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GESCHICHTE/076: Kepler und die Geburt einer neuen Astronomie (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 12/09 - Dezember 2009
Zeitschrift für Astronomie

Kepler und die Geburt einer neuen Astronomie

Von Volker Bialas


Vor genau 400 Jahren erschien Johannes Keplers Werk »Astronomia Nova«. Es markiert eine geistige Wende, die von der rein geometrischen Betrachtungsweise des kopernikanischen Weltbildes zu einer ursächlich begründeten Theorie der Planetenbewegung führte. Diese grundlegend neue Sicht auf den Kosmos weist Kepler als den wichtigsten Wegbereiter der modernen Himmelsmechanik aus.


In Kürze
Johannes Kepler (1571-1630) ist mehr als nur der Vollender des kopernikanischen Weltbilds: Er beließ es nicht dabei, die Sonne als Mittelpunkt der Welt zu betrachten, sondern suchte nach den Ursachen wirkender astronomischer Phänomene.
Mit seinem Werk »Astronomia Nova« betrat Kepler astronomisches Neuland, indem er von einer rein geometrischen Beschreibung der Planetenbewegung zum Verständnis von den durch physikalische Kräfte bewegten Planeten überleitete.
Mit seiner »Himmelsphysik« beabsichtigte Kepler nicht, ein mechanistisches Bild der Welt zu schaffen. Das Formprinzip der Welt erkannte er vielmehr in ihrer ästhetischen Vollkommenheit.

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Neben den herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten Galileo Galileis, die einen astronomischen Höhepunkt in seinen teleskopischen Himmelsbeobachtungen erreichten, soll im Internationalen Jahr der Astronomie 2009 auch das theoretische Werk Johannes Keplers angemessen gewürdigt werden. Die von ihm verfasste, im Jahr 1609 erschienene »Astroomia Nova« ist eines der wichtigsten Werke der theoretischen Astronomie der Neuzeit. Da Kepler sein Thema hier auf recht komplizierte Weise darstellt, nahmen die Wissenschaftler das Buch damals wie heute mehr rühmend zur Kenntnis, anstatt es detailliert zu lesen. Zwar erkennen sie an, dass Kepler einen neuen Weg einschlug, um die theoretische Astronomie mit der Physik zu verbinden. Jedoch betrachten sie ihn zumeist nur als Vollender der kopernikanischen Astronomie, dem sie - anders als Galilei - einen vorwärts weisenden Impuls für die weitere Entwicklung der Naturwissenschaften nicht ohne weiteres zubilligen.

Demgemäß sprechen Wissenschaftshistoriker heute eher von einer »kopernikanischen Wende« als von einer »keplerschen Wende«. Seit mehr als vier Jahrhunderten würdigen sie Nikolaus Kopernikus (1473-1543) als den großen Astronomen, der im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit in seinem 1543 erschienenen Werk »De Revolutionibus orbium coelestium libri sex« ein neues Modell unseres Planetensystems mit der Sonne im Zentrum und mit der bewegten Erde als Planeten vorlegte und dadurch schwerwiegende weltanschauliche Erschütterungen auslöste (siehe Bild auf Seite 44 oben).

Um die »Astronomia Nova« als weiterentwicklung dieser Weltsicht verstehen zu können, betrachten wir zunächst die Situation, von der Kepler ausging.


Die Astronomie vor Kepler

Das Weltbild, das Kepler vorfand, war die von Kopernikus vertretene heliozentrische Sicht des Kosmos. Hiermit wollte Kopernikus keine neue Astronomie konzipieren, sondern das vorptolemäische Weltbild wieder herstellen, wie es bereits in der Antike vertreten wurde: Aristoteles postulierte die gleichförmige Kreisbewegung der Gestirne, und nach Aristarchos von Samos bewegte sich die Erde kreisförmig um die ruhende Sonne.

Aus der Sicht von Kopernikus hatte die spätantike Astronomie das Prinzip der gleichförmigen Kreisbewegung verletzt, indem sie einen Ausgleichspunkt (lateinisch: punctum aequans) einführte, von dem aus die Planetenbewegung gleichförmig erscheint (siehe Skizze unten und auf Seite 51).

Zur Lebenszeit Keplers (1571-1630) war die Astronomie eine der führenden Wissenschaften und ebenso bedeutungsvoll für das Welt- und Seinsverständnis. Sie lieferte nicht nur die Basisdaten für die Astrologie, sondern stützte mittels der aristotelisch-ptolemäischen Kosmologie auch die scholastische Philosophie. Nach aristotelisch-scholastischer Auffassung war die Welt in zwei Bereiche unterteilt: in einen supralunaren Bereich ewig umlaufender himmlischer Sphären, der sich geometrisch-kinematisch durch gleichförmige Kreisbewegungen darstellen lassen sollte, und in einen sublunaren Bereich irdischer Vergänglichkeit. Die Erde nahm man als Mitte des göttlichen Schöpfungswerks an, astronomisch betrachtete man sie als geometrischen und ruhenden Mittelpunkt des vom sphärisch gedachten Sternenhimmel umschlossenen Planetensystems.

Im Unterschied dazu betrachteten die kopernikanischen Lehren die Sonne als Zentrum der Welt. Diese Sichtweise war anfangs in erster Linie für die numerische Astronomie von Interesse: Die Gelehrten akzeptierten sie als Hypothese für die Berechnung der Planetenpositionen. Erst vor dem Hintergrund der unruhigen Zeitereignisse, vor allem infolge der konfessionellen Streitigkeiten und der Abwehrmaßnahmen der alten Kirche zur »Reinhaltung der katholischen Lehre«, kam die weltanschauliche Brisanz des neuen Weltverständnisses, besonders in dem Verbot der Lehre des Kopernikus im Jahr 1616 und in der Verurteilung Galileis 1633, immer deutlicher zum Ausdruck. Am Wendepunkt der neuen Epoche berührten und überlagerten sich Ereignisse und Faktoren gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und weltanschaulicher Art (siehe Infokasten rechts). Eine neue Denkweise wurde bestimmend, die Kepler darin sah, »vom Sein der Dinge zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vorzudringen, wenn auch kein Nutzen darin besteht« (zitiert nach: KGW - Kepler Gesammelte Werke, Band 1, Seite 6).


