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FORSCHUNG/633: Evolution nach Darwin (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 2/2009

Evolution nach Darwin

Von Christina Beck


Vor 150 Jahren erschien Darwins bahnbrechendes Werk Über die Entstehung der Arten, in dem er erstmals die Grundzüge seiner Evolutionstheorie formulierte. Sie hat das Denken in der Biologie maßgeblich verändert und auf nahezu alle Gebiete der biologischen Forschung Einfluss genommen. Was lag also näher, als im Darwin-Jahr 2009 ein Max-Planck-Symposium zur "Evolutionary Biology" zu veranstalten.


Evolution findet ständig statt", so lautete das Credo von Richard E. Lenski von der Michigan State University. Der Amerikaner verfolgt mit seinem Team die Evolution im Labor: Bereits vor 21 Jahren hat er dazu ein Langzeit-Experiment mit E.coli gestartet. Bakterien bieten für derartige Experimente gute Voraussetzungen, denn eine Bakterienpopulation wächst innerhalb kürzester Zeit auf Milliarden von Zellen heran. Wer Evolution in Aktion studieren möchte, braucht große Zahlen - das ist wie beim Würfeln: Wer hundertmal würfelt, hat fast sicher eine sechs dabei. Und so hofft Lenski, allein durch die schiere Menge an Zellen und Generationen ("Bis heute sind 45.000 Bakterien-Generationen in unserem Labor entstanden.") den Zufall zu zähmen. Schließlich möchte er jene Ereignisse identifizieren, durch die in der Evolution etwas originär Neues entsteht.

Ausgangspunkt von Lenskis Untersuchungen waren zwölf identische Populationen eines E. coli-Stammes. Sein Ziel: herauszufinden, ob zufällige, weiter zurückliegende Mutationen die Evolution von Schlüsselinnovationen erleichtern.


Milliarden von Mutationen

"Ein großer Vorteil ist, dass man Bakterien einfrieren und auf diese Weise fossile Aufnahmen erhalten kann", erzählte der Biologe. Die Bakterien wuchsen auf einem Medium mit einem begrenzten Angebot an Glucose, das darüber hinaus aber noch Citrat enthielt. Unter Sauerstoff-Bedingungen kann E. coli dieses Citrat jedoch nicht als Kohlenstoffquelle nutzen. "Keine einzige Population entwickelte innerhalb von 30000 Generationen die Fähigkeit, sich das Citrat zu erschließen - und das, obwohl jede Population Milliarden von Mutationen besaß", sagte Lenski.

Erst nach 33.000 Generationen trat erstmals eine Variante (Cit+) auf, die auch das Citrat nutzen konnte - ein Fitnessvorteil, der zu einem deutlichen Anstieg in der Populationsgröße führte. Handelte es sich dabei nun um eine extrem seltene Mutation? Tauchte sie deshalb erst so verzögert auf? Oder war es eine einfache Mutation, der aber andere Mutationen vorausgehen mussten, damit sie phänotypisch wirksam werden konnte? "Wir haben diese Hypothesen in Versuchen getestet, in denen wir die Evolution von verschiedenen Ausgangspunkten in der Populationsgeschichte wiederholt haben", erläuterte Lenski.

Auch in den Wiederholungsexperimenten trat unter den zehn Billionen Vorfahren-Zellen keine einzige Cit+-Mutante auf. Alle 19 Cit+-Mutanten, die die Wissenschaftler erhielten, stammten von späteren Klonen ab. Ein Sequenzvergleich von Cit+-und Cit-Mutanten zeigte, dass der notwendige Citrat-Transporter erst hergestellt wurde, nachdem das dazugehörige Gen einen Promoter rekrutieren konnte, jene Startsequenz, die sein Ablesen überhaupt ermöglicht. Und das wiederum war erst durch Verdopplung eines anderen Gens möglich geworden. Die Evolution dieses Phänotyps war also abhängig von der "genetischen Geschichte" der Population.


