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GESCHICHTE/069: Wie auf Erden, so im Himmel. Zwei Welten - eine Physik (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 4/09 - April 2009
Zeitschrift für Astronomie

Welt der Wissenschaft: Galilei-Serie, Teil 6
Wie auf Erden, so im Himmel. Zwei Welten - eine Physik

Von Jochen Büttner


Galilei und seine Zeitgenossen überwanden jene strikte Trennung zwischen einer Physik des Himmels und einer anderen Physik der Erde, die das aus der griechischen Antike überlieferte Denken beherrschte.


Es gehört zu den populärsten Mythen der Wissenschaftsgeschichte, dass ein vom Baum fallender Apfel Newton die entscheidende Idee für seine Himmelsmechanik geliefert habe. Wie ein solcher Apfel vom Baum fällt, hatte Galilei allerdings schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor mit seinem Fallgesetz beschrieben. Und er hatte als Erster das soeben erfundene Teleskop zum Himmel gerichtet. Warum, kann man fragen, war es dann nicht schon Galilei, sondern erst Newton, dem es gelang, allgemeine, auch für die Himmelskörper gültige, mechanische Bewegungsgesetze aufzustellen?

Mag die Geschichte vom Apfel auch nachträglich erfunden sein, so lenkt sie doch unsere Aufmerksamkeit auf einen entscheidenden Aspekt von Newtons Entdeckung: Es sind dieselben mechanischen Gesetze, die einerseits einen so profanen irdischen Gegenstand wie den Apfel zu Boden fallen lassen und andererseits auch die Bewegungen der himmlischen Körper bestimmen.

Aus unserer Perspektive erscheint Newtons Einsicht nahezu trivial. Es ist in der Tat eine Grundannahme der modernen Physik, dass dieselben Gesetzmäßigkeiten für das irdische wie auch für das kosmologische Geschehen verantwortlich sind. So selbstverständlich uns diese Annahme, genährt durch den Erfolg der modernen Physik, heute auch erscheinen mag, ist sie historisch doch nicht ohne Alternative.

Der Gegensatz zwischen dem irdischen Werden und Vergehen, in dem sich kaum eine Ordnung erkennen lässt, und der Regelmäßigkeit der Bewegung der Himmelskörper hatte Aristoteles im 4. vorchristlichen Jahrhundert dazu geführt, den Kosmos in zwei Regionen aufzuteilen - eine himmlische, bis zum Mond hinabreichende, und eine irdische. Laut Aristoteles wird das Geschehen in diesen beiden strikt voneinander getrennten Bereichen von gänzlich verschiedenen Gesetzmäßigkeiten bestimmt.

Die Probleme, mit denen sich Galilei und seine Zeitgenossen bis hin zu Newton bei ihren Versuchen konfrontiert sahen, ihre wachsenden Erkenntnisse über irdische Mechanik auf die Bewegungen der himmlischen Körper anzuwenden, lassen sich tatsächlich nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung von Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen irdischer und himmlischer Physik verstehen.


Mythische Erklärungen und geometrische Modelle

Die Übertragung irdischer Erfahrungen auf himmlische Phänomene begegnet uns schon in den ersten mythischen Kosmologien. In einem sumerischen Mythos aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. wird der Mond als Boot des Himmels bezeichnet; für die Ägypter ist die Welt eine von Wasser umflossene Scheibe, über die sich das Himmelsgewölbe, der sternbedeckte Leib der Göttin Nut, wölbt; und in der griechischen Mythologie lenkt Helios den Sonnenwagen über den Himmel.

Auch wenn in diesen Mythen der Bereich konkreter Alltagserfahrungen überschritten wird - weder gab es in Babylon und Griechenland fliegende Boote oder Wagen noch in Ägypten Riesen -, werden hier letztlich doch kosmologische, am Himmel angesiedelte Phänomene unter Bezugnahme auf Phänomene des irdischen Alltags gedeutet.

In frühen Kulturen sind astronomische Beobachtungen nicht nur in mythisch religiöse Kontexte eingebunden, sie dienen auch pragmatischen Zwecken. Zum Beispiel ist die Bestimmung der Zeit anhand astronomischer Beobachtungen für die landwirtschaftliche Planung bedeutsam.

Über die reine Beobachtung und Aufzeichnung der Himmelsbewegungen hinaus kommt es in der antiken griechischen Astronomie erstmals zur Herausbildung von geometrischen Modellen, welche die beobachteten Himmelsbewegungen nachbilden. Platon soll die griechischen Astronomen mit folgender Frage herausgefordert haben: »Unter der Annahme welcher gleichförmigen und regelmäßigen Bewegungen lassen sich die scheinbaren Bewegungen der Planeten erklären?«

Eudoxos von Knidos, der wohl Platons Akademie besucht hat, gelingt es als Erstem, ein umfassendes geometrisches Modell der Himmelsbewegungen aufzustellen. Dieses Modell setzt sich aus einem System von Kugelschalen oder Sphären zusammen, die um die im Mittelpunkt ruhende Erde rotieren. Die Positionen von Sonne, Mond und Planeten sind durch einen Punkt auf jeweils einer der Sphären bestimmt. Die äußerste Kugelschale trägt die Fixsterne. Die Rotationsachsen der meisten Sphären sind nicht starr, da ihre Lage durch einen Punkt auf einer der anderen Sphären bestimmt wird. Die Bewegungen von Sonne und Mond werden so aus der gemeinsamen Bewegung von jeweils drei Sphären, diejenigen der Planeten aus der gemeinsamen Bewegung von vier Kugelschalen erklärt.

Wie von Platon gefordert, lassen sich mit dem System des Eudoxos die komplizierten Planetenbewegungen erstmals durch das gleichzeitige Wirken mehrerer einfacher Kreisbewegungen erklären. Eudoxos' Werke sind nicht überliefert. So bleibt es der Spekulation überlassen, ob er selbst sein System homozentrischer Sphären lediglich als geometrisches Modell oder als physikalisches Abbild der Realität verstanden hat.