Keplers Leben in konfliktreicher Zeit

Die Lebenszeit Johannes Keplers (1571-1630) fällt in eine unruhig Periode schwerer politischer Konflikte und großer geistiger Auseinandersetzungen. Nach dem Jahr 1600 erreichten die konfessionellen Streitigkeiten des Christentums ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß. Eine religiös-politische Verwirrung machte sich breit, aus der schließlich der Dreißigjährige Krieg mit seinen katastrophalen sozialen und kulturellen Folgen für Mitteleuropa resultierte.
Kepler stammte aus einer angesehenen, später verarmten Familie, so dass er in seiner Jugendzeit auf die Gewährung von Stipendien angewiesen war. Das Bildungssystem in Württemberg, das auch Minderbemittelten eine qualifizierte schulische und universitäre Ausbildung ermöglichte, war ein besonders günstiger Umstand seiner Zeit. Der im Unterricht angehaltene universitäre Bildungskanon der mathematischen und philologischen sieben »freien Künste« vermittelte auch Kepler eine umfassende Allgemeinbildung mit klassisch-humanistischen Inhalten und eine solide mathematische Ausbildung, ehe er mit dem Studium der lutherischen Theologie begann, das er später jedoch abbrach. Trotz seiner zahlreichen herausragenden naturwissenschaftlichen Werke erhielt Kepler während seines arbeitsreichen Lebens nie einen Ruf an eine Universität und musste sein Brot in zumeist schlecht bezahlten Anstellungen bei der feudalen Obrigkeit verdienen. Infolge der konfessionellen Streitigkeiten in Reformation und Gegenreformation sowie bedingt durch den Dreißigjährigen Krieg führte er ein unruhiges Leben mit wechselnden Anstellungen im Herrschaftsbereich der Habsburger.
In dieser Zeit des beschwerlichen und gefahrvollen Reisens, in der sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft erst allmählich herauszubilden begann, war für Kepler die wissenschaftliche Korrespondenz oft das einzige Kommunikationsmittel mit den wenigen Fachkollegen.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Das einzige von Johannes Kepler selbst autorisierte Porträt erschien 1627 als Teil des Frontispiz seiner Rudolfinischen Tafeln. Auf die Tischdecke geschriebene Zahlen drücken den Mangel an Geld zur Finanzierung des Papiers aus. Den Druck des Werks ermöglichte der Kaiser Rudolf II. Seine Zuwendung symbolisieren herabgefallene Geldstücke, die auf dem Tisch verstreut liegen.


Entscheidend für die Entwicklung der Astronomie war nicht einfach, dass Kopernikus das Planetensystem umdeutete und die Plätze von Erde und Sonne vertauschte. Bedeutungsvoll wurden vielmehr die erkenntnistheoretischen Schlussfolgerungen, die astronomischen Phänomene auf ihre wirkenden Ursachen hin zu befragen. Vor allem in dieser Hinsicht betrat Kepler wissenschaftliches Neuland, und er war es nun, der die weitere Richtung der astronomischen Forschung bestimmte. Insofern ist Kepler nicht einfach der bedeutendste Vertreter der kopernikanischen Lehre und in mathematischer Hinsicht ihr Vollender, sondern der Schöpfer einer prinzipiell neuen Astronomie. Die dorthin führende Entwicklung, die mit Keplers Jugendwerk »Mysterium cosmographicum« (Weltgeheimnis) begann und später zur »Astronomia Nova« führte, werden wir im Folgenden näher betrachten.


Keplers Übergang zum strengen Heliozentrismus

Bereits an der Universität Tübingen führte der Mathematiker und Astronom Michael Mästlin (1550-1631) seinen Schüler Kepler in die Astronomie des Kopernikus ein. Kepler schrieb dort unter anderem eine Disputation über die Bewegung der Erde. Von dieser Schrift ist nur ein Fragment erhalten (KGW 20.1, 147-149). Hatte Kepler hier nur wenig mehr getan, als Kopernikus in einigen Aussagen zu paraphrasieren, so gelang es ihm bereits in seinem 1596 erschienenen Werk »Mysterium cosmographicum«, in astronomischer Hinsicht über Kopernikus hinauszugehen. Drei Fragestellungen erlangten für Keplers Umdeutung der Kosmologie eine besondere Bedeutung: das Zentrumsproblem, das Bewegungsproblem und das Endlichkeitsproblem. Sie sollen wichtige Bezugspunkte der folgenden Darstellung sein.

Im Zusammenhang mit der kopernikanischen Lehre spielt das Zentrumsproblem eine wesentliche Rolle. Im System des Aristotelismus hängt die Annahme der zentralen Stellung der Erde mit der naturphilosophischen Lehre von den natürlichen Orten der antiken Elemente zusammen. Dementsprechend ist die Erde geometrisches Zentrum im Sphärenaufbau des Kosmos und zugleich unterster Ort in seiner hierarchischen Struktur. Allerdings fällt noch bei Kopernikus das Weltzentrum in einen masselosen Punkt ohne jede physikalische Bedeutung, nämlich in den Mittelpunkt der Erdbahn, der nicht Mittelpunkt der Sonne ist. Daran setzte die Kritik Keplers an, der das Zentrum des Systems in die wahre Sonne legte und den Zentralkörper als wesentlich für die astronomische wie auch für die physikalische Problemstellung begriff.

Bereits im »Mysterium cosmographicum« verlegt Kepler den Weltmittelpunkt vom Mittelpunkt der Erdbahn, der mittleren Sonne, in die wahre Sonne, aber hier noch ohne empirischen Nachweis und in spekulativer Weise. Er ist von der Idee erfüllt, dass der Schöpfer alle Dinge nach Maß und Zahl geschaffen habe (siehe SuW 10/2009, S. 42 ff.). Diesem Motiv folgend, sinnt Kepler den Strukturen der Kosmologie gewissermaßen im Geiste Gottes nach (KGW 13, 48): Was ist die Welt, aus welchem Grund, nach welchem Plan ist sie von Gott erschaffen? Woher nahm er Zahlen, woher die Norm für seine gewaltige Schöpfung? Woher die Sechszahl der Planeten, woher die Intervalle zwischen ihren Bahnen?