Wie Mäuse zu einer anderen Fellfarbe kommen

Die stärksten Belege für die Evolutionstheorie kommen heute aus der genetischen Forschung. Charles Darwin konnte diese Dinge nicht einmal erahnen. Erst mit der Entschlüsselung der DNA durch James Watson und Francis Crick 1953 öffnete sich die Tür zu einem tiefer gehenden Verständnis der Evolution. "Was können uns Gene über evolutionäre Anpassungsprozesse verraten?", fragte Hopi Hoekstra von der Harvard University in ihrem Vortrag "From Mice to Molecules". Konvergenz ist ein faszinierendes Phänomen in der Evolution: Als Antwort auf ähnliche Selektionsdrücke entwickeln nicht verwandte Arten ähnliche Eigenschaften bzw. ein ähnliches Erscheinungsbild. Doch impliziert diese phänotypische Konvergenz auch eine genetische? Oder anders ausgedrückt: Sind für die Ausprägung ähnlicher Formen und Muster tatsächlich auch dieselben Gene zuständig? Um das herauszufinden, hat Hoekstra mit ihrem Team Fellfarbvarianten von natürlichen Maus-Populationen untersucht.

Peromyscus polionotus besiedelt im Südosten der Vereinigten Staaten brachliegende Felder. Man findet aber auch Populationen in den hellen Sanddünen entlang der Golfküste sowie der davon mehr als 300 Kilometer entfernten Atlantikküste bei Florida. Sie tragen den Namen Küstenmäuse (beach mice) und sind verglichen mit ihren Artgenossen aus dem Binnenland heller gefärbt mit deutlich reduzierter Fellpigmentierung im Gesicht, an den Flanken und am Schwanz. Dass das heller gefärbte Fell in den Sanddünen eine bessere Tarnung bietet, zeigte schon ein einfacher Versuch, bei dem die Forscher lediglich eine dunkle Fellattrappe in den Dünen ausgelegt hatten: Sie wurde umgehend verschleppt und dann später vom Beutegreifer (vermutlich einer Eule oder einem Habicht) wieder fallen gelassen, als dieser die Täuschung bemerkte.

"Mindestens drei Gene - Mc1r, Agouti und Corin - beeinflussen die Fellfarbe", berichtete Hoekstra. Der Melanocortin-1-Rezeptor, kurz Mc1r, spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn er kontrolliert, ob das dunkle Eumelanin oder aber das helle Pheomelanin hergestellt wird. Die Forscherin konnte zeigen, dass der Austausch eines einzigen Nukleotids (ein T statt ein C) in der Sequenz des Rezeptorgens bei der von der Golfküste stammenden Mauspopulation die Wirksamkeit des Rezeptors und damit die Fellfarbe verändert. Statt Cystein wird nun Arginin an Position 65 in der Aminosäurekette eingebaut, was sowohl die Bindung von Liganden als auch das Potenzial des Rezeptors zur Signalweiterleitung verändert. "Solche Mc1r-Mutationen hat man übrigens auch bei Mammuts gefunden", warf Hoekstra noch ein.


Warum Darwins Finken in jedem Schulbuch stehen

Interessanterweise ließ sich aber bei den Mäusen von der Atlantikküste das hellere Fell nicht auf dasselbe Allel zurückführen - dieses trat bei ihnen gar nicht auf, und die Forscher fanden auch keine neuen Mutationen im Mc1r-Gen, die Einfluss auf die Aktivität des Rezeptors genommen hätten. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein konvergent entstandenes Pigmentierungsmuster bei verschiedenen Mauspopulationen, deren Entwicklungsbedingungen eigentlich sehr ähnlich sind, offenbar durch ganz unterschiedliche genetische Mechanismen zustande kommt", so Hoekstra. Es gibt also verschiedene molekulare Lösungen, um unter vergleichbaren Umweltbedingungen zum selben Phänotyp zu gelangen. Möglicherweise spielt ja die Kombination verschiedener Allele der bereits erwähnten Gene Mc1r, Agouti und Corin eine Rolle.

Dass sich Muster, Farben und Formen durch evolutionäre Anpassungsprozesse verändern können, hatte schon Darwin anschaulich am Beispiel der Galapagos-Finken gezeigt. Seine Zeichnungen dazu finden sich heute in jedem Schulbuch: Ein dicker Schnabel zum Beißen von Kernen, ein langer und scharfer für Blumen, kurz und spitz ist der Schnabel geeignet für kleinste Insekten in Felsspalten. "Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde", schreibt der berühmte Naturforscher in seinem Reisebericht 1839.