Mechanismen, die der Veranschaulichung astronomischer Modelle dienen, werden in der antiken Literatur mehrfach erwähnt. Man kann dies als Indiz dafür werten, dass Bewegungsvorstellungen wie diejenige des Eudoxos letztlich auf einfache mechanische Erfahrungen zurückgehen. Keines dieser Anschauungsmodelle ist uns erhalten. Dass das technische Knowhow zu ihrer Herstellung durchaus vorhanden war, beweist ein in einem Schiffswrack vor der griechischen Insel Antikythera entdeckter, äußerst komplizierter Mechanismus, welcher der Bestimmung der Bewegungen der Himmelskörper diente.


Zwei Welten mit getrennter Physik

Aristoteles, der das System des Eudoxos beschreibt und in angepasster Form übernimmt, versteht es in der Tat als Beschreibung einer physikalischen Welt, aber eben einer gänzlich anderen Welt als der irdischen: Bei Aristoteles werden die Sphären des Eudoxos zu echten, wenn auch unsichtbaren (durchsichtigen) Kugelschalen, auf denen die Planeten angebracht sind und von denen sie getragen werden.

Die Kugelschalen sowie die himmlischen Körper bestehen aus einem eigenen Element, das Aristoteles Äther nennt - ein Namen, den er vom griechischen aèi thein (»immerfort laufen«) ableitet. Dieser unvergängliche und göttliche Äther hat mit den irdischen Elementen nichts gemein. So ist er zum Beispiel weder schwer noch leicht. Und im Unterschied zu aller irdischen Materie liegt es in seiner Natur, sich im Kreis zu bewegen.

Im Gegensatz zum ursprünglichen System des Eudoxos ist die von Aristoteles entwickelte Variante weit mehr als nur ein astronomisches Modell. Sie ist eingebettet in seine Welterklärung im Rahmen einer allumfassenden Naturphilosophie. Die strenge Trennung zwischen irdischer und himmlischer Physik wird damit zur Grundlage eines Weltmodells, das mehr als 2000 Jahre überdauern und über lange Phasen das abendländische Denken bestimmen soll.

In Anbetracht des eklatanten Gegensatzes zwischen der Ordnung und Perfektion, die am Himmel zu beobachten sind, und der scheinbar regellosen Unordnung der irdischen Welt, die von Veränderung und Unvollkommenheit geprägt ist, erscheint die von Aristoteles vorgenommene Trennung durchaus sinnvoll.

Gleichzeitig mutet sie jedoch artifiziell an, dem Versuch geschuldet, das Wissen über den Himmel und jenes über die Erde in einem allumfassenden Weltbild zu vereinen. Da sich kaum allgemein gültige Prinzipien finden lassen, anhand derer das Wissen über beide Bereiche vereint werden kann, wird stattdessen eine grundsätzliche Unvereinbarkeit postuliert.

Kann die Annahme einer himmlischen Physik, die weit gehend als reine Verneinung einer irdischen Physik bestimmt wird, überhaupt aufrechterhalten werden? Schon bei Aristoteles selbst zeigt sich, dass eine solche Trennung zwischen irdischer und himmlischer Physik zumindest in aller Strenge kaum möglich ist.


Von Aristoteles zu Galilei

Zum Beispiel führt Aristoteles in das von Eudoxos übernommene System zusätzliche Sphären ein, deren Aufgabe es ist, die Bewegung der schon vorhandenen Sphären auszugleichen. Zu Gunsten einer mechanisch konsistenten Beschreibung ist er also bereit, eine erhebliche Verkomplizierung seines Systems in Kauf zu nehmen.

In seiner Meteorologie wendet sich Aristoteles der Frage zu, warum die Sonne Wärme spendet. Wärme als irdische Eigenschaft kommt der himmlischen Materie und damit auch der Sonne nicht zu. Es ist vielmehr erst die ständige Anregung der irdischen Welt durch die himmlischen Bewegungen, insbesondere durch die Sonne, die Wärme produziert. In seiner Erklärung bezieht sich Aristoteles explizit auf dasjenige irdische Phänomen, welches man heute als Reibungswärme bezeichnen würde, und lässt so zu, dass ein irdischer Effekt über die Grenze zwischen Himmel und Erde hinaus wirksam wird.

Schon die Himmelsphysik des Aristoteles zeigt sich also von Vorstellungen durchtränkt, die sich letztlich aus irdischen Erfahrungen herleiten. In der sich an sein Werk anschließenden scholastischen Tradition wird immer deutlicher, dass eine strikte Trennung zwischen himmlischer und irdischer Physik nicht gewahrt werden kann.

Argumente mechanischer Natur werden immer häufiger für die Erklärung von Himmelsbewegungen herangezogen. Mittelalterliche Autoren beginnen gar von der machina mundi, also der Maschine der Welt zu sprechen, wenn sie vom Kosmos reden. Bereits im 14. Jahrhundert vergleicht Nikolaus Oresme diese machina mundi mit dem Räderwerk einer Uhr, einer mechanischen, von Menschenhand geschaffenen Apparatur. (Links im Bild die »Berner Zytglogge«, eine spätmittelalterliche Astronomische Uhr - siehe Bildunterschrift 2.)

Ende des 16. Jahrhunderts behauptet Tycho Brahe: »Die himmlische Maschine ist keineswegs ein fester, undurchdringlicher Körper, vollgestopft mit den verschiedensten realen Sphären, wie es bisher die meisten Leute glauben.« Seine Bemerkung macht deutlich, welche Akzeptanz mechanische Vorstellungen des Himmels zu seiner Zeit gefunden haben. Weil sich in seinem eigenen, neuen astronomischen System die Sphären der Himmelskörper durchdringen, will Brahe allerdings die Mechanik fester, undurchdringlicher Sphären durch diejenige flüssiger, durchlässiger Sphären ersetzen. Einem endgültigen Einreißen der von Aristoteles eingeführten Trennung zwischen irdischer und himmlischer Physik und damit einer vollständigen Mechanisierung des Himmels scheint gegen Ende des 16. Jahrhunderts, also genau in der Zeit, in der sich Galilei für die Gesetze der Mechanik zu interessieren beginnt, nichts mehr im Wege zu stehen.