Für Kepler ist die Welt nach Archetypen geschaffen, nach Urbildern, die Gott im Schöpfungsprozess aus sich herausgesetzt hat und die in die menschliche Seele eingepflanzt sind. Im Vorgang der menschlichen Erkenntnis werden die Archetypen für den menschlichen Geist aktiviert, der sie mit der Realität vergleicht und dort wiederfindet. Indem diese Archetypen als mathematische Dinge aufgefasst werden, die Gott von Ewigkeit her in sich trug, ist prinzipiell das Mathematische der Grund für das Naturhafte (KGW 8, 62).

Die Beantwortung seiner metaphysisch-theologisch formulierten Fragen zur Kosmologie gewinnt Kepler im »Mysterium cosmographicum« aus der geometrischen Betrachtung der aufeinander folgenden, im Tierkreis in Dreiecksform angeordneten großen Konjunktionen von Saturn und Jupiter, also aus einer spezifisch astronomischen Problemstellung seiner Zeit (siehe Infokasten auf Seite 46).


Keplers »Mysterium cosographicum«

Einen Ausgangspunkt für das von Kepler im »Mysterium cosmographicum« dargelegte Weltmodell bildete seine Untersuchung der »Großen Konjunktionen« von Jupiter und Saturn. Diese Begegnungen, die sich im Abstand von rund 20 Jahren ereignen, stellte er in der unten gezeigten Skizze dar. Die Abschnitte am Rand des Kreises entsprechen den Tierkreiszeichen, fortlaufende Nummern bezeichnen aufeinanderfolgende Große Konjunktionen. Ihre Positionen im Tierkreis sind durch Linien verbunden. Insgesamt ergeben sich 40 Positionen, die sich nach rund 40 x 20 = 800 Jahren wiederholen. Das hier sichtbare regelmäßige Muster führte Kepler zu der Überzeugung, dass der Kosmos geometrisch geordnet sein müsse. Diese Idee baute er zu dem rechts dargestellten Modell des Sonnensystems aus.
Hierin ordnete Kepler den Bahnen der damals sechs bekannten Planeten Sphären zu, deren gemeinsames Zentrum dem Ort der mittleren Sonne entsprach. Den fünf Zwischenräumen der Sphären beschrieb er von außen nach innen die regulären Körper ein: Würfel, Tetraeder, Dodekaeder, Ikosaeder und Oktaeder. Das so erhaltene Modell gab die ungefähren Abstandsverhältnisse der Planetenbahnen wieder. Die unbefriedigende Genauigkeit des Modells bestärkte Kepler darin, nicht die mittlere Sonne, sondern die wahre Sonne als Zentrum des Planetensystems zu betrachten.


Dieser Ansatz führt ihn schließlich zu den fünf regulären oder platonischen Körpern, die er nun gedanklich zwischen die sechs hier als Sphären angenommenen Planetenbahnen schaltet. Dabei wird eine Planetensphäre einem Körper umsschrieben, die Außenfläche der folgenden inneren Sphäre dem Körper einbeschrieben. In dieser berühmten Konstruktion fand Kepler für die Dimensionen der jeweils zwischen zwei Planetensphären eingeschalteten Körper gerade die Zahlenverhältnisse, die ungefähr mit denen übereinstimmten, die Kopernikus für die Planetenabstände von der Sonne angegeben hatte.

Das 1596 veröffentlichte »Mysterium cosmographicum«, in dem Kepler bereits das kopernikanische Modell korrigiert hatte, machte seinen Namen in der astronomischen Fachwelt bekannt. Tycho Brahe (1546-1601), der bedeutendste Astronom um 1600, kritisierte jedoch zurecht den fehlenden empirischen Nachweis des von Kepler dargelegten Weltmodells. Diesen erbrachte Kepler 1609 in der »Astronomia Nova«, in dem er Beobachtungsdaten der mittlere Oppositionen des Mars in wahre Oppositionen überführte. Bevor wir diesen Zusammenhang näher betrachten, blicken wir zunächst auf die Faktoren, die Kepler bei der Niederschrift der »Astronomia Nova« beeinflussten.


Von der bewegenden Seele zur wirkenden Kraft

Bedingt durch die sich verschärfenden Maßnahmen der Gegenreformation durch den neuen Erzherzog Ferdinand musste Kepler Graz verlassen und ging nach Prag zu Tycho Brahe. Noch zu Lebzeiten Brahes verfasste er um die Jahreswende 1600/1601 im Auftrag des dänischen Astronomen eine Abhandlung über astronomische Hypothesen. Sie blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unveröffentlicht und erhielt später den Titel »Apologia« (KGW 20, 17-82).

Überlegungen aus dieser Arbeit bestimmten Keplers eigenes methodische Vorgehen während der nächsten Jahre. Traditionell verstanden die Wissenschaftler unter dem Begriff einer Hypothese die oft einander widersprechenden Annahmen, mit denen sie ihre Ableitungen begründeten. Kepler bezog den Begriff auf das in der Natur selbst gegebene Reale: Eine Hypothese beschreibt nach Kepler das, was wahr und der Welt gemäß ist - wahr im gegenständlich-physikalischen Sinne, also real aufgefasst.

In den Jahren 1601 bis 1605 gelang Kepler in seinen theoretischen Untersuchungen der Planetenbewegung anhand des Mars der entscheidende Durchbruch zu einer neuen Astronomie. Dabei spielte sein Hypothesenbegriff eine fundamentale Rolle, und hier nun im Zusammenhang des zweiten oben genannten astronomischen Hauptproblems, des »Bewegungsproblems«. Eine astronomische Hypothese, so führt Kepler in seine Hauptwerk »Astronomia Nova« aus, darf nicht gegen physikalische Prinzipien verstoßen. So spielt in der darin vorgelegten neuen Theorie der Planetenbewegung ihre physikalische Begründung eine wesentliche Rolle, und daher erhielt das Werk den Untertitel »physica coelestis« (Himmelsphysik).

Eine Hypothese soll sowohl die Berechnung der Planetenörter innerhalb der Beobachtungsgenauigkeit des Planeten gewährleisten, als auch das physikalische, mit der Wirklichkeit übereinstimmende Bahnmodell vorlegen. Es ist daher ganz folgerichtig, wenn Kepler für seine geometrisch-numerischen Berechnungen und Ableitungen immer wieder nach physikalischen Entsprechungen suchte und wenn er das Bewegungsproblem als ein physikalisches Problem auffasste.

Im Unterschied dazu hatte Kopernikus noch an dem antiken Axiom der vollkommenen Kreisbewegung der Gestirne und somit an der pythagoreisch-platonischen Tradition festgehalten. Für ihn war die Kreisbewegung der Planetenbahnen ohne nähere Begründung einfach gegeben. Zwar legte er die Mittelpunktstellung der Sonne zugrunde, maß ihr aber keine physikalische Bedeutung bei. Die mittelalterliche, vor allem an Aristoteles anknüpfende Naturphilosophie erklärt die Bewegung der Himmelskörper noch nicht nach mechanischen Prinzipien. Stattdessen wird eine von außen wirkende Ursache angenommen, gemäß dem Hauptsatz der aristotelischen Bewegungslehre: »Alles, was sich bewegt, wird von etwas anderem bewegt« (lateinisch: Omne quod movetur, ab aliquo movetur). Reale Kugelschalen gelten als physische Träger der Himmelskörper, die eines äußeren Bewegers bedürfen, sei es in der Annahme des aristotelischen unbewegten Erstbewegers (lateinisch: primum mobile), der das gesamte Universum wie auch die einzelnen Sphären führt, oder sei es in der mittelalterlichen Vorstellung von bewegenden Geistwesen.

Kepler setzte sich intensiv mit der scholastischen Naturphilosophie auseinander, um aus der Kritik daran und unter Zuhilfenahme verschiedener Erklärungsprinzipien seine eigene Bewegungslehre zu entwickeln (KGW 20.2). Er stimmte anfangs noch der naturphilosophischen Lehre der Spätrenaissance zu, dass die Himmelskörper als beseelte Weltkörper das Bewegungsprinzip in sich tragen. Bald benötigte er aber weitere Prinzipien. In ersten Ansätzen seiner Bewegungslehre beeinflusste ihn besonders die von dem italienischen Naturphilosophen Julius Caesar Scaliger (1484-1558) vertretene Lehre von den bewegenden Geistkräften (lateinisch: intelligentiae) für die Bewegung der Bahnkreise.

Zunächst lässt Kepler die Sonne durch ihre »bewegende Seele« sich auf ihrem Platz drehen. Sie rotiert also um ihre Achse, erfasst mit dem dabei entstehenden Wirbel den Planeten und führt ihn mit sich herum. Um voll wirksam zu werden, bedarf sie dabei noch des besonderen seelischen Vermögens des Planeten. In seiner »Astronomia Nova« überführte Kepler die Annahme derartiger seelisch-geistiger Entitäten in seine Himmelsphysik und baute dazu noch andere physikalische Elemente in seine komplexe Darstellung ein. Er schließt an die spätmittelalterliche Spezies-Lehre an und gewinnt ebenso wichtige Anregungen aus der Lehre vom Magnetismus des englischen Naturforschers William Gilbert (1544-1603). Dieser Übergang von animistischen zu mechanistischen Vorstellungen mit der weiteren Ausarbeitung seiner Himmelsphysik läuft schließlich darauf hinaus, dass Kepler den Begriff der bewegenden Seele durch den der wirkenden Kraft ersetzt (KGW 3, 113) und er zu einigen bemerkenswerten physikalischen Axiomen vorstoßen kann.

Um die elliptische Planetenbewegung zu begründen, knüpfte Kepler an die Lehre des Magnetismus an

Die primäre Quelle der die Planeten bewegenden Kraft liegt in der Sonne, die zwar an ihrem Ort verharrt, sich aber wie in einer Drehbank dreht und dabei einen feinstofflichen Materiestrom aussendet, wodurch ein Wirbel zustande kommt. Die species immateriata ist die dem Licht ähnliche, im Kreis herumwirbelnde Trägerin einer Kraft oder Energie, die den Planete aktuell ergreift und mit sich reißt. Sie führt den Planeten im Kreis herum, allerdings ohne dass dieser die gesamte bewegende Kraft unmittelbar übernimmt. Vielmehr wird die Kreisbewegung infolge des Beharrungsvermögens des Planetenkörpers in Abhängigkeit von der Entfernung zum Kraftzentrum verzögert.

Um physikalisch zu begründen, wie die elliptische Bewegung entsteht, knüpft Kepler an die Lehre des Magnetismus an und erklärt sie aus der Wirkung der magnetischen Kräfte zwischen Sonne und Planet. Während der Sonnenkörper kreisförmige magnetische Fibern besitzen soll, denkt er sich den Planetenkörper aus magnetischen Fibern zusammengesetzt (KGW 3, 246). Diese werden in nahezu derselben Richtung parallel im Raum gehalten. Die Wechselwirkung der magnetischen Polarisierung des Planetenkörpers mit der Direktionskraft der Sonne führt zu einer schwankenden Bewegung, die von der magnetischen Kraft besorgt wird.

In der näheren physikalischen Begründung seiner Planetenastronomie nahm Kepler so zwei einander ergänzende Bewegungsprinzipien an: Zum einen den aus der Rotation des Sonnenkörpers hervorgehenden und in die ganze Welt ausstrahlenden Strom der immateriellen Spezies, der nun an die Stelle des aristotelischen ersten Bewegers getreten ist; zum anderen die magnetische Ausrichtung des Planetenkörpers infolge seiner Wechselwirkung mit dem Magnetfeld des Sonnenkörpers. Kepler nimmt also für den Planeten eine eigene Kraft an, die diesen »gleichsam wie einen sich im reißenden Wirbel der Sonnenspezies bewegenden Nachen in die Lage versetzt, sich durch den geeigneten Gebrauch seines Steuerruders den Weg von Ort zu Ort zu bahnen« (KGW 3, 349).

Für die Entstehung der Kreisbewegung eines Planeten nahm Kepler die kreisförmig gedrehte species immateriata an. Um eine elliptische Bewegung zu beschrieben, benötigt Kepler zudem die Hypothese der magnetischen Anziehung, welche die Kreisbahn seitlich »verbiegt«. Erst auf diese Weise lässt sich gedanklich die transversale, in Richtung der Tangente in einem Punkt der Bahnkurve erfolgende Bewegung des Planeten zur elliptischen Bewegung umbiegen.

