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ORNITHOLOGIE/352: 80° nördliche Breite - Arktisches Vogelleben auf Spitzbergen (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2016

80° nördliche Breite: Arktisches Vogelleben auf Spitzbergen

von Stefan Pfützke


Am Nordpolarkreis, auf Svalbard, gibt es jedes Jahr zur Brutzeit ein sehenswertes Spektakel: Hundertausende Seevögel legen an den Klippen ihre Nester an und versuchen, während des nordischen Sommers ihr Jungen großzuziehen. Dabei ist das Spektrum der Brutvögel in den Fjorden der zerklüfteten Küsten recht überschaubar. Große Gebiete der Inselgruppe sind seit 1973 geschützt, dank Erweiterungen in neuester Zeit stehen mittlerweile zwei Drittel der Landfläche und große Teile der umliegenden Gewässer unter Schutz - aber reicht das?

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Die Inselgruppe Svalbard, bei uns meist unter Spitzbergen bekannt und zwischen dem 74° und 81° nördlicher Breite gelegen, beherbergt zur Brutzeit eine sehr individuenreiche Avifauna, deren Lebensgrundlage vor allem die nahrungsreichen Gewässer rund um die Inselgruppe darstellen. Die Temperatur auf dem fast der Flächengröße Bayerns entsprechenden Archipel ist aufgrund des Einflusses von Meeresströmungen sehr unterschiedlich. Am recht zentral gelegenen Isfjord beträgt die Jahresmitteltemperatur -7,5°C, der Juli ist mit +5 bis 6°C der wärmste Monat. Im Sommer geht die Sonne für vier Monate nicht unter, im Winter ist sie dafür vier Monate gar nicht zu sehen. Die Niederschlagsmenge ist mit 2 bis 300 mm vergleichsweise gering und fällt hier naturgemäß vorwiegend als Schnee, etwa 60% der Festlandfläche sind vergletschert. Menschliche Siedlungen gibt es nur wenige. Die größte ist Longyearbyen mit gut 2000 Einwohnern, insgesamt leben nicht einmal 3000 Menschen regelmäßig auf Svalbard. In der Nähe von Longyearbyen befindet sich übrigens eine seit 2008 betriebene Samenbank, die die globale botanische Vielfalt, vor allem aber die der Nutzpflanzen, über Katastrophen hinaus erhalten soll. Die eingelagerten Samen sollen gekühlt und geschützt mehr oder weniger alle vorstellbaren Katastