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FRAGEN/003: Existenz Dunkler Materie - "Die bessere Theorie wird sich durchsetzen" (forsch - Uni Bonn)


forsch - Februar 2011
Bonner Universitäts-Nachrichten

"Die bessere Theorie wird sich durchsetzen"

Interview zur Existenz Dunkler Materie mit Professor Dr. Pavel Kroupa und Professor Dr. Hans Peter Nilles


Dunkle Materie

Galaxien rotieren so schnell, dass die Sterne in ihnen eigentlich aufgrund der Fliehkraft auseinander getrieben werden müssten. Das hat die Physikerin Vera Rubin schon vor 40 Jahren bei Untersuchungen des Andromeda-Nebels festgestellt. Eine rätselhafte Kraft scheint das jedoch zu verhindern. Viele Forscher vermuten daher, dass die so genannte Dunkle Materie aufgrund ihrer Masseanziehung die Galaxien zusammenhält. Laut Theorie soll die "normale" Materie gerade einmal 4 Prozent der Gesamtmaterie im Universum ausmachen, dunkle Materie dagegen 25 Prozent (der Rest - gut 70 Prozent - besteht demnach aus der ebenso rätselhaften Dunklen Energie; nach der berühmten einsteinschen Formel e = mc² hat jede Energie ein Masseäquivalent). Bislang hat jedoch niemand den mysteriösen Sternenkitt tatsächlich nachweisen können.


Das Thema war zugkräftig: Über 300 Zuhörer besuchten im vergangenen November das Bethe-Kolloquium an der Uni Bonn zur Existenz der Dunklen Materie (s. oben). Das Interesse verwundert nicht, hat die Antwort auf diese Frage doch womöglich weit reichende Konsequenzen: Sollte es die mysteriöse Materieform nicht geben, müsste man unter anderem die Newtonsche Gravitationstheorie und die Einsteinsche relativitätstheorie abändern. Die Debatte ist unter uni-bonn.tv als Podcast abrufbar. In unserem Interview zeichnen die Physiker Professor Dr. Pavel Kroupa und Professor Dr. Hans Peter Nilles die wichtigsten Argumente der Auseinandersetzung nach.


FRAGE: Herr Professor Nilles, welches ist für Sie das gewichtigste Argument, das die Dunkle-Materie-Hypothese stützt?

NILLES: Das ist der so genannte Mikrowellen-Hintergrund. 300.000 Jahre nach dem Urknall wurde das Universum kühl genug, dass sich Wasserstoff-Atome bilden konnten. Damit wurde das Universum auch transparent: Die Photonen, die zuvor mit den Elektronen ständigen Wechselwirkungen unterlagen, konnten sich plötzlich über weite Entfernungen bewegen. Diese Hintergrundstrahlung kann man bis heute sehen. Sie hat etwa drei Grad Kelvin. Ihre Temperatur ist jedoch nicht überall völlig gleich, sondern variiert je nach Blickrichtung: Dort, wo die Materie 300.000 Jahre nach dem Urknall dichter war, ist die Hintergrundstrahlung heute noch um ein hunderttausendstel Kelvin höher. Anhand der Verteilung und Stärke dieser Unterschiede kann man messen, wie groß der Anteil Dunkler Materie im Universum ist.

Ich finde diesen Punkt deshalb so überzeugend, weil die Temperaturfluktuation durch das Standardmodell des Universums - das ja die Dunkle Materie beinhaltet - vorhergesagt wurde.

KROUPA: Es gibt jedoch andere Vorhersagen durch das Standardmodell, die nicht stimmen. Die Theorie muss aber in sich schlüssig sein.

FRAGE: Herr Professor Kroupa, eine der Vorhersagen, die Sie ansprechen, ist die Zahl und Verteilung der so genannten Satellitengalaxien in unserer Muttergalaxie, der Milchstraße.

KROUPA: Das ist nur einer von einer ganzen Reihe von Punkten, wo das Standardmodell nicht funktioniert...

NILLES: Diese Kritik bezieht sich auf Beobachtungen auf kleinen Skalen, also kleinräumige Strukturen. Meiner Meinung nach gibt es aber auf kleinen Skalen gar keine verlässliche Vorhersage des Standardmodells. Simon White hat das Modell auf dem Kolloquium mit dem Wetterbericht verglichen: Kein Meteorologe kann heute vorhersagen, ob es in drei Wochen in Troisdorf schneien wird.