Rosemary und Peter Grant aus Princeton gelang es, die Wirkung der natürlichen Auslese direkt zu demonstrieren. Sie untersuchten die Schnäbel von Grundfinken auf der Insel Daphne Major und erfassten gleichzeitig deren Futterquellen. In Jahren mit extremer Trockenheit starb ein Großteil der Population - nur die Finken mit größeren Schnäbeln überlebten, weil sie auch dickere und härtere Körner knacken konnten, wenn ihre üblichen Futtersamen wegen der Dürre knapp wurden. Die Schnabelform wird nicht nur vererbt, wie die Grants herausfanden. Als Anpassung setzt sie sich viel schneller durch als gedacht. Natürliche Auslese, dieser scheinbar so endlos mühselige und langsame Mechanismus der Evolution, kann offenbar innerhalb einer Generation neue Verhältnisse schaffen.

Ein weiterer spannender Befund des Forscher-Ehepaars: Eine neu eingewanderte größere Spezies konnte die dickeren Samenkörner besser verwerten als die alteingesessenen Vögel. Die langjährigen Bewohner reagierten auf die neue Konkurrenz durch Anpassung - und zwar genau in die andere Richtung, als sie es vorher getan hatten: Jetzt entwickelten sie kleinere Schnäbel. Dadurch erschlossen sich ihnen Futterquellen etwa in Felsspalten, die ihre dickschnabeligen Konkurrenten nicht erreichen konnten. Und auch diese Anpassung war in einer Vogelgeneration messbar. Die Forscher bezeichnen das als Mikroevolution.


Wie Kohlmeisen dem Klimawandel folgen

Allerdings gibt es auch andere Mechanismen, die Anpassungsprozessen zugrunde liegen können. So demonstrierte Ben Sheldon von der Oxford University auf Basis einer in Großbritannien durchgeführten Langzeitstudie, dass Kohlmeisen in ihrem Verhalten so plastisch, also wandelbar sind, dass die Population als Ganzes sich an rasch auftretende Klimaänderungen erfolgreich anpasst. Über fünf Jahrzehnte hatten Forscher das Brutverhalten der Kohlmeisen in Wytham, einem 375 Hektar großen Waldgebiet bei Oxford, studiert. Keine andere Vogelpopulation wurde kontinuierlich über einen so langen Zeitraum an einem einzigen Ort beobachtet.

Zwischen 1947 und 2009 hat sich der Zeitpunkt der Eiablage durch die Kohlmeisenweibchen etwa 14 Tage nach vorne verlagert. "Alle Daten sprechen dafür, dass es eine enge Kopplung gibt zwischen dem durchschnittlichen Zeitpunkt der Eiablage in der Population und der im Zeitraum davor herrschenden Temperatur", erläuterte Sheldon. Tatsächlich sind seit Mitte der 1970er-Jahre die Temperaturen im frühen Frühjahr, also vor der Eiablage, deutlich angestiegen.

Im selben Zeitraum hat sich auch das Zeitfenster nach vorne verschoben, in dem die Mehrzahl der Raupen der Wintermotte schlüpft. "Es ist dieselbe Korrelation zwischen Temperatur und Zeitpunkt des Schlüpfens", so Sheldon. Die Raupen sind eine Schlüsselressource für die Kohlmeisen - ihr Bruterfolg hängt maßgeblich vom Auftreten dieser Insekten ab. Das richtige Timing ist wichtig für das Brutgeschäft, der Selektionsdruck auf den Zeitpunkt der Eiablage hoch. Durch die enge Kopplung an die Frühjahrstemperaturen bleibt die Synchronisation zwischen Eiablage und dem Peak im Schlüpfen der Raupen erhalten. "Und das spricht dafür, dass diese Anpassung allein durch die individuelle phänotypische Plastizität erreicht wird", betonte Sheldon. Der Brite spricht deshalb auch von "Phenodynamics".

Eine Brücke zwischen Genen und Verhalten schlug Russel D. Fernald von der Stanford University in seinem Vortrag. Gene spezifizieren das Verhalten eines Organismus zwar nicht direkt, aber sie kodieren für jene molekularen Produkte, die die Hirnfunktionen aufbauen und steuern und so Verhaltensreaktionen überhaupt ermöglichen. Es gibt mittlerweile zunehmend Hinweise, dass im sozialen Kontext erzeugte Informationen die Genexpression im Gehirn und somit auch das Verhalten verändern können. Um herauszufinden, wie soziale Informationen in zelluläre und molekulare Veränderungen übersetzt werden, suchten die Forscher nach einem entsprechenden Modellsystem. Eine Buntbarschspezies aus dem Tanganyika-See in Ostafrika erwies sich als Glücksgriff: An ihr konnten Fernald und seine Mitarbeiter den Einfluss sozialer Interaktion auf das Gehirn nachweisen.