Bis zur Frühen Neuzeit hatte sich das aristotelische Weltbild jedoch zu weit mehr als einem umfassenden naturphilosophischen System entwickelt. Spätestens seit Thomas von Aquin bildete es die wesentliche Wissensbasis für eine Weltinterpretation auf der Grundlage der christlichen Heilslehre. Der Erfolg dieser Synthese biblischer Überlieferung und aristotelischer Weltvorstellung wird vielleicht nirgends so deutlich wie in der Identifikation des nach Aristoteles für die Bewegung der himmlischen Sphären verantwortlichen, unbewegten Bewegers mit dem christlichen Schöpfergott (siehe Bildunterschrift 3).

Durch die Einbettung des aristotelischen Weltbilds in die christliche Lehre wird die Trennung zwischen einer himmlischen und einer irdischen Physik geradezu dogmatisch aufgeladen. Alle Argumente, die diese Barriere überschreiten, laufen damit Gefahr, als häretisch begriffen zu werden.


Zwei Welten, eine Mechanik

Die hier grob skizzierte Entwicklung markiert die Ausgangslage für Galilei. Einerseits ist ihm mit der aristotelischen Physik das begriffliche Rahmenwerk zur Beschreibung irdischer Bewegungen und ihrer Verursachung vorgegeben. Andererseits ist diese Physik in ein umfassendes System der Welterklärung integriert, in dem zwischen den Vorgängen am Himmel und denen auf der Erde strikt unterschieden wird. Denker vor Galilei haben diese Grenze mit ihren mechanischen Argumenten zwar überschritten, gefallen ist sie damit jedoch, nicht zuletzt auf Grund ihrer religiösen Konnotation, noch nicht.

Daneben sind es vor allem zwei weitere Entwicklungen, die Galileis wissenschaftliches Denken bestimmen: Zum einen erwachsen der Wissenschaft seiner Zeit durch den rasanten Fortschritt der zeitgenössischen Technologie immer neue Herausforderungen, die zum Ausbau und schließlich zur Restrukturierung des mechanischen Wissens führen; zum anderen hat sich auch im Bereich des astronomischen Wissens eine entscheidende Entwicklung vollzogen.

Im Jahr 1543 führt Nikolaus Kopernikus sein neues astronomisches Modell ein, das die Sonne statt der Erde in das Zentrum des Weltalls rückt. Zunächst können nur wenige Gelehrte seine Theorie, die sie als eine vereinfachte Methode zur Bestimmung der Planetenkonstellationen verstehen, nachvollziehen.

Indem es die Erde zum Planeten macht, gerät das kopernikanische System jedoch bald auch zu einer physikalischen Herausforderung. Warum eigentlich sind mechanische Effekte, wie man sie auf einer bewegten Erde vermuten würde, nicht zu bemerken? Warum etwa trifft ein von einem Turm herabfallender Stein nicht westlich von dessen Fundament auf, obwohl der Turm sich doch, während der Stein herabfällt, mit der täglichen Drehung der Erde ein erhebliches Stück nach Osten bewegt haben müsste?

Ein mechanisches Interesse ist bei Galilei schon früh ausgeprägt, ebenso wie sein Glaube an das kopernikanische System. Dennoch sucht man bei Galilei vergeblich nach einem großen Entwurf zur Mechanik der Himmelsbewegungen. Vielmehr zeigen über sein gesamtes Werk verstreute, einzelne Gedankengänge, wie er in seinen Überlegungen immer wieder unweigerlich an die Grenze zwischen Himmel und Erde stößt und sie mit mechanischen Argumenten überschreitet.


Vom Schwungrad zur Bewegung der Fixsternsphäre

In der Nationalbibliothek in Florenz findet sich ein Bündel Manuskripte, dessen Umschlag den Titel »De Motu antiquiora«, also etwa »Älteres zur Bewegung«, trägt. Es enthält mehrere Schriften, die Galilei wahrscheinlich um 1592, entweder noch in Pisa oder in seiner frühen Zeit als Professor in Padua, verfasst, aber nie veröffentlicht hat.

In einer dieser Schriften diskutiert Galilei die Rotationsbewegung einer schweren Marmorkugel um eine starre Achse. Er geht dabei von der Aufteilung der Bewegungen in natürliche und erzwungene aus, wie sie von der aristotelischen Physik vorgenommen wird, und fragt sich, welchem der beiden Bewegungstypen die Rotation der Marmorkugel angehört.

Natürliche Bewegungen sind laut Aristoteles die Bewegungen irdischer Körper hin zu ihrem angestammten Ort: Schwere Körper tendieren aus innerer Ursache zum Zentrum der Welt, das im aristotelischen Kosmos mit dem Zentrum der Erde zusammenfällt. Im Gegensatz dazu sind erzwungene Bewegungen solche, die einer äußeren Bewegungsursache bedürfen. Fällt ihre äußere Ursache fort, so kommen erzwungene Bewegungen zum Stillstand.

Wenn bei einer rotierenden Marmorkugel Drehachse und Schwerpunkt zusammenfallen, dann, so argumentiert Galilei, versagt diese aristotelische Klassifikation der Bewegung. Weder bewegt sich der Schwerpunkt der Kugel in natürlicher Weise zum Zentrum der Welt hin noch gewaltsam in eine andere Richtung. Galilei folgert, dass die Rotation keine natürliche und auch keine gewaltsame Bewegung sein kann. Sieht man von der Reibung ab, sagt Galilei weiter, so lässt sich daher nicht mehr entscheiden, ob sich die Rotation, einmal angestoßen, ewig fortsetzt, oder ob sie notwendig von selbst zum Stillstand kommt.

