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NACHLESE/031: 50 Jahre später ... Can - Monster Movie (SB)


Smoked a haiku cigarette
Turned around and then we left
Smiling as the way began to grow
We got your pretty men all in a row

Can - Mary, Mary, So Contrary


Xhol Caravan, Agitation Free, Embryo, Amon Düül - nur vier Beispiele von vielen für bereits 1969 existierende westdeutsche Bands, deren Sound so avantgardistisch war, daß er sich nicht mehr unter dem Label konventioneller Pop- oder Rockmusik vermarkten ließ. Was vor einem halben Jahrhundert in den Konzerthallen und Musikclubs der Bundesrepublik, die sich dem kulturellen Underground zurechneten, auf die Bühne kam und ins Ohr floß, war im Wortsinn unerhört. Aus diesem kulturellen Wildwuchs bildete sich, von den bürgerlichen Feuilletons kaum wahrgenommen, eine eigenständige Szene jugendlicher Musikfans, die meist der auch in Europa erblühenden Hippieszene zuzurechnen waren. Zweifellos unter dem Einfluß psychedelischen Enhancements formte sich eine Ästhetik programmatischer Grenzüberschreitungen heraus, deren zahlreiche Einflüsse etwa aus dem Jazz oder der orientalischen Musik in einem Amalgam ganz eigener Art resultierten.

Was später unter dem PR-technisch ziemlich verunglückten Label "Krautrock" verarbeitet werden sollte, verwandelte die Not, lediglich einen Platz am Ufer des breiten Stromes US-amerikanischer wie britischer Rockmusik erhalten zu haben, in die Tugend, mit experimentellen Improvisationen und ungewöhnlichen Songstrukturen progressives Neuland zu erschließen. Unter den damals mit der Frische derer, die keinen Ruf zu verlieren haben, weil sie über keinen verfügen, aufgebrochenen Bands wiederum stechen Can aus Köln mit einem Sound heraus, der das Publikum auf einem minimalistischen, fast monoton zu nennenden, von Schlagzeuger Jaki Liebezeit und Bassist Holger Czukay ausgelegten Rhythmusteppich in einen körperlichen Schwebezustand versetzte. Dieser Teppich flog tatsächlich, wie die Bandmitglieder mit Aufzeichnungen von Sessions belegten, die länger als ein Arbeitstag von acht Stunden dauerten und in ihrem künstlerischen Selbstverständnis kollektiver Schaffenskraft auch keine Arbeit darstellten.

Einmal losgeflogen hatten Keyboarder Irmin Schmidt, Gitarrist Michel Karoli und Sänger Malcom Mooney alle Freiheit, sich in instrumentalen wie stimmlichen Improvisationen auszuleben, die auf dem niemals nachlassenden, wie von einer aus sich selbst schöpfenden und damit unbegrenzten Energiequelle angetriebenen Motor des in exotischen Taktformen schwingenden und polternden Grooves ein bizarres Eigenleben entfalteten. Allein die Rhythmik war ihrer Zeit so weit voraus, daß Can heute noch als emblematische Referenz an popkulturelle Gründerzeiten Verwendung finden, so in der die Entstehung des HipHop in der Bronx der 1970er Jahre nachzeichnenden, 2016 erstmals ausgestrahlten TV-Serie The Get Down.

Was Can 1969 auf dem Album Monster Movie veröffentlichten, war ein auf vinyltaugliche, auch im Radio hörbare Dimensionen heruntergebrochener Extrakt aus den stundenlangen Improvisationen, mit denen sie das Studio, das sie auf Schloß Nörvenich bei Köln eingerichtet hatten, in ein Labor neuer Klangformen verwandelten. Zwar ist ein Einfluß der New Yorker Kultband The Velvet Underground auf dem Opener Father Cannot Yell nicht abzustreiten, doch die fünf Musiker von Can machen im musikalischen Turbogang deutlich, daß sie sich eher im Weltraum als auf den schmutzigen Straßen einer Weltmetropole zuhause fühlten. Mit Mary, Mary So Contrary bedienten sie sich eines alten englischen Wiegenliedes, dessen Text sie mit eigenen, rätselhaft versponnenen Zeilen variierten. Im Grunde genommen handelt es sich um einen Blues mit Hitqualität, der jedoch dem Radio vor 50 Jahren zu weit voraus war, um in die lukrativen Regionen des musikalischen Mainstreams einzubrechen. In Outside My Door wird über das Verhältnis von Klang und Farbe philosophiert. In den Worten von Jaki, so steht es im Text, können fünf Farben das Ohr blind machen. Das Stück mündet in ein ausgesprochen rockiges Finale, das zeigt, wie gut Can das Metier populärer Musik beherrschte.

Der auch für damalige Zeiten mit 20 Minuten lange, eine ganze Plattenseite einnehmende Titel Yoo Doo Right könnte neudeutsch als Signature Song der Gruppe bezeichnet werden. Es handelt sich um einen Zusammenschnitt aus einer laut Sänger Malcom Mooney vielstündigen Session: "Wir spielten durch von ein Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts, mit ein paar Pausen, um mal aufs Klo zu gehen oder um was zu essen. Ich erinnere mich, dass YOO DOO RIGHT Stunden dauerte. Ich kletterte mit Michael aus dem Studiofenster, wir gingen in ein Restaurant und aßen, und als wir zurückkamen, spielten sie noch immer den selben Song, also stiegen wir wieder ein - es war ein beinahe endloses Stück." [1]

Mooney rezitiert Passagen aus einem Liebesbrief in einer Anmutung schmerzhafter Emphase, die sich nicht anhört, als entspreche sie nicht seiner seelischen Verfassung. Währenddessen treibt die Band die Monotonie des Chorus Yoo Doo Right zum Exzess einer mantrahaften Beschwörung, deren hypnotischer Wirkung sich niemand entziehen konnte. Vielfach zitiert von anderen Rockgruppen wurde damit der Grundstein einer weltweiten Verehrung der Gruppe gelegt, die bis heute insbesondere im angloamerikanischen Raum wie in Japan anhält.

Holger Czukay, Jaki Liebezeit und Irmin Schmidt hatten ihre Kindheit noch unter dem NS-Regime verbracht [2]. Es waren Kriegskinder, die in den 1960er Jahren nach einer musikalischen Ausbildung klassischer Art begierig die Freiheit der psychedelischen Ära aufsaugten und ihr eine eigene, in gewisser Weise europäisch-avantgardistische Gestalt verliehen. Daß das Cover von Monster Movies mit einem gesichtslosen Galactus einen Marvel-Helden adaptierte, war in Anbetracht der Bedeutung des Genres sogenannter Superhelden für die heutige Popkultur ein fast prophetischer Einfall. Für die ausgehenden 60er Jahre jedenfalls stellte das Design des Albums einen Vorgriff auf eine popkulturelle Ästhetik dar, die in ihrer Referenz auf andere Medien wie Comics noch gewöhnungsbedürftig war.

Die in der BRD der 1960er Jahre herrschende Atmosphäre einer zumindest kulturell in Auflösung begriffenen bürgerlichen Erstarrung bezeugt auf exemplarische Weise ein Konzert der Gruppe, das der WDR im Winter 1970 in Soest aufgezeichnet hat [3]. An die Stelle Malcom Mooneys, der schon bald nach Monster Movies in die USA zurückkehrte, war mit Damo Suzuki ein ehemaliger Straßenmusiker getreten, der an der Entstehung des Nimbus von Can als einer der wichtigsten deutschen Bands in den 1970er Jahren wesentlichen Anteil hatte.


Fußnoten:

[1] https://web.archive.org/web/20100802233833/http://www.essl.museum/musik/yoo-doo-right.html

[2] NACHLESE/007: Holger Czukay und Can - ein Rückblick (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murn0007.html

[3] https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLWE2NTRiMzZlLTY2NWUtNGM0NC1hMDc1LWJkZDA0ODVlZDg2Ng/

14. März 2019


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