zu erobern, auf dem Monterey Pop Festival im Juni 1967 einen legendären Auftritt hinzulegen und zum heißesten Bühnenact der ohnehin künstlerisch hochexplosiven Jahre 1967 und 1968 in den USA zu werden, vermittelte den Eindruck eines kosmopolitischen Aufbruches, in dem ethnisch-nationale Unterschiede überwunden zu sein schienen.

Die aus Bassist Noel Redding, Schlagzeuger Mitch Mitchell und ihm bestehende Jimi Hendrix Experience hatte 1967 mit Are You Experienced und Axis: Bold As Love innerhalb eines halben Jahres zwei Alben veröffentlicht, die heute auf den Ewigkeitslisten der Popgeschichte vordere Plätze einnehmen. Sie dokumentieren eine konsequente Entwicklung von der Form des Blues und Rock 'n' Roll, die auf dem Debütalbum dominierten, zu jazzigen und psychedelischen Einflüssen, die das technisch deutlich weiterenwickelte Folgealbum bis heute zu einem akustischen Erlebnis machen. Damals hatte Hendrix die Frage eines britischen Journalisten nach dem Charakter ihrer Musik damit beantwortet, daß sie nicht gerne in irgendeine Schublade gesteckt werden. Wenn partout ein Etikett drangehängt werden solle, dann würde er die Musik als "Free Feeling", eine Mischung aus Rock, Freak-out, Rave und Blues bezeichnen.

Das umschreibt die tatsächlich äußerst vielfältige Mischung gut, wie das dritte und letzte Album der Experience zeigt. Electric Ladyland wurde, wenn alle darin veröffentlichten Stücke und Tonspuren berücksichtigt werden, von Juli 1967 bis August 1968 in London und New York City aufgenommen. Zwischen den Aufnahmen war die Band immer wieder auf Tour, was eine besonders dynamische bis angespannte Atmosphäre im Studio erzeugte. Insbesondere die Sessions in den Record Plant Studios in New York City sollen, so beschwerte sich später Chas Chandler, regelrechte Partys gewesen sein, weil sich stets zahlreiche Menschen einfanden, die mit Hendrix befreundet waren oder einfach nur zuhören wollten. Dabei war der Gitarrist bekannt für seinen Perfektionismus, der dazu führte, daß einzelne Tracks bis zur Erschöpfung immer wieder eingespielt werden mußten.

Zugleich sind auf Electric Ladyland neben der Experience, die erste Auflösungserscheinungen zeigte, Musiker wie der Jefferson Airplane-Bassist Jack Casady und gleich drei Musiker der britischen Band Traffic, Dave Mason, Steve Winwood und Chris Wood, vertreten. Electric Ladyland war zugleich Höhepunkt und Ende der Zusammenarbeit mit den beiden britischen Musikern, die Hendrix kongenial ergänzten und künftig von schwarzen Bandmitgliedern wie insbesondere Drummer Buddy Miles und Bassist Billy Cox ersetzt werden sollten. Wie sich das musikalisch auswirkte, zeigten die zwei am meisten von Jazz und Funk beeinflußten Tracks "Rainy Day, Dream Away" und "Still Raining, Still Dreaming", die mit Buddy Miles am Schlagzeug eingespielt wurden.

Das Doppelalbum, das viele für den künstlerischen Höhepunkt der nur vier Jahre währenden Karriere des Ausnahmemusikers Hendrix halten, ist durchaus an die sozialen und politischen Umstände seiner Zeit gebunden. So setzt sich "House Burning Down" mit dem aus Hendrix' Sicht beklagenswerten Umstand auseinander, daß in den Riots, die in den schwarzen Ghettos entbrannten, auch Häuser schwarzer Familien angezündet und zerstört wurden. Das über 13minütige Epos "1983... (A Merman I Should Turn to Be)" beschreibt eine mit Krieg und Chaos überzogene Welt, der zu entkommen ein Dasein unter Wasser gewählt wird. Wie in vielen anderen Stücken schafft Hendrix eine utopische, von seiner Science Fiction-Lektüre geprägte Welt, in der sich ein besseres Leben als unter den Umständen seiner Zeit führen läßt. Heute, da auch das Meer zum Schauplatz menschengemachter Zerstörung wird, taugen bestenfalls Ausflüge ins All zur Verwirklichung eines Eskapismus, der die Probleme nicht bewältigt, sondern lediglich verschiebt.

Doch da ist immer noch der Blues, dem Hendrix mit dem 15minütigen "Voodoo Chile" und der fünfminütigen Wiederkehr des Themas am Ende des Albums ein Denkmal gesetzt hat, das bis heute aus den vielen ebenfalls sehr überzeugenden Intonationen des von Rock und Jazz beeinflußten Blues der damaligen Zeit herausragt. Die überbordende Lebensfreude und zupackende Energie seines Gitarrenspiels, der in heulenden, stets genau kontrollierten Rückkoppelungen artikulierte Schmerz und die vielen wohlüberlegt eingesetzten Verfremdungen seiner analogen Effektgeräte sind Ausdruck einer künstlerischen Wirksamkeit, die die sozialen Umständen seiner Zeit auch dadurch repräsentiert, daß sie überhaupt in Erscheinung treten und nicht im Vorwege kulturindustriell verhindert wurde. Free Feeling - um diese Freiheit war zu kämpfen, und daran hat sich bis heute nichts geändert, nur daß die Voraussetzungen dafür nicht leichter, sondern aufgrund der Vielzahl seitdem gescheiterter Versuche schwieriger geworden sind.

Es war der Aufbruch inmitten eines Krieges, der für diejenigen Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, niemals aufgehört hat. Eine Idealisierung der Epoche, der Hendrix seine ganz persönliche Signatur aufdrückte, kann in der Kontinuität damals künstlerisch aufgegriffener Widersprüche nur in die Irre einer Flucht führen, dergegenüber die von Hendrix ersonnenen Ausflüge ins All und unter die Meeresoberfläche von geradezu aussichtsreicher Naivität waren. "All Along The Watchtower" - die auf Electric Ladyland präsentierte Version des von Bob Dylan ein halbes Jahr zuvor auf dem Album John Wesley Harding veröffentlichten Songs gilt auch diesem als überzeugendste Version seines dutzendfach gecoverten Meisterwerks. Das Leben für einen Scherz zu halten, damit muß sich niemand aufhalten, heißt es dort in Anspielung auf einen Schicksalsglauben, dessen bestimmende Kraft nicht erst aus heutiger Sicht entschieden zurückzuweisen ist.


Fußnote:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/336704.bekämpft-die-armut-nicht-die-armen.html

7. August 2018


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