Ist die Masse der Kugel ungleichmäßig verteilt, so liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der horizontalen Drehachse durch das Zentrum der Kugel. Er rotiert um die Achse und nähert sich abwechselnd dem Zentrum der Welt, um sich dann wieder von ihm zu entfernen. Nach Galilei muss man also von einer aus natürlicher und gewaltsamer Komponente gemischten Bewegung reden. Beim Wegfallen des äußeren Antriebs käme die Rotation der ungleichmäßigen Kugel auch dann notwendigerweise zur Ruhe, so schließt Galilei, wenn die Bewegung vollkommen reibungsfrei verliefe.

Dies gilt aber laut Galilei nicht mehr, wenn man die Rotationsachse der ungleichmäßigen Marmorkugel in einem Gedankenexperiment in das Zentrum der Welt versetzt. Dann nämlich bewegt sich der Schwerpunkt auf einer Kreisbahn im festen Abstand um das Zentrum, und es ist wiederum nicht mehr zu entscheiden, ob es sich bei dieser Rotation um eine natürliche oder um eine erzwungene Bewegung handelt.

Galilei ist nicht der Einzige, der sich in dieser Zeit Gedanken zur Mechanik der Rotationsbewegung macht. Seit dem späten Mittelalter werden die Antriebsstränge von Mühlen und anderen Maschinen mit großen rotierenden Massen, so genannten Schwungrädern, versehen (siehe Bildunterschrift 4). Für die Praktiker in Galileis Zeit steht der Nutzen solcher Schwungräder außer Zweifel. Für die Theoretiker bleibt die Herausforderung, zu erklären, warum das Hinzufügen einer Masse, die schließlich zusätzlich bewegt werden muss, bestimmte Arbeitsprozesse erleichtert. So wird die Rotationsbewegung zu einem wichtigen Gegenstand der frühneuzeitlichen Wissenschaft.

Was aber haben Galileis Überlegungen zur Rotation mit einer Himmelsmechanik zu tun? Laut Galilei »machen sie den Fehler derjenigen deutlich, die behaupten, dass die Bewegung des Himmels, würde ihm ein Stern hinzugefügt, zum Stillstand käme oder langsamer würde«.

Im November des Jahres 1572 wird eine Supernova am Himmel sichtbar. Tycho Brahe, der die Erscheinung als einer der Ersten beobachtet, deutet sie als neuen Stern. Nicht alle sind von der Erscheinung so begeistert wie Brahe: Tatsächlich stellt die Entstehung eines neuen Sterns die tief in der aristotelischen Lehre verankerte Unveränderlichkeit des Himmels in Frage. So ist es nicht verwunderlich, dass zu deren Verteidigung Argumente ersonnen werden, die beweisen sollen, dass es sich bei der Erscheinung am Himmel nicht um einen neuen Stern handeln kann.

Eines dieser Argumente basiert auf der von Galilei als falsch attackierten Behauptung, dass, würde ein Stern dem Himmel hinzugefügt, sich dessen Bewegung verlangsamen müsste. Da Letzteres nicht beobachtet worden ist, so das Argument, kann es sich bei der Erscheinung am Himmel nicht um einen neuen Stern handeln.

Dieser Gedankengang findet sich unter anderem in Büchern von Girolamo Borro und Francesco Buonamici, die beide Galileis Professoren an der Universität in Pisa waren.

Worin aber liegt die Behauptung begründet, dass sich die Bewegung des Himmels durch das Hinzufügen eines Sterns verlangsamen würde? Sie leitet sich, so Galilei, offensichtlich aus der Erfahrung ab, dass jemand »der ein großes Rad bewegt, entweder mehr arbeiten muss, wenn dem Rad auf einer Seite ein großes Gewicht hinzugefügt wird, oder die Bewegung wird langsamer«.

Im aristotelischen Weltbild bewegt Gott, der unbewegte Beweger, die Fixsternsphäre. Die Ursache der himmlischen Bewegungen ist damit ebenso unveränderlich wie Gott selbst. Überträgt man die von Galilei zitierte Erfahrung auf den Himmel, so scheint tatsächlich zu folgen, dass sich die Bewegung der Fixsternsphäre durch das Hinzufügen eines Sterns verlangsamen müsste.

Dies jedoch ist ein Fehlschluss, denn, so fährt Galilei fort, »würde sich das Rad um das Zentrum der Welt bewegen, wer würde dann noch sagen, dass es durch das Gewicht behindert wird?«. Anstatt der Rotation einer Kugel an der Erdoberfläche entspricht die Bewegung der Fixsternsphäre im aristotelischen Weltbild tatsächlich vielmehr der Rotation einer Kugel um das Zentrum der Welt.

Der Charakter dieser letzteren Bewegung ändert sich aber laut Galileis Gedankenexperiment auch dann nicht, wenn man der Kugel ein zusätzliches Gewicht beziehungsweise dem Himmel einen neuen Stern hinzufügt. Die Behauptung, dass sich die Bewegung der Fixsternsphäre durch das Hinzufügen eines Sterns verlangsamen würde, und das Argument gegen den neuen Stern sind somit hinfällig.

Offensichtlich bedient sich Galilei hier zur Erklärung der Bewegung des Himmels einer mechanischen Analogie. Diese Analogie ist allerdings schon Teil desjenigen Arguments, das Galilei aufnimmt und korrigiert. Seine Begegnung mit einer Himmelsmechanik erscheint hier also geradezu als unausweichliche Konsequenz der geteilten Wissensgrundlage, vor deren Hintergrund sich sein Denken abspielt. Ähnliches lässt sich auch in den anderen Fällen sagen, in denen Galilei mechanische Überlegungen mit Fragen der Himmelsbewegungen verknüpft.


Von den Geschossbahnen zur Planetenbewegung

Etwas mehr als zehn Jahre später, in einer seiner produktivsten Schaffensperioden, experimentiert Galilei in der Werkstatt seines Hauses in Padua mit kleinen Bronzekugeln. Er lässt sie aus verschiedenen Höhen über eine schiefe Ebene fallen (Bildunterschrift 5) und lenkt anschließend diese beschleunigte Fallbewegung mittels eines Bogenstücks in eine horizontale Bewegung gleichförmiger Geschwindigkeit, zum Beispiel entlang einer Tischplatte, um.

An der Kante des Tisches werden die Kugeln horizontal abgeschossen und fallen entlang einer Parabel zu Boden. Dabei befindet sich ihr Aufschlagspunkt umso weiter vom Tisch entfernt, je größer ihre Geschwindigkeit beim Verlassen der Tischkante, und damit auch je höher der Startpunkt der Kugel auf der schiefen Ebene war. Galilei variiert den Startpunkt und untersucht, wie sich die resultierende Schussweite ändert.

Wir wissen dies so genau, weil Galilei sein Experiment zumindest schematisch auf einer Seite seiner Notizen zur Bewegung, die heute als Teil des Manuskriptbündels Ms. Gal. 72 in der Nationalbibliothek in Florenz aufbewahrt werden, dargestellt hat. Auf dieser Seite (siehe Bildunterschrift 6) notiert er darüber hinaus die von ihm gemessenen Schussweiten und vergleicht sie mit den Werten, die er auf Grund seiner theoretischen Überlegungen erwartet.

Galileis Experiment beruht auf seinem Wissen über die Form der Geschossbahn und geht von bestimmten Annahmen über die Umlenkung von Fallbewegungen aus. Erstens soll die Zunahme der Geschwindigkeit bei der Fallbewegung einem speziellen, von ihm angenommenen Fallgesetz entsprechen. Zweitens geht Galilei davon aus, dass die so erlangte Geschwindigkeit beim Umlenken erhalten bleibt. Und drittens postuliert er, dass horizontale Bewegungen, solange sie keine äußeren Hindernisse überwinden müssen, ihre Ausgangsgeschwindigkeit beibehalten, das heißt gleichförmig vonstattengehen.

Die Überlegungen, die Galilei zur Frage der Projektilbewegung anstellt und deren Resultate er 1638 in den »Discorsi« als Teil seiner neuen Theorie der Bewegung veröffentlicht, können als Antwort auf die Herausforderungen verstanden werden, die den Ingenieuren der frühen Neuzeit durch die Entwicklung des Geschützwesens seit dem späten Mittelalter erwuchsen. Mit der zunehmenden Reichweite der Artillerie erhalten Fragen der Ballistik gerade im 16. Jahrhundert immer größere Bedeutung (siehe Bildunterschrift 7).

Was aber hat Galileis ballistisches Experiment mit dem Problem der Himmelsmechanik zu tun? Eine Antwort findet sich in seinem »Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme« von 1632. Dort stellt er ein kosmologisches Modell vor, das, wie sich zeigt, auf exakt derselben Annahmen beruht wie sein Experiment.

Galileis Entwurf einer Kosmologie geht von einem vereinfachten heliozentrischen Modell aus, das er Keplers 1597 veröffentlichtem »Mysterium Cosmographicum« entnimmt. Nach diesem Modell bewegen sich die Planeten auf perfekten Kreisbahnen um die Sonne. Dazu übernimmt Galilei auch die von Kepler angegebenen konkreten astronomischen Daten, das heißt die Bahnradien und Umlaufzeiten der Planeten.

Gemäß Galileis Kosmologie resultieren die beobachteten Bahnbewegungen daraus, dass die Planeten ursprünglich aus einer bestimmten Distanz in ihre Umlaufbahnen gefallen sind und dort ihre Bewegung mit der einmal erlangten Geschwindigkeit auf ihren Kreisbahnen fortgesetzt haben. Der Erklärungswert seiner Hypothese liegt in der Annahme, dass sich ein gemeinsamer Startpunkt für die Fallbewegung aller Planeten finden lässt, so dass sich aus seinem Modell die von Kepler angegebenen Bahngeschwindigkeiten der Planeten ergeben.

Der Gedanke, der dieser Hypothese Galileis zu Grunde liegt, entspricht damit begrifflich genau dem seines Experiments zur Projektilbewegung. Fallen bei Letzterem die Körper aus unterschiedlichen Höhen in ein und dieselbe Bahn, wo sie sich gleichförmig mit verschiedenen Geschwindigkeiten horizontal weiterbewegen, so fallen die Planeten seiner Kosmologie aus ein und derselben Höhe in unterschiedliche Kreisbahnen, auf denen sie sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten gleichförmig weiterbewegen.

Im »Dialog« und noch einmal in den »Discorsi«, also nach seiner Verurteilung durch die Inquisition, stellt Galilei seine kosmologische Hypothese vor und behauptet darüber hinaus, Berechnungen angestellt zu haben, die eine »wundervolle Übereinstimmung« seiner These mit den Beobachtungen ergeben.

Solche Rechnungen lassen sich tatsächlich in Galileis Bewegungsnotizen identifizieren. Sie zeigen, dass Galilei anhand seiner Hypothese Keplers Daten keinesfalls exakt reproduzieren kann, wie er behauptet. Sein Modell weist aber qualitative Übereinstimmungen mit den astronomischen Beobachtungen auf, wie zum Beispiel ein Anwachsen der Bahngeschwindigkeiten für sonnennähere Planeten. Diese qualitative Übereinstimmung liefert Galilei wohl letztendlich den Anlass dazu, seine kosmologische Hypothese zu publizieren, obgleich sie noch nicht völlig ausgearbeitet war.