Welches Bild stellt sich nun für Keplers Himmelsphysik dar? Von der scholastischen Naturphilosophie grenzt er sich deutlich ab, indem er die neuen Fragestellungen entweder noch in der traditionellen Terminologie oder bereits in einer neuen Begrifflichkeit formuliert. Dabei bedient er sich bekannter physikalischer Phänomene, die er analog auf die Mechanik der planetarischen Bewegungsverhältnisse bezieht. Zugleich bemüht er sich schrittweise, den Schwerebegriff zu konkretisieren. In der »Astronomia Nova« und in seinem von 1618 bis 1621 verfassten Lehrbuch »Epitome astronomiae Copernicanae« finden sich vielfältige methodische Ansätze. Diese führten ihn dazu, seine physikalische Begründung der Astronomie zu präzisieren und damit eine frühe Himmelsmechanik zu skizzieren - rund ein halbes Jahrhundert vor Newton.

Für Kepler stellt der natürliche Ort eines Körpers nicht die Ursache dafür dar, dass dieser nach seinem Entfernen zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Ein senkrecht in die Höhe geschleuderter Stein kehrt an seinen Ort zurück, weil er durch eine analog-magnetische Kraft mit der Erde gleichsam verkettet ist, so als ob sie ihn berühren würde. Die Gliederung des Raums in oben und unten ist nur in Bezug auf die wirkende Schwere sinnvoll, eben nur dann, wenn der Raum von ausgedehnten Körpern ausgefüllt ist. Die Schwere ist also eine besondere Eigenschaft der Materie, und zwar die »unmittelbare Begleiterin des Stoffes (der Masse) eines Körpers« (KGW 20.1, 173).

Die Schwere, hier schon als universelle Kraft aufgefasst, besteht letztlich in dem »gegenseitigen körperlichen Bestreben zwischen verwandten Körpern nach Vereinigung oder Verbindung«, schreibt Kepler, wobei er sich an die aristotelische Begrifflichkeit anlehnt (KGW 3, 24). Die Gravitaion der Sonne bewirkt, dass sich der Planet entlang seiner Bahn mit einer Geschwindigkeit bewegt, die von seiner momentanen Entfernung zum Zentralkörper abhängt, während die Gezeiten der Meere durch die Anziehung des Mondes erklärt werden.

Hier wiederum wird die traditionelle Auffassung von der Trennung irdischer und himmlischer Bewegungsvorgänge durchbrochen. Demnach würden sich auch Erde und Mond, wären sie durch spezifische Kräfte nicht in ihren Bahnen gleichsam festgehalten, aufeinander zu bewegen, wie sich auch zwei Steine außerhalb des Kraftbereichs eines dritten Körpers an einem dazwischen liegenden Ort vereinigen würden. Dabei ist die von einem Körper zurückgelegte Strecke jeweils der Masse des anderen Körpers proportional. Gegen Ende seines Lebens präzisierte Kepler in einer Ergänzung zu seinem »Somnium« (Traum vom Mond) diese Vorstellung und betrachtete die Schwere als die wechselseitige Anziehung zweier Körper.


Die Erforschung der wahren Planetenbahn

Die dynamischen Eigenschaften der Planetenbewegung lassen sich mit den beiden ersten keplerschen Gesetzen adäquat beschreiben. Kepler leitete sie in der »Astronomia Nova« (1609) innerhalb einer physikalisch zu begründenden Astronomie her, jedoch formulierte er sie nicht als abstrakte Gesetze. Heute lassen sich die Gesetze in einfacher Form wiedergeben (Bild unten).

Um das Bewegungsproblem zu erörtern, musste Kepler sein Augenmerk auf die abzuleitende wahre Bahnkurve und damit wieder auf mathematisch-geometrische Zusammenhänge richten. Bereits bei seinem erstem Besuch bei Tycho Brahe in Prag hatte Kepler die Bearbeitung der Theorie der Marsbahn übernommen, um die sich bis dahin Brahes Assistent aus Dänemark, Christian Severin (1562-1647), vergeblich bemühte. Für den Mars lagen vorzügliche Beobachtungen Brahes vor. Die Wahl von Mars als Musterbeispiel der Planeten erwies sich für Kepler als ein Glücksfall, weil die Marsbahn mit ihrer relativ großen Exzentrizität - abgesehen vom Merkur, für den weniger genaue Beobachtungen vorlagen - am deutlichsten von einer Kreisbahn abweicht.

Bei seinen Überlegungen folgte Kepler zunächst einem ptolemäischen, allerdings heliozentrisch transformierten Bahnmodell, bei dem zur Darstellung der gleichförmigen Kreisbewegung des Planeten neben dem exzentrischen Bahnkreis ein zweiter Kreis, der Ausgleichskreis, angenommen wird, dessen Zentrum der Ausgleichspunkt (lateinisch: punctum aequans) ist. Für Kepler stellte sich hier die Aufgabe, die gegenseitige Lage der drei Punkte Exzentrum, Zentrum, Ausgleichspunkt sowie die gegenseitigen Abstände dieser Punkte zu bestimmen (siehe Bild auf Seite 44 unten).

Dabei untersuchte er, anknüpfend an seine früheren Überlegungen im »Mysterium cosmographicum«, wie sich die Bewegungsverhältnisse in diesem Modell ändern, wenn der Ausgleichspunkt in die Verbindungsgerade zwischen dem Zentrum der Marsbahn und der wahren Sonne fällt. Dadurch verlor ja die mittlere Sonne die Bedeutung, die ihr Kopernikus als Weltzentrum zugewiesen hatte.

Die neue Sichtweise verifizierte Kepler anhand derjenigen Marsoppositionen, bei denen sich der Planet in seinem maximalen Winkelabstand nördlich oder südlich der Ekliptik befand (siehe Bild auf Seite 50 oben). Für diese beiden Fälle ermittelte Kepler aus den Beobachtungen Tycho Brahes den Neigungswinkel der Ebene der Marsbahn gegen Ekliptik. Ist das Modell richtig, so müssen die Beobachtungen für beide Fälle denselben Wert der Bahnneigung ergeben. Die Knotenlinie der Planetenbahn läuft dann durch den Mittelpunkt der wahren Sonne.

Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der Vorarbeiten Keplers zu seiner »Astronomia Nova« in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen erhalten blieb (Bild unten). Der Leipziger Magister Michael Gottlieb Hansch versah sie mit dem Titel »Theoria in Commentariam Martis« und ließ sie im Jahr 1712 zu einem rund 900 Folio-Seiten umfassenden Band binden. Der Autor des vorliegenden Beitrags erstellte die erste vollständig edierte und kommentierte Version; sie erschien im Jahr 1998 (KGW 20.2). Die vorliegenden Manuskripte betreffen Keplers Arbeiten der Jahre 1600 bis 1604, sie enthalten jedoch nicht seinen entscheidenden Gedankenschritt, mit dem er die elliptische Planetenbahn ableitete.

Ausführliches Material lag Kepler auch für die Untersuchung der Erdbahn vor, die jener der Marsbahn voranging. Die genaue Kenntnis der Parameter der Erdbahn gestattete es ihm, die auf die Erde bezogenen Beobachtungen des Mars in heliozentrische Planetenpositionen zu überführen. Aus ihnen ließen sich die Abstände des Mars von der Sonne gewinnen, aus denen die wahre Form der Marsbahn folgte. Dieses Verfahren erforderte eine Berechnung des aus Sonne, Erde und Mars gebildeten Dreiecks. Der geniale Kunstgriff Keplers bestand hier darin, als festen Bezugspunkt denjenigen exzentrischen Bahnort des Mars zu wählen, zu dem der Planet nach ganzen siderischen Umläufen zurückkehrt, während die Erde nach jedem Umlauf jeweils einen anderen Ort in ihrer Bahn erreicht.

Diesen Weg verfolgte Kepler allerdings erst, nachdem er zunächst versucht hatte, aus vier Oppositionen des Mars ein Mondell für eine kreisförmige Planetenbahn zu gewinnen, das ihn zu einer »stellvertretenden Hypothese« (Lateinisch: hypothesis vicaria) führte (siehe Infokasten unten).


Keplers »Stellvertretende Hypothese«

Kepler wählte aus den Beobachtungen Tycho Brahes die Oppositionen der Jahre 1587, 1591, 1593 und 1595 aus. Unter Zugrundelegung des auf Seite 44 erläuterten ptolemäischen, aber heliozentrisch transformierten Bahnmodells gelangte er schließlich zu einer Darstellung des Bahnmodells mit Ausgleichspunkt und geteilter Exzentrizität, deren Teilungsverhältnis Kepler aber zunächst offen ließ.
In Keplers »Stellvertretender Hypothese« bewegt sich ein Planet auf einem »exzentrischen Kreis«. In ihm befindet sich die wahre Sonne im Punkt A, abseits vom Mittelpunkt B. Der Buchstabe C bezeichnet den Ausgleichspunkt (lateinisch: punctum aequans), H das Aphel und I das Perihel der Bahn. D, E, F und G bezeichnen vier auf dem Kreis verteilte Positionen des Planeten. Unter der »Exzentrizität« ist in diesem Modell die Summe der Strecken BA und BC zu verstehen. BA wird als Bahnexzentrizität, BC als die Exzentrizität des Äquanten bezeichnet. Kepler lässt das Teilungsver hältnis BA/BC zunächst offen.
Gegeben sind die Winkel bei C aus den Zeitdifferenzen, die Winkel bei A aus den wahren Oppositionen sowie die Strecke AC = AB + BC. Gesucht sind AB und BC sowie die Richtung der Apsidenlinie IACH in Bezug auf die gegebene Richtung zu einer Marsposition. Es soll also aus vier Oppositionsbeobachtungen für das angenommene Bahnmodell eine Bahnbestimmung vorgenommen werden. Da aber, geometrisch gesehen, ein Kreis bereits durch drei Punkte festgelegt ist, liegt eine Überbestimmung vor, die zu Widersprüchen in den numerischen Ergebnissen führen muss. Kepler löste diese schwierige Aufgabe numerisch durch eine mühevolle fortlaufende iterative Rechnung.


Mit den daraus gewonnenen Ergebnissen gelang es ihm, für das zugrunde gelegte Bahnmodell die ekliptikale Länge der Planeten innerhalb der Genauigkeit der aus den braheschen Beobachtungen berechneten Oppositionen von rund zwei Bogenminuten darzustellen. Die Analyse der Planetenbewegung in ekliptikaler Breite sowie der radialen Abstände führte Kepler jedoch bald zu der Einsicht, dass er die wahre Bahnhypothese noch nicht gefunden hatte und sein vorläufiges Bahnmodell eben nur stellvertretend sein konnte.

Kepler sah sich nun genötigt, die Marsbahn noch genauer auszuloten und zu diesem Zweck zur Untersuchung der Differenz zwischen der heliozentrischen und der geozentrischen Länge des Planeten zurückzukehren. Wiederum berechnete er das aus Mars, Erde und wahrer Sonne gebildete Dreieck, wobei der Mars in einem Verbund von Dreiecken mit unterschiedlichen Erdpositionen ein- und denselben Ort innehat, den er jeweils nach ganzen Umläufen einnimmt.

Über derartige Triangulationen ergibt sich eine die Erdbahn betreffende Aufgabenstellung, die Sichtlinien, die einerseits vom Mars, andererseits von der Sonne zu vier Örtern der Erdbahn laufen, zum Schnitt zu bringen. Durch diese vier Punkte lässt sich aber keine kreisförmige Bahn legen. Schließlich verwarf Kepler die kreisförmige Bahn mit halbierter Exzentrizität (in der Stellvertretenden Hypothese: AB = BC) und begründete diesen Schritt damit, dass es in diesem Bahnmodell nicht möglich sei, die Planetenpositionen innerhalb der Beobachtungsgenauigkeit rechnerisch darzustellen. Da aber die Halbierung der Exzentrizität nachgewiesen und ihre ungefähre Größe bekannt ist, nimmt er nun eine ovale Bahnkurve an.

