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NACHLESE/042: 50 Jahre später ... The Rolling Stones - Get Yer Ya-Ya's Out (SB)



Mick Jagger & Die Rolling Stones geben in ihrem Lied keine Antwort. Sie offerieren Reizwörter (marching, fighting, violent revolution, disturbance, shout, scream, kill). In ihrer Musik schlagen sie einen Marschrhythmus, der dazu drängt, sich in den Marsch einzuordnen. Mehr noch: Er täuscht vor, daß man bereits mitmarschieren würde. Die Stones antworten nicht; sie durchschauen die Zusammenhänge nicht.
Rolf Ulrich Kaiser 1972 über den Titel Street Fighting Man [1]

Die großmäulige Ansage "The greatest Rock 'n' Roll Band of the world" wurde den fünf Musikern der Rolling Stones gerne als haltlose Übertreibung angelastet, uneingedenk dessen, daß Rockmusik von Superlativen nicht minder lebt als das cineastische Superheldengenre oder andere Versuche, die Unübersichtlichkeit der Welt mit absoluten Maßstäben zu ordnen. Wenn künstlerische Errungenschaften aus sich selbst heraus sprächen, anstatt ihrer werkimmanenten Würdigung durch leistungsorientierte Vergleiche auszuweichen, dann wären ganze Berufsgruppen in der Kulturindustrie arbeitslos. Die Ansage, mit der die Stones regelmäßig auf der Ende November 1969 absolvierten US-Tournee angekündigt wurden und die auch zu Beginn des dazugehörigen Live-Albums Get Yer Ya-Ya's Out zu vernehmen ist, war dennoch nicht bar jeder Berechtigung. Schon der unmittelbar darauf einsetzende Opener Jumpin' Jack Flash läßt ahnen, daß die von diesem Tondokument ausstrahlende Atmosphäre aus den Konzerten in Baltimore und New York City keiner künstlichen Überzeichnung bedurfte, um das Publikum auf einen aufregenden Abend einzustimmen.

Zweifelsohne war der um die Stones entfachte Hype stets Produkt einer PR-Strategie, doch ließen sich in diesem Fall systematische Übertreibung und künstlerischer Gehalt überzeugend in Deckung bringen. Das kraftstrotzende Auftreten der Band, die mit Mick Taylor nach dem Ausscheiden von Brian Jones erstmals einen anderen Leadgitarristen als das wenige Monate zuvor verstorbene Gründungsmitglied auf die Bühne gebracht hatte, entspricht dem, was Rock 'n' Roll im Kern ausmacht, allemal. Die treibenden Riffs des Rhythmusgitarristen Keith Richards, den viele für das organische Zentrum der Stones halten, das davon impulsierte und den Groove der Band verstärkende Zusammenspiel von Drummer Charlie Watts und Bassist Bill Wyman, die in großen Melodiebögen und schneidenden Slides jubilierende Gitarre Mick Taylors und die rotzfreche Anmacherstimme Mick Jaggers waren selten überzeugender als in dieser Ära der Bandgeschichte. Nicht unerwähnt bleiben sollte das den Auftritt mit Honky Tonk-Klängen bereichernde Klavier des sechsten, ungenannt bleibenden Bandmitglieds Ian Stuart. All das live aufgenommen in einer Rohheit des Sounds, der die euphorische Stimmung eines Stones-Konzerts konserviert, ohne mit einem Verfallsdatum zu baldigem Gebrauch aufzufordern.

Get Yer Ya-Ya's Out ist zweifellos das überzeugendste Live-Album unter den offiziellen Veröffentlichungen der Band, was nicht heißt, daß es unter den zahllosen Bootlegs ihrer Konzerte nicht minder begeisternde Tondokumente gibt. Die meisten inzwischen legendär gewordenen Konzertmitschnitte wurden in den zwei, drei Jahren nach dem Wechsel in der Besetzung von Brian Jones zu Mick Taylor aufgezeichnet. Von 1969 bis 1972 entstanden mit Let It Bleed, Sticky Fingers und Exile On Main Street diejenigen Alben der Stones, auf denen die Hinwendung zum US-amerikanischen Rhythm & Blues die eindrucksvollsten Ergebnisse zeitigte. Die zuvor stärker in der britischen Adaption dieser Stilistik verhaftete und in späteren Jahrzehnten immer routinierter, aber auch einfallsloser auf Erfolgskurs segelnde Band erklomm in diesen Jahren den Gipfel einer Rock 'n' Roll-Authentizität, in der die mit Sex und Drugs zu komplettierende Trias hedonistischen Lebens noch so viel Spaß gemacht haben muß, daß es der Musik anzuhören war.

Die live eingespielten Versionen von Stray Cat Blues und Sympathy for the Devil zeigen, was für ein Potential in diesen Titeln des ebenfalls epochalen, noch vollständig mit Brian Jones eingespielten Album Beggars Banquet steckt. Diese Aufnahme von Sympathy for the Devil bietet neben einer frei schwingenden Rhythmusgruppe, die die Studioversion des Titels in den Schatten stellt, gutes Anschaungsmaterial für die Art und Weise, mit der zuerst Richards und dann Taylor Gitarrensoli handhaben. Live With Me und Midnight Rambler wiederum sind Titel des noch nicht veröffentlichten Studioalbums Let It Bleed, mit dessen Material die Stones auf dieser Tour erstmals öffentlich auftraten. Während Let It Bleed im Dezember 1969 in die Plattenläden kam und seitdem als eines der gelungensten und authentischsten Rockalben gilt, das stets vordere Positionen in den Ewigkeitsrankings der Musikpresse einnimmt, wurde Get Yer Ya-Ya's Out fast ein Jahr später, im September 1970, veröffentlicht. Auch das Live-Album steht in den Listen offiziell veröffentlichter Konzertmitschnitte bis heute ganz oben.