Wohl nirgendwo sonst in seinem Werk überschreitet Galilei die Grenze zwischen irdischer und himmlischer Physik so deutlich wie in seiner kosmologischen Hypothese. Wie schon im Fall seiner Überlegungen zur Rotation erfolgt allerdings auch hier die Ausweitung eines mechanischen Arguments auf eine himmlische Bewegung fast zwangsläufig, als Resultat des geteilten Begriffsrahmens, vor dessen Hintergrund sich Galileis Denken abspielt.

Gemäß der aristotelischen Physik fallen Kugeln auf schiefen Ebenen in natürlicher Weise hinab. Dagegen muss die Bewegung eine schiefe Ebenen hinauf gewaltsam erfolgen. Für den Grenzfall einer horizontalen Ebene nimmt Galilei an, dass weder das eine noch das andere gilt, dass folglich eine ruhende Kugel in Ruhe bleibt und eine bewegte Kugel ihre Bewegung beibehält. Diese Annahme, die unter anderem auch Galileis Deutung seiner ballistischen Experimente zu Grunde liegt, scheint das Trägheitsprinzip der modernen Mechanik vorwegzunehmen.

Was aber kennzeichnet eine horizontale Ebene? Auch bei deren Bestimmung verlässt sich Galilei auf seinen aristotelischen Begriffsrahmen. Ein Körper kann sich nur dann indifferent gegenüber Ruhe und Bewegung verhalten, wenn er sich dem Zentrum weder nähert noch sich von ihm entfernt. Was bei kleinen Maßstäben zunächst als horizontale, ebene Bahn erscheint, erweist sich so, beim Übergang zu größeren Dimensionen, gemäß aristotelischer Logik als Kreis. Es ist genau der Übergang von der Bewegung entlang einer horizontalen Ebene zur Kreisbewegung, der den Übergang von Galileis Experiment zu seiner Kosmologie kennzeichnet.

Die Weiterentwicklung von Galileis Projektiltheorie zu einer kosmologischen Hypothese erscheint somit tatsächlich als nahezu unausweichliche Konsequenz des zu Grunde liegenden aristotelischen Begriffssystems. Sie führt allerdings zu einer aus heutiger Sicht problematischen Verallgemeinerung des Trägheitsprinzips. Anstatt den Trägheitsbegriff von der gleichförmigen Horizontalbewegung auf eine geradlinige Bewegung in beliebiger Richtung zu verallgemeinern, geht Galilei fälschlicherweise davon aus, dass man kreisförmige Bewegungen als Trägheitsbewegungen auffassen kann.


Vom Pendel zu den Gezeiten

In Galileis Notizen zur Bewegungslehre findet sich noch eine weitere Überlegung, in der er mit einem mechanischen Argument die Grenze zwischen Himmel und Erde überschreitet.

Galilei stellt sich ein gigantisches Pendel vor, dessen Pendellänge dem Erdradius entspricht, und nimmt an, dass dieses Erdpendel in exakt sechs Stunden von einem Umkehrpunkt der Bewegung zum anderen schwingt. Anhand des Pendelgesetzes, das die Länge eines Pendels mit dessen Schwingungsdauer in Beziehung setzt, berechnet er auf einer der Seiten des Manuskripts die Zeit, die ein Pendel von 16 florentinischen Ellen, also ungefähr zehn Meter Länge, für dieselbe Bewegung benötigen würde.

Ein Erdpendel gibt es nicht, ein zehn Meter langes Pendel schon, zum Beispiel in Form schwingender Leuchter, wie sie zu Galileis Zeit von den Decken der großen Kirchen herabhingen. Bei Galileis Berechnungen handelt es sich offensichtlich um den Versuch, aus der Hypothese, dass ein Erdpendel mit einer Periode von sechs Stunden schwingt, eine beobachtbare Konsequenz, nämlich die Schwingungsdauer eines zehn Meter langen Pendels, abzuleiten.

Wie rotierende und geschossene Körper gehören auch schwingende Pendel zu den herausfordernden Objekten der frühneuzeitlichen Wissenschaft. In der zeitgenössischen Technologie findet das Pendel verschiedene Anwendungen, und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begeben sich immer mehr Gelehrte auf die Suche nach einer Erklärung seiner bemerkenswerten Eigenschaften. So schwingt das Pendel zum Beispiel annähernd isochron, das heißt, seine Schwingungsdauer hängt nur in sehr geringem Maß von seiner Auslenkung ab, weshalb es sich so gut zur Zeitmessung eignet.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Galilei sich mit der Mechanik der Pendelbewegung befasst. Tatsächlich behauptet er, als Erster erkannt zu haben, dass Pendel isochron schwingen. Es sind seine Versuche, gerade diese Eigenschaft der Pendelschwingung, an deren absoluter Gültigkeit er sein Leben lang festhält, zu erklären, die den Grundstein für seine neue Bewegungslehre legen.

Erneut stellt sich hier die Frage, was Galileis Überlegungen zur Pendelbewegung mit einer Mechanik der Himmelsbewegung zu tun haben. In seinem »Dialog« von 1632 stellt Galilei eine Gezeitentheorie vor. In diesem Zusammenhang behauptet er, Wasser, das in einem Behälter hin- und herschwappt, verhielte sich wie »ein an einem Faden hängendes Gewicht, das man einmal aus seinem Ruhezustand, das heißt aus der lotrechten Lage, entfernt hat«, also gerade so wie ein Pendel.

Die Idee, die Gezeiten als Vor- und Zurückfluten von Wasser in Behältern verschiedener Form und Größe, wie sie die Meeresbecken darstellen, zu verstehen, hatte Galilei zusammen mit seinem Freund Paolo Sarpi schon früh. Ihnen fiel auf, dass das Wasser im Rumpf eines Bootes, das beim Anlegen unsanft abgebremst wird, zum Bug hin fließt und so, einmal in Bewegung gesetzt, eine ganze Weile hin- und herschwappt.