KROUPA: Diese Wetterberichts-Analogie funktioniert nicht. Wir sind auf einem ganz anderen Niveau: Das Modell sagt voraus, dass es in der Sahara schneien wird. Und zwar nicht einmal, sondern immer wieder.

NILLES: Gehen wir weg von diesem Bild. Was ich einfach behaupte: Heute kann kein Mensch anhand des Standardmodells ausgehend von den Anfangsbedingungen, die wir kennen, verlässliche Aussagen auf Galaxien- oder sogar Subgalaxien-Niveau machen.

FRAGE: Sie meinen also, dass die Simulationen bei diesem Detailgrad versagen?

NILLES: Bis zum Niveau von Galaxienclustern mag das noch gehen. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo ich den Personen, die diese Simulationen machen, einfach glaube, dass man das nicht mehr verlässlich rechnen kann.

KROUPA: Das kann man sehr wohl. Gerhard Hensler aus Wien hat simuliert, wie das Universum auf kleinen Skalen im Standardmodell aussehen müsste. Wir haben uns die Ergebnisse bis ins Detail angesehen und mit tatsächlichen Beobachtungen verglichen. Und da gibt es riesige Diskrepanzen. Die Berechnungen basieren übrigens auf den weithin anerkannten Simulationen des Max-Planck-Forschers Volker Springel.

NILLES: Der sagt aber selbst, seine Daten seien auf diesem Niveau nicht mehr verlässlich. Und das ist kein Problem des Modells an sich, sondern es bedeutet einfach, dass wir es nicht rechnen können.

KROUPA: Wir können es rechnen. Wir sehen da keine signifikanten Probleme. Außerdem geht es nicht nur um eine Satellitengalaxie auf einer Skala von ein paar hundert Parsec. Diese Diskrepanzen zeigen sich bis zu einer Größenordnung von acht Millionen Parsec. Das ist längst nicht mehr kleinskalig.

FRAGE: Ein Punkt, der für die Existenz Dunkler Materie zu sprechen scheint, sind die so genannten Rotationskurven der Galaxien: Eigentlich sollten sich die Sterne am Rand einer Galaxie langsamer bewegen als in Zentrumsnähe, weil sie sonst durch die Fliehkraft aus der Galaxie getrieben würden. Das ist aber nicht der Fall. Es scheint also eine zusätzliche Quelle der Gravitationsanziehung zu geben, die das verhindert.

NILLES: Dieser Effekt wird durch die kalte Dunkle Materie zumindest qualitativ gut beschrieben: Nämlich dadurch, dass man mehr Materie im Zentrum der Galaxie hat, als man sieht. Die Alternative ist, dass man die Newtonschen Gravitationsgesetze so abändert, dass die Kurven passen. Das ist aber keine Theorie; sie erlaubt keine Vorhersagen.

KROUPA: Es tut mir Leid, aber das ist eine falsche Aussage. In der MOND-Theorie (der modifizierten Newtonschen Dynamik, die Red.) wird eine einzige Naturkonstante an einer einzigen Galaxie geeicht. Und damit kann man die Rotationskurven Hunderter anderer Galaxien vorhersagen. Mach das mal mit kalter Dunkler Materie. Das kannst du nicht.

NILLES: Grund ist, dass es verschiedene Annahmen gibt, wie die Dunkle Materie im Universum verteilt ist. Und niemand weiß, welche richtig oder falsch ist.

FRAGE: Setzt die Physik, wie Herr Kroupa behauptet, momentan zu sehr auf ein Pferd? Er sagt ja beispielsweise, dass die Vertreter von Alternativtheorien nicht genügend Beobachtungszeiten bekommen, um ihre These überprüfen zu können.

NILLES: Dieses Argument ist nicht naturwissenschaftlich. Klar ist, wir stehen in der Wissenschaft in einem gewissen Wettbewerb. Dennoch wird sich die Theorie durchsetzen, die besser ist.

KROUPA: Wer Alternativen vorschlägt, riskiert aber seine Karriere.

NILLES: Es gibt keine Alternative, die auf allen Skalen funktionieren würde.

KROUPA: Doch, die gibt es. Zum Beispiel kann man die Struktur der anfangs angesprochenen Hintergrundstrahlung auch in MOND erklären, wenn man die Existenz eines bestimmten Teilchens postuliert, des sterilen Neutrinos...