Die wahre elliptische Bahnform erhält Kepler schließlich über die weitere Verdichtung der Abstände Sonne - Mars nach unterschiedlichen Verfahren, wobei die betreffenden Ableitungen und Schlussfolgerungen, wie bereits bemerkt, in den Manuskripten nicht vorhanden sind. Im Dezember 1604 teilte Kepler dem friesischen Pfarrer und Astronomen David Fabricius (1564-1617) in einem Brief seine Erkenntnis mit, dass die wahre Planetenbahn in der Mitte zwischen einem Oval und einem exzentrischem Kreis mit Ausgleichskreis und halbierter Exzentrizität liegt (KGW 15, 78f.). Aber erst um Ostern des darauf folgenden Jahres konnte er die Planetenbahn als Ellipse verifizieren (KGW 15, 247).

Mit seinen in der »Astronomia Nova« dargelegten Gesetzen der Planetenbewegung vollzog Kepler einen prinzipiellen Standortwechsel in der Geschichte der Astronomie: Er führte von der geometrischen Betrachtungsweise der Planetenastronomie zum dynamischen Vertständnis eines von physikalischen Kräften ungleichförmig bewegten Planeten. Kepler leitete hierbei nicht nur zur mathematischen Behandlung nichtkreisförmiger, im Idealfall elliptischer Bahnen der Himmelskörper über, sondern er stieß auch das antike Postulat der Gleichförmigkeit um. Allerdings kehrte die Gleichförmigkeit in dynamischer Deutung in Gestalt des zweiten keplerschen Gesetzes wieder: Es besagt, dass die Verbindungslinie Sonne-Planet innerhalb gleichlanger Zeitspannen gleichgroße Flächen überstreicht (siehe Bild auf Seite 49).


Die Harmonie der Welt und das dritte Gesetz

Wenden wir uns nun noch dem dritten genannten Problem, dem »Endlichkeitsproblem«, zu. Kopernikus hielt an einer geschlossenen Welt von endlicher Ausdehnung fest, er betrachtete die Entfernung von der Sonne bis zur äußeren Fixsternsphäre aber als unermesslich groß. Kepler hielt den Kosmos ebenfalls für endlich, vor allem aus naturphilosophischen Gründen. Er vermutete, dass sich im Falle einer endlichen Entfernung der Sterne die jährliche Bewegung der Erde um die Sonne als perspektivische Verschiebung der Sternpositionen widerspiegeln müsste. Heute ist bekannt, dass dieser als Parallaxe bezeichnete Winkel weniger als eine Bogensekunde beträgt. Mit den um das Jahr 1600 zur Verfügung stehen Instrumenten konnten die Astronomen die Parallaxen der Fixsterne noch nicht beobachten - auch nicht mit dem in jener Zeit erfundenen Fernrohr, das Galileo Galilei ab dem Jahr 1609 für astronomische Beobachtungen nutzte.

In der »Astronomia Nova« spielt das Endlichkeitsproblem praktisch keine Rolle und ist selbst für Keplers Erörterung der »Harmonie der Welt«, die er als »Idee seines Lebens« bezeichnete, zweitrangig. Für das betreffende Werk »Harmonice Mundi« (Weltharmonik), das im Jahr 1619 in Linz erschien, war die Endlichkeit des Kosmos keine notwendige Bedingung, weil Kepler darin seine relevanten astronomisch-kosmologischen Schlussfolgerungen überwiegend auf das Planetensystem bezog, das er hier praktisch mit der Welt (lateinisch: mundus) gleichsetzte.

Der keplersche Begriff der Harmonie umfasst eine allgemeine Gesetzlichkeit der Natur, die er sich in Form von bestimmten geometrischen Proportionen zwischen den realen Dingen erschließt. Keplers wichtigstes Medium war hier neben der Geometrie die Musiktheorie, indem sich die Proportionen der regulären Kreisteilungen in konsonante Tonintervalle übertragen lassen. In der Astronomie erkannte Kepler in den Planetenbewegungen die harmonischen Verhältnisse, und zwar zwischen den wahren, auf die Sonne bezogenen Bewegungen in der Aphel- und Perihelposition eines Planeten, wie auch zwischen den extremen Bewegungen zweier aufeinander folgender Planeten.

In diesem Zusammenhang fand er das später sogenannte dritte keplersche Gesetz, das er in »Harmonice Mundi« in logarithmischer Schreibweise formulierte (KGW 6, 303): »Die Proportion zwischen den Umlaufszeiten zweier Planeten ist genau das Anderthalbfache der Proportion der mittleren Abstände.« Oder in heutiger Formulierung: Die Quadrate der Umlaufszeiten U1 und U2 zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen ihrer mittleren Abstände a1 und a2:

Dieses Gesetz ermöglicht es, die Größe der Bahnen von Himmelskörpern aus der Dauer ihrer Umlaufszeit zu berechnen. Bereits im »Mysterium Cosmographicum« unternahm Kepler einen erste Versuch, »das Verhältnis der Bewegungen zu den Bahnen« zu bestimmen, und gelangte so zu einer ersten quantitativen Bestimmung des dritten Gesetzes (KGW 1, 68 ff.): Bezeichnen U1, U2 die Umlaufszeiten, a1 und a2 die mittleren Abstände zweier - hier benachbarter - Planeten von der Sonne, so lautet diese Verhältnisgleichung:

In seinem Werk »Harmonice Mundi« erfüllte das dritte Gesetz jedoch nicht unmittelbar einen astronomischen Zweck, sondern ermöglichte es, die Abstände der Planeten von der Sonne über die harmonischen Verhältnisse der extremen Bewegungen der Planeten neu zu berechnen. Der nähere Zweck ist dort die Feinabstimmung des als harmonisch strukturiert vorgestellten Kosmos. Wegen der harmonikalen Bedeutung legte Kepler diesen Zusammenhang zunächst nicht als astronomisches Gesetz vor. Ein Jahr später, im Jahr 1620, gab er jedoch in der astronomischen Systematik seiner in Linz erschienen »Epitome IV« eine physikalische, wenn auch spekulative Begründung und verifizierte das Gesetz anhand der von Galilei im Jahr 1610 entdeckten Jupitermonde numerisch (KGW 7, 307 und 318).