Die aus diesem Urmodell entwickelte Theorie der Gezeiten zerfällt in zwei Teile. Wie sich das einmal in Bewegung gesetzte Wasser im Boot beziehungsweise in einem Meeresbecken weiterbewegt, hängt wesentlich von der Physik des Systems aus Behälter und Wasser ab. Allerdings bedarf diese Bewegung zuallererst einer äußeren Ursache, wie zum Beispiel des Abbremsens des Boots an einen Steg.

Als mechanische Analogie zum System aus Behälter und Wasser muss die Bewegung des Erdpendels natürlich in derselben Zeit vonstattengehen wie der Wechsel von Ebbe und Flut. So wird zunächst deutlich, warum Galilei eine Schwingungsdauer von sechs Stunden für sein Erdpendel annimmt. Die beobachtbare Schwingungsdauer eines zehn Meter langen Pendels ist zwar vergleichbar, aber doch etwas kürzer als die Zeit, die Galilei auf Grund seiner Annahmen und Berechnungen erwarten würde. Seine Hypothese wird also von dem empirischen Befund weder bestätigt noch gänzlich widerlegt.

Was nun aber die Ursache betrifft, welche die Schwingungsbewegung des Wassers beziehungsweise des Erdpendels auslöst und aufrechterhält, so deutet schon das schiere Ausmaß der Gezeiten auf einen kosmologischen Ursprung hin, den Galilei sucht und im kopernikanischen System auch findet.

Nach Kopernikus vollführt die Erde drei Bewegungen, eine tägliche um ihre eigene Achse, eine jährliche um die Sonne und eine jährliche kegelförmige Bewegung der Erdachse. Aus der Überlagerung der ersten beiden Bewegungen leitet Galilei die Existenz genau derjenigen Beschleunigungen und Verzögerungen ab, die er für sein Erklärungsmodell der Gezeiten benötigt.

Da der Drehsinn der jährlichen und der täglichen Bewegungen gleich ist, addieren sich laut Galilei ihre Geschwindigkeiten auf der sonnenabgewandten Seite der Erde. Auf der Seite, die der Sonne zugewandt ist, verhält es sich umgekehrt: Zwischen diesen Punkten wird das Meerwasser beschleunigt beziehungsweise verzögert, ebenso wie das Wasser in einem Boot, das Fahrt aufnimmt oder anlandet.

Erklärungen der Gezeiten, die von einem direkten Einfluss des Monds ausgehen, weist Galilei explizit als mystisch und okkult zurück. Tatsächlich ist er nicht davon überzeugt, dass die Meere weltweit im Rhythmus eines halben lunaren Tags vor- und zurückfluten. Ganz im Einklang mit seinem Modell des Wassers im Boot glaubt er vielmehr, dass jedes Meeresbecken mit der ihm eigenen, natürlichen Schwingungsperiode auf die äußere Anregung reagiert, deren Periode laut seiner eigenen Theorie 24 Stunden beträgt.

So vervollständigt Galilei sein Gezeitenmodell und schlägt dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits finden die rätselhaften Gezeiten eine Erklärung, indem sie als mechanischer Effekt einer sich bewegenden Erde verstanden werden. Anderseits erscheint die vom kopernikanischen System geforderte Bewegung der Erde nicht mehr absurd, sondern als notwendige Voraussetzung der Entstehung der Gezeiten.

Galilei gelingt damit in seinem Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme ein erstaunlicher Spagat. Zum einen kann er plausibel machen, warum die mechanischen Phänomene, die laut der Gegner des kopernikanischen Systems auftreten müssten, wenn diesem eine physikalische Realität zukäme, nicht eintreffen. Zum anderen macht er in der doppelten Bewegung der Erde eben jene mechanische Ursache der Gezeiten aus, die im Fall einer ruhenden Erde nicht vorhanden wäre. So liefert er seiner eigenen Meinung nach den unumstößlichen Beleg für die Gültigkeit des kopernikanischen Systems.

Galilei ist keineswegs der Einzige, der sich beim Versuch, die Gezeiten zu erklären, einer mechanischen Analogie bedient. Im Jahr 1574 legt Nicolò Sagri eine Gezeitentheorie vor, in der statt dem Pendel eine mechanische Waage für das Steigen und Fallen des Meeres Modell steht. Statt wie bei Galilei die Bewegung der Erde in einem kopernikanischen Universum löst bei Sagri, der das heliozentrische Weltbild ablehnt, eine kalorische Wechselwirkung zwischen dem Mond und dem Meerwasser dessen Bewegung aus (Bildunterschrift 9).

Auch im Fall der Gezeitentheorie Galileis erfolgt die Kopplung eines mechanischen Arguments mit Fragen der Himmelsbewegung fast zwangsläufig. Einerseits lassen sich die Gezeiten durch mechanische Analogien wie diejenige des Pendels oder der Waage beschreiben. Andererseits ist deren Ursache nahezu unvermeidlich im Bereich der himmlischen Physik zu verorten - sei es in einer Wechselwirkung mit dem Mond wie bei Sagri oder in einer doppelten Bewegung der Erde um die Sonne wie bei dem überzeugten Kopernikaner Galilei.

Das kopernikanische System setzt sich durch, nicht aber Galileis Gezeitentheorie. Erst Newton wird es gelingen, das Phänomen der Gezeiten als Ergebnis der Anziehungskräfte der Massen von Mond und Sonne sowie von deren Relativbewegungen zu verstehen.


Von Galilei zu Newton

Mechanische Argumente im Zusammenhang mit den Himmelsbewegungen sind bei Galilei dünn gesät. Die drei hier skizzierten Beispiele stellen wohl seine detailliertesten Überlegungen in dieser Hinsicht dar, andere lassen sich in seinem gesamten Werk kaum finden. In allen drei Fällen ist die Ausweitung mechanischer Überlegungen auf den Bereich des Himmels weniger das Resultat einer gezielten Suche nach einer Himmelsmechanik als vielmehr zwangsläufige Konsequenz der Wissensstrukturen, die dem Denken Galileis zu Grunde liegen. Mit seinen Argumenten trägt Galilei wenn auch im bescheidenen Maße dazu bei, die aristotelische Grenze zwischen einer irdischen und einer himmlischen Physik weiter aufzuweichen.