NILLES: ...was nichts anderes ist als heiße Dunkle Materie. Du führst damit ein weiteres Teilchen ein und hast noch keine einzige Vorhersage gemacht.

KROUPA: Es bleibt die Tatsache: Es gibt ein Alternativmodell, das die Hintergrundstrahlung erklärt. Darin redet man allerdings von Feldern und nicht von Teilchen, auch wenn das praktisch sicher synonym ist.

NILLES: Dann sag mir mal, wie du damit die großräumige Verteilung der Galaxien erklären willst. Mit heißer Dunkler Materie?

FRAGE: Was ist heiße Dunkle Materie? Und wie unterscheidet sie sich von kalter?

NILLES: Heiße Dunkle Materie besteht aus leichten Teilchen, zum Beispiel Neutrinos, die so leicht und schnell sind, dass sie anders als kalte Dunkle Materie keine "Klumpen" bilden. Sie können also nicht als Kondensationskeim für die sichtbare Materie dienen. Laut Standardmodell können sie daher nicht die großräumige Verteilung der Galaxien erklären, die wir heute beobachten.

KROUPA: Immerhin lässt sich damit möglicherweise ein Aspekt klären, der im Standardmodell gar nicht verstanden wird: Nämlich dass die so genannten Voids - astronomische Strukturen mit wenig Materie - viel zu leer sind. Das ist ein ernstes Problem für die Standardtheorie. Eines ist klar: Astronomisch ist die kalte Dunkle Materie als relevantes Teilchen ausgeschlossen.

NILLES: Nein. Dem widerspreche ich einfach. Und dem widersprechen 95 Prozent deiner Kollegen. Noch einmal: Das Standardmodell hat Vorhersagen gemacht. Und diese Vorhersagen haben sich bewahrheitet. Und jetzt gibt es zugegebenermaßen gewisse Strukturen, bei denen es Fragen gibt. Nun kann man sich die Frage stellen: Sind das Newtonsche Gesetz und die allgemeine Relativitätstheorie falsch? Ich stelle sie mir nicht. Ich würde sie nur aufgeben, wenn es was Besseres gäbe.

Man kann natürlich bei kleinräumigen Strukturen sagen: Hier habe ich eine Alternative, die besser funktioniert. Aber es fehlt der Test, die Vorhersage des Alternativmodells, von der man sagen kann: Wenn sie eintritt, dann haben wir gezeigt, dass wir Recht haben.

KROUPA: Dazu brauchen wir jemanden, der das berechnet. Und daran scheitert es momentan.

FRAGE: Eine Beobachtung neueren Datums bezieht sich auf das so genannte Bullet Cluster - das sind zwei kollidierende Galaxienhaufen. Dort scheint sich das Zentrum der Gravitationsanziehung an einer ganz anderen Stelle zu befinden als die sichtbare Materie. Spricht das nicht doch für Dunkle Materie, Herr Kroupa?

KROUPA: Es gibt eine relativistische Formulierung von MOND - also eine Form, die auch die allgemeine Relativitätstheorie beinhaltet -, die den Bullet Cluster schön erklärt. Allerdings muss man dazu in der Tat etwas heiße Dunkle Materie einführen.

NILLES: Jetzt mal im Klartext: Es gibt also doch Dunkle Materie?

KROUPA: In dem eben beschriebenen Modell - von dem ich nicht weiß, ob es stimmt - braucht man heiße Dunkle Materie. Und dieses Szenario ist ebenso konsistent wie das Standardmodell: Wenn man sich andere Galaxienhaufen ansieht, braucht man dort laut dieser Alternativtheorie auch heiße Dunkle Materie mit exakt denselben Eigenschaften. Das wurde publiziert. Und natürlich ignoriert.

NILLES: Für mich ähnelt MOND der Epizykel-Theorie im ptolemäischen Weltbild: Dort hat man immer, wenn eine Ungereimtheit auftrat, etwas Neues eingeführt, um das zu erklären. KROUPA: Welche Epizykeln hat man eingefügt? Sag das mal ganz konkret.

NILLES: Also: die Newtonsche Gravitation ist falsch.

KROUPA: Das ist kein Epizykel, das ist eine Beobachtung.