Bei den Buntbarschen gibt es zwei verschiedene Typen von adulten Männchen: jene, die ein Territorium besitzen (T), und jene ohne Territorium (NT). Territoriale Männchen verteidigen ihr Revier und verhalten sich äußerst aggressiv gegenüber benachbarten Männchen. Sie verjagen nichtterritoriale Männchen und werben um die Weibchen, mit denen sie sich schließlich verpaaren. Dagegen pflanzen sich 70 bis 90 Prozent der NT-Männchen überhaupt nicht fort. Ihre Keimdrüsen sind deshalb im Vergleich zu denen der T-Männchen klein. Und ihnen fehlen auch die dunklen Streifen am Kopf sowie die Punkte auf der Analflosse. Diese Punkte sehen für die Weibchen aus wie Eier. Bei dem Versuch, sie aufzusammeln, nehmen sie die Samenflüssigkeit des T-Männchens auf - so wird die Befruchtung sichergestellt.

"Das Spannende daran ist", so Fernald, "dass sich dieser phänotypische Zustand vollkommen umkehren lässt." Setzten die Forscher NT-Männchen in ein Becken mit kleineren Artgenossen um, so wurden sie zu T-Männchen. Umgekehrt wurden T-Männchen in einer Gemeinschaft mit größeren territorialen Männchen zu NT-Männchen. "Die Änderungen im Verhalten - also ob die Tiere aggressiv sind oder nicht - traten dabei innerhalb weniger Minuten ein", erzählte der Amerikaner.


Sozialer Aufstieg steigt Buntbarschen zu Kopf

Besonders eindrucksvoll waren die Veränderungen im Gehirn: Das Gonadotropin-Releasing-Hormon kontrolliert die Freisetzung von Gonadotropinen und damit das Wachstum der Keimdrüsen. Bei T-Männchen sind die GnRH-freisetzenden Neuronen achtmal größer als bei NT-Männchen. Bei einem sozialen Aufstieg vom NT- in den T-Status wandelte sich die Neuronengröße innerhalb eines Tages und hatte in weniger als einer Woche die typische Größe GnRH-freisetzender Neuronen von T-Männchen erreicht. Dabei registrierten die Forscher auch einen Anstieg in der GnRH-Boten-RNA und dem entsprechenden Protein. Umgekehrt reduzierte sich bei Statusverlust, also bei Transformation eines T-Männchens in ein NT-Männchen, der Umfang der Verknüpfungen zwischen diesen Neuronen. "Das Sozialverhalten verändert das Gehirn tatsächlich in Echtzeit", resümierte Fernald.

Einen ganz anderen Zusammenhang zwischen Genen und Verhalten beleuchtete David Haig. Der Forscher von der Harvard University verglich zunächst die Reproduktionsgeschichte zweier Individuen: einer jungen Frau, die mit Anfang 20 ihr erstes Kind zur Welt brachte, worauf weitere Geburten im Abstand von jeweils zwei Jahren folgten, und die schließlich im hohen Alter von 80 Jahren verstarb, und des Schimpansenweibchens Fifi aus dem Gombe-Nationalpark, das bereits mit 13 Jahren sein erstes Junges bekam, die folgenden Jungen aber erst im Abstand von jeweils vier bis fünf Jahren, und das schon mit 45 Jahren starb.

Eine von Haig aufgelegte Folie unterstrich die zentrale, daraus abgeleitete Beobachtung: Die frühe Entwöhnung ist ein spezifisches Merkmal im menschlichen Lebenszyklus. Menschenkinder werden bereits mit zwei bis drei Jahren entwöhnt. Und während Schimpansenjunge im Schnitt fünf Jahre an der mütterlichen Brust hängen, sind es beim Orang-Utan sogar sieben bis acht. Diese Veränderung im Zuge der Evolution von Kindheit fußt auf dem verlässlichen Zugang zu "ergänzender" Nahrung. "Sie führt dazu, dass die Kindheit beim Menschen eine ausgedehnte juvenile Phase einschließt, in welcher der Nachwuchs zwar entwöhnt, aber in Bezug auf die Ernährung immer noch abhängig von den Eltern ist", sagte Haig. Für die Mutter ist die frühe Entwöhnung von Vorteil, da sie nun weniger eigene Ressourcen (in Form mütterlicher Milch) in die Aufzucht des Nachwuchses stecken muss.