Ein Klassiker der Naturwissenschaften

Johannes Keplers astronomische, optische und mathematische Erkenntnisse gehören zum gesicherten Bestand des Wissens der Neuzeit. Seine Astronomie und Kosmologie zeichnen sich durch eine große begriffliche Fülle aus, wie sie für den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel einer Zeitenwende charakteristisch ist. Indem Kepler die Frage nach der physikalischen Ursache der Planetenbewegung verfolgte, bereitete er die moderne Himmelsmechanik vor. Keplers Grundbefund für die Weltverfassung ist jedoch nicht ihre Mechanisierung; vielmehr sieht er ihr Formprinzip in ihrer ästhetischen Vollkommenheit, in ihrer Schönheit. Seine Weltsicht ist von der Idee der Einheit der Natur bestimmt. Das dafür maßgebende Prinzip ist die Harmonie, die für Kepler ein Ausdruck dafür ist, dass das Universum von einem fortwährend gestaltenden göttlichen Geist beseelt ist.


Volker Bialas ist Mitherausgeber der Gesammelten Werke Keplers und Mitglied der Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind die Kulturgeschichte der Astronomie, das Verhältnis von Vernunft und Glauben in der Wissenschaftsgeschichte und Fragen einer globalen Friedensordnung.



WIS - Wissenschaft in die Schulen"

Damit Schüler aktiv mit den Inhalten dieses Beitrags arbeiten können, stehen auf unserer Internetseite www.wissenschaft-schulen.de didaktische Materialien zur freien Verfügung. Darin wird gezeigt, wie das Thema im Rahmen des Physikunterrichts in der gymnasialen Oberstufe behandelt werden kann. Unser Projekt »Wissenschaft in die Schulen!« führen wir in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für Lehrerfortbildung in Bad Wildbad durch. Es wird von der Klaus Tschira Stiftung gGmbH großzügig gefördert.


Literaturhinweise

Bialas, V.: Johannes Kepler. Verlag C. H. Beck, München 2004.

Caspar, M.: Johannes Kepler, GNT-Verlag, Stuttgart 1995.

Ferguson, K.: Tycho and Kepler. The unlikely partnership that forever chan ged our understanding of the heavens, Walker & Company, New York 2002.

Folta, J. (Hg.): Mysterium cosmographi cum 1596-1996. Proceedings of the Symposium Prague 1996, Society for the History of Science and Technology, Prag 1998.

Gerlach, W., List, M.: gib schiff und segel für himmel und luft. Johannes Kepler: Dokumente zu Lebenszeit und Lebenswerk, Ehrenwirth Verlag, München 1971.

Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Johannes Kepler, Gesammelte Werke (KGW), Band 1-22, München, 1937-2009.

Krafft, F. (Hg.): Johannes Kepler, Astro nomia Nova. Marix Verlag, Wiesbaden 2005.

Krafft, F. (Hg.): Was die Welt im Inner sten zusammenhält. Marix Verlag, Wiesbaden 2005.

Kühn, E.: Johannes Keplers göttliche Heliozentrik. In: Sterne und Weltraum 10/2009, S. 42-52.

Lemcke, M.: Johannes Kepler. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg, 2002.

Lombardi, A. M.: Johannes Kepler. Spektrum Biografie. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 2000.

Pichler, F. (Hg.): Der Harmoniegedanke gestern und heute. Peuerbach Symposi um 2002. Trauner, Linz 2003.

Weblinks zum Thema:
www.astronomie-heute.de/artikel/101244


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Genaue Positionsmessungen des Planeten Mars durch Tycho Brahe ermöglichten es Johannes Kepler, die Gesetze der Planetenbewegung zu entdecken. Noch heute, lange nachdem das Rätsel gelöst ist, bleibt der Rote Planet ein Anziehungspunkt am Himmel, wie diese Bildserie der Oppositionsschleife aus den Jahren 2007 und 2008 beweist.

Bildunterschrift 2:
Das von Nikolaus Kopernikus im Jahr 1543 veröffentlichte Weltsystem enthält die Planeten von Merkur bis Saturn, mit der Sonne im Zentrum. Der äußerste Kreis stellt die als unbeweglich betrachtete Sphäre der Fixsterne dar, die das Sonnensystem umschließt.

Bildunterschrift 3:
Nach Kopernikus bewegt sich ein Planet auf einem Bahnkreis mit dem Zentrum B und in bezug auf die mittlere Sonne A, dem Zentrum der Erdbahn. D ist die wahre Sonne, C der von Kepler zunächst übernommene ptolemäische »Ausgleichspunkt« als Bezugspunkt der mittleren Bewegung des Planeten. Die Apsidenlinie CBA wird von Kepler so gedreht, dass sie in Richtung BD durch die wahre Sonne läuft. Darauf werden dann die Positionen des Planeten bezogen.

Bildunterschrift 4:
In seinem astronomischen Hauptwerk »Astronomia Nova« begründet Kepler auf empirischer Grundlage von genauen Mars- und Sonnenbeobachtungen Tycho Brahes eine neue Theorie der Planetenbewegung mit den ersten beiden keplerschen Gesetzen.

Bildunterschrift 5:
In der »Astronomia Nova« veröffentlichte Kepler das erste und zweite Gesetz der Planetenbewegung. Gemäß dem ersten keplerschen Gesetz beschreibt die Bahn eines Planeten eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befindet. Das zweite Gesetz besagt, dass die Verbindungslinie Sonne - Planet innerhalb gleichlanger Zeitspannen t2-t1 und t5-t4 gleichgroße Flächen A1 und A2 überstreicht.

Bildunterschrift 6:
Anhand von Beobachtungen des Mars zum Zeitpunkt seines maximalen und minimalen Abstands D beziehungsweise E von der Erdbahnebene G - F verifizierte Kepler in der »Astronomia Nova« den strengen Heliozentrismus. Es seien A die wahre Sonne, B und C zwei Positionen der Erde. Beobachten lassen sich die Winkel FCE und GBD. Ist die heliozentrische Annahme richtig, dann müssen die Neigungswinkel GAD und FAE gleichgroß sein.

Bildunterschrift 6:
Aus Keplers handschriftlich erhaltenen Vorarbeiten stammt dieser Ausschnitt aus seiner Untersuchung der Marsbahn mit dem später hinzugefügten Titel »Theoria in Commentariam Martis«. In der Figur werden verschiedene von Tycho Brahe beobachtete Stellungen des Mars in Opposition zur wahren Sonne untersucht.


© 2009 Volker Bialas, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 12/09 - Dezember 2009, Seite 42-52
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
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Internet: www.astronomie-heute.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 01. Februar 2010