NILLES: Daraus folgt: Die allgemeine Relativitätstheorie ist falsch; man muss zwei neue Teilchen einführen, um MOND relativistisch zu formulieren. Man muss zudem ein steriles Neutrino einführen - was de facto Dunkle Materie ist, nur eben heiße! -, um die Fluktuationen der Hintergrundstrahlung zu erklären. Und dann kann man immer noch nicht die großräumige Verteilung der Materie im Universum erklären.

Das erste Argument von MOND war: Man will kein neues Teilchen einführen, also ändert man die fundamentalen Gesetze. Nun stelle ich fest, dass man schon drei neue Teilchen eingeführt hat, nur um das eine Teilchen zu verhindern.

FRAGE: Wie kann man die Frage nach der Existenz Dunkler Materie entscheiden?

NILLES: Eine mögliche Form der Dunklen Materie sind die so genannten "WIMPs" (Weakly Interacting Massive Particles, zu deutsch "schwach wechselwirkende massereiche Teilchen", die Red.). Das sind stabile neutrale Teilchen, die sich im frühen Universum gebildet haben. Es gibt nun theoretische Modelle, die Vorhersagen für ein solches schweres Teilchen treffen. Demnach müsste man in dem neuen LHC-Beschleuniger am CERN in Genf derartige WIMPs erzeugen können.

Außerdem gibt es Experimente, mit denen man versucht, bisher unentdeckte Teilchen aus dem All nachzuweisen. Die eingesetzten Detektoren sind bislang allerdings noch nicht empfindlich genug. In fünf bis zehn Jahren sollte man jedoch in Bereiche vorstoßen, in denen das WIMP zu finden sein sollte.

Wenn ich nun im LHC ein Teilchen erzeuge, das Dunkle Materie sein könnte, kenne ich seine Eigenschaften. Ich weiß also genau, wonach ich unter den Teilchen, die aus dem All auf uns einprasseln, suchen muss. Würde tatsächlich etwas gefunden, wäre das eine Sache, an der Kritiker der Dunklen Materie schlecht vorbei kämen. Könnten wir dagegen kein entsprechendes Teilchen aufspüren, wäre das ein gutes Argument gegen die Dunkle Materie.

FRAGE: Herr Kroupa, was wäre denn eine Beobachtung, die zeigen würde, dass Ihre Theorie falsch wäre?

KROUPA: Sie verstehen mich falsch. Ich habe noch keine eigene Theorie. Ich möchte die Entwicklungsgeschichte der Milchstraße im Rahmen des Standardmodells verstehen. Und dabei finde ich, dass das Modell ganz gravierend versagt. Ich sehe nicht, dass es überhaupt noch physikalische Argumente gibt, um das Standardszenario mit den Beobachtungen in Einklang zu bringen. Und diese Probleme verschwinden nicht, wenn man ein Teilchen findet.

Im Standardmodell kann man das lokale Volumen nicht verstehen. Das ist für mich Vergangenheit. Ich schaue mich also um, welche Alternativen momentan "am Markt" sind, wenn man so will. Und darunter ist die heute beste Beschreibung von Galaxien die von Mordehai Milgrom, der MOND vorgeschlagen hat. Das sind die Keplerschen Gesetze für Galaxien. Das ist zumindest, was die Empirie hergibt. Die dahinter liegende Theorie der Gravitation kennen wir noch nicht - ebensowenig, wie Keplers Zeitgenossen die Newtonschen Gravitationsgesetze kannten.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Galaxien auf Crashkurs: Der so genannte Bullet Cluster zeigt zwei Galaxienhaufen nach ihrem Zusammenprall. Durch den Crash wurde das Gas in den Galaxienhaufen abgebremst; es ist in der Abbildung pink eingefärbt. Hier sollte sich auch der größte Teil der normalen Materie befinden. Die Gravitationseffekte sind jedoch an den blau eingefärbten Stellen am höchsten. Viele Forscher sehen das als einen deutlichen Hinweis auf die Existenz Dunkler Materie.

Auf dem Bethe-Kolloquium im November diskutierten Professor Dr. Simon White (Mitte) und Professor Dr. Pavel Kroupa (rechts) über die Existenz Dunkler Materie. Der Podcast zu der von Professor Dr. Hans Peter Nilles (links) moderierten Veranstaltung verzeichnet bis heute enorm hohe Zugriffszahlen.

Professor Dr. Pavel Kroupa hält die Theorie der modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND) für die heute beste Beschreibung von Galaxien.


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten, Februar 2011, Seite 18-22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2011