Einen tiefer gehenden Einblick in dieses Mutter-Kind-Verhältnis verspricht sich Haig durch die Untersuchung des "Genomic Imprinting" und seiner Auswirkungen. Dahinter verbirgt sich das folgende Phänomen: In der befruchteten Eizelle liegen von jedem Gen zwei Kopien vor - eine von der Mutter, die andere vom Vater stammend. "Imprinted Genes" sind jene Gene, bei denen unterschiedliche Effekte auftreten, je nachdem, ob das mütterliche oder das väterliche Allel abgelesen wird. Und dahinter verbirgt sich möglicherweise ein elterlicher Konflikt: Die väterlichen Gene sind mit den Föten der folgenden Schwangerschaften der Mutter im Schnitt weniger verwandt als die mütterlichen Gene - denn im Gegensatz zur Mutter ist der Vater nicht immer derselbe. Daher, so die Hypothese, versuchen die väterlichen Gene mehr Ressourcen der Mutter für den jetzigen Fötus zu mobilisieren, im Konflikt mit den mütterlichen Genen. Die Forscher vermuten daher, dass "Imprinting" sich an jenen Genorten entwickelte, an denen durch den Umfang der Genexpression entweder die väterliche oder die mütterliche inklusive Fitness maximiert wird.

Um diese Überlegungen zu überprüfen, hat sich David Haig eingehend mit dem Prader-Willi-Syndrom befasst. Bei dieser genetischen Krankheit fehlt den Betroffenen die väterliche Kopie eines Gens, das mütterlicherseits "imprinted", das heißt stumm geschaltet ist - mit interessanten Auswirkungen: Direkt nach der Geburt haben Säuglinge mit PWS nur wenig Appetit und wenig Neigung, an der mütterlichen Brust zu saugen. Innerhalb der ersten zwei Lebensjahre entwickeln sie jedoch einen unersättlichen Appetit. Im Verlauf der weiteren Entwicklung werden die Kinder daher fettleibig bei gleichzeitig verzögertem Wachstum.


Was steckt hinter "Genomic Imprinting"?

Dieser Phänotyp bestätigt die Theorie, nach der die Expression der väterlichen Gene den Appetit der Nachkommen in der Phase, in der diese sich ausschließlich von Muttermilch ernähren, verstärken sollte. Aber kann die Theorie auch die Veränderung des Appetits im Zuge der weiteren Entwicklung bei PWS-Patienten erklären? Die Expression väterlicher Gene sollte offenbar den Appetit des Kindes für Ersatznahrung hemmen. Haig spekuliert über die Gründe: So könnte Milch die nährstoffhaltigere oder immunologisch wertvollere Nahrung sein. Darüber hinaus sollte eine längere Säuglingsphase die Geburt eines jüngeren Geschwisterkindes hinauszögern. In jedem Fall würde das bereits geborene Kind davon profitieren. "Die Untersuchung von imprinted genes beim Menschen kann somit ein Licht werfen auf die verwandtschaftlichen Wechselwirkungen in unserer evolutionären Vergangenheit", betonte Haig zum Abschluss.

Wie sagte der berühmte Genetiker und Evolutionsbiologe Theodor Dobzhansky: "Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution betrachtet." Das wurde auf diesem Symposium in den insgesamt vierzehn verschiedenen Vorträgen eindrucksvoll bestätigt.


GLOSSAR

Mutante
Eine Bakterienzelle, bei der eine genetische Veränderung aufgetreten ist.

Klon
Eine Population von Bakterienzellen, deren Erbgut identisch ist.

Phänotyp
Das gesamte Erscheinungsbild eines Organismus, die Summe seiner Merkmale.

Ligand
Ein Stoff, der an ein Zielprotein, beispielsweise einen Rezeptor, binden kann.

Allele
Verschiedene durch geringfügige Variationen in der Basensequenz erzeugte Ausprägungen eines Gens.

inklusive Fitness
Optimierung der Weitergabe eigener Gene.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 2/2009, Seite 66-71
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2009