Wie Galilei steuern auch viele andere Denker seiner Zeit Argumente bei, welche die Mechanisierung des Weltbilds unaufhörlich vorantreiben. Mit seinem gänzlich auf mechanischen Prinzipien beruhenden Weltmodell wird Descartes diese Grenze schon bald vollständig einreißen. Er ist jedoch noch ebenso weit davon entfernt, wie Galilei es war, eine mechanische Theorie zu entwickeln, welche die Aussagen der hochgradig ausdifferenzierten, auf einer jahrtausendealten Tradition astronomischer Beobachtung beruhenden, geometrischen Modelle einholen kann.

Bis zu Newtons Einsicht, dass die himmlischen Körper sich nach genau denselben Gesetzen bewegen wie ein vom Baum fallender Apfel, soll noch einmal fast ein halbes Jahrhundert vergehen. Erst diese Einsicht erlaubt es, eine mechanische Theorie zu entwerfen, welche die Bewegungen des Himmels ebenso exakt reproduzieren und vorhersagen kann wie die erprobten geometrischen Modelle der Astronomie.


Jochen Büttner erforscht am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin Ursachen und Mechanismen der tief greifenden Umstrukturierungen des Wissens im 16. und 17. Jahrhundert.


Literaturhinweise

Dijksterhuis, E. J.: Die Mechanisierung des Weltbildes. Springer, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956.

Kuhn, T. S.: Die kopernikanische Revolution. Vieweg, Braunschweig, 1980.

Büttner, J., Renn, J.: »Kosmologie.« In: Kosmologie und Evolution: Woher die Welt? Woher der Mensch? Borrmann, S., Rager, G. (Hg.), 2009


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Aristoteles (sitzend) trennt irdische und himmlische Physik. Galileo, Kepler (stehend von links nach rechts) und ihre Zeitgenossen stellen diese Trennung in Frage und beginnen mechanische Argumente zur Erklärung der Himmelsbewegung zu entwerfen. Rechts im Bild: Brahe, Kopernikus und Ptolemäus (von links nach rechts)

Bildunterschrift 2:
Die Berner Zytglogge aus dem 15. Jahrhundert. Mittelalterliche Autoren vergleichen den Kosmos mit einem mechanischen Uhrwerk. Gleichzeitig werden kolossale astronomische Uhren gebaut, welche die Himmelsbewegungen wiedergeben.

Bildunterschrift 3:
In dieser Tafel aus Hartmann Schedels »Weltchronik« von 1493 thront der christliche Gott über dem aristotelischen Weltbild. Solche Darstellungen deuten die damalige Symbiose von aristotelischer Naturphilosophie und christlicher Heilslehre bildlich aus.

Bildunterschrift 4:
In seinem Werk »De re metallica« von 1556 beschreibt Georg Agricola diesen Ziehbrunnen mit Hebewinde. An der Achse ist ein schweres Schwungrad angebracht, mit dessen Hilfe laut Argricola drei Männer die Arbeit von vieren verrichten können. Solche Schwungräder stehen Pate für Galileis Überlegungen zur Rotationsbewegung.

Bildunterschrift 5:
Galilei notiert die Messungen seines ballistischen Experiments und vergleicht sie mit Werten, die er theoretisch berechnet hat. Das Experiment wird zur begrifflichen Grundlage seiner kosmologischen Hypothese.

Bildunterschrift 6:
Schon lange vor Galilei versuchte man die Form der Geschossbahnen theoretisch zu bestimmen. Eine der vorgeschlagenen Lösungen ist in diesem Gemälde von 1577 nach Paulus Puchner dargestellt.

Bildunterschrift 7:
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschäftigen sich viele Denker, darunter auch Galilei, mit der Mechanik der Pendelbewegung. Ein schweres Pendel ist Teil des Mechanismus, der diese Sägemühle antreibt.

Bildunterschrift 8:
Ein Boot, das die Lagune von Venedig mit Süsswasser versorgt, wird mit Hilfe eines Wasserhebewerks befüllt. Das Hin- und Herschwappen des Wassers in einem solchen Boot lieferte Galileo wahrscheinlich die entscheidende Eingebung für seine Gezeitentheorie.

Bildunterschrift 9:
Dieses Bild ist dem Werk »Ragionamenti sopra la varietà dei flussi e riflussi» entnommen, in dem Nicolò Sagri 1574 seine Gezeitentheorie darlegte. Danach werden Ebbe und Flut durch eine kalorische Wechselwirkung des Wassers mit dem Mond ausgelöst. Die Bewegung des Wassers wird in Analogie zum Schwingen der Arme einer mechanischen Waage beschrieben.

Bildunterschrift 10:
Diese Büste von Carlo Marcellini (1676) zeigt Galilei mit seinem Teleskop. Aber nicht seine neuen teleskopischen Beobachtungen, sondern das vorhandene immense astronomische Wissen seiner Zeit bildet die Grundlage für Galileis Argumente zur Mechanik der Himmelsbewegungen.


© 2009 Jochen Büttner, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1, 2, 3, 4 und 5 der Serie finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Naturwissenschaften -> Astronomie ->
GESCHICHTE/064: Galileis Revolution und die Transformation des Wissens (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/065: Wie entstehen neue Weltbilder? (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/066: Die Ursprünge des Teleskops (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/067: Galileis astronomische Werkstatt (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/068: Das Rot der Augen - Die Erforschung der Sonne zur Zeit (Sterne und Weltraum)


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Quelle:
Sterne und Weltraum 4/09 - April 2009, Seite 52 - 62
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2009