Was musikalisch hochdynamisch und mitreißend daherkam, war textlich zu Recht als sexistisch und gewalttätig verrufen. Viele KritikerInnen lasten den Stones verantwortungsloses Kokettieren mit maskuliner Aggression und eine verächtliche Haltung gegenüber Frauen an. Nach heutigen Maßstäben hätten bestimmte Textpassagen in den Songs der Band einen festen Platz unter den Negativbeispielen für kulturalistisch bemäntelte Rape Culture. Wenn etwa der Midnight Rambler, in vielen Konzerten der Band der musikalische Höhepunkt, als eine finstere Figur daherkommt, die nachts Menschen ermordet und Frauen mißbraucht, dann wird eine Form der Gewalttätigkeit imaginiert, die nicht nur, wenn sie zur positiven Identifikation gereicht, in jeder Beziehung inakzeptabel ist. Wären die Stones nicht schon zu dieser Zeit bourgeoise Profiteure der kapitalistischen Kulturindustrie gewesen, dann hätten sie die mitreißende Musik des Stückes auch für ein sozialrevolutionäres Szenario oder ein anderes progressives Narrativ verwenden können. Sie zogen es jedoch vor, maskuline Überlegenheit zu inszenieren und immer wieder Frauen zu Sexobjekten zu degradieren, womit sie ihre Klassenzugehörigkeit eindeutig markierten.

Die popkulturelle Bedeutung dieses Zeugnisses vom Ende der 1960er Jahre, als die psychedelischen Träume der Hippies endgültig zerstoben waren und die kapitalistische Normalität von Krieg und Gewalt, von Ausbeutung und Unterdrückung mit der schmerzhaften Intensität jähen Erwachens allen Platz besetzte, läßt sich mithin nur negativ als Beleg für all das, was es aufzuarbeiten gab, darstellen. Die Stones waren schon vor einem halben Jahrhundert ein Großunternehmen, wie die Konzerttournee durch die USA im November 1969 zeigte, die sich als Innovationssprung im Geschäft mit Live-Auftritten dieser Band bezeichnen läßt.

Die Rolling Stones befanden sich das erste Mal seit Mitte 1966 auf Tournee und traten dieses Mal ausschließlich in den größten Stadien und Konzertsälen des Landes auf. Dank eines neuen Finanzierungsmodells und für damalige Verhältnisse teurer Tickets verdienten sie so viel Geld, daß sie am 6. Dezember noch als Hauptact auf dem berüchtigten Altamont Free Festival auftraten, das als eine Art Woodstock der Westküste geplant worden war. Das Ereignis entgleiste nicht zuletzt durch das aggressive Auftreten der Hells Angels, aber auch eines großen Teils des Publikums so sehr, daß ein Mordopfer und drei Unfalltote auf seiner Strecke blieben. Der Ruf der Stones als einer rücksichtslosen, allein auf Erfolg, Geld und Lustgewinn abonnierten Band wurde durch diesen Auftritt gefestigt. Wer in Rockmusik dieser Dimension noch etwas Emanzipatorisches erkannt hatte, kam immer weniger um die Erkenntnis herum, es mit der kulturellen Artikulation des Klassenkrieges von oben zu tun zu haben.

Das Konzert von Altamont wird heute meist als Abgesang auf die verwehten Träume der sechziger Jahre und Symbol des Wandels der damaligen Counterculture zum schlechteren interpretiert. Das ist insofern übertrieben, als die Verfallserscheinungen schon in Woodstock nicht zu übersehen waren [2] und das Konzert kein isoliertes Ereignis in einer ansonsten heilen Welt, sondern ein Großevent der Unterhaltungsindustrie einer ihr Geschäft mit imperialistischen Kriegen und dem Raubbau an Mensch wie Natur betreibenden Gesellschaft war. Was immer diese Zeit für die sie bewegenden und von ihr bewegten Menschen bedeutet haben mag, die Rolling Stones haben als Musiker, die ihr Handwerk verstanden und bei allen künstlerischen Anleihen an populäre MusikerInnen eine glaubwürdige Entwicklung zu eigenständiger musikalischer Größe vollzogen, einen festen Platz in der Geschichte einer Popkultur, die in ihren besten Momenten alles überstrahlt, was seitdem erdacht und entwickelt wurde. Daß die Stones seit ihrer Gründung 1962 immer noch auf den Bühnen der Welt stehen, macht sie ebensosehr zum Objekt altersdiskriminierender Scherze wie zu Nutznießern eigener Legendenbildung in einem Raubtierzirkus, in dem die Unterwerfung unter die Dressur kein Ende finden wird, wenn seine Dompteure nicht unumkehrbar in die Wüste ihrer Überlebensstrategien geschickt werden.


Fußnoten:

[1] Rolf-Ulrich Kaiser: Rock-Zeit, Düsseldorf 1972, S. 67

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1037.html

24. November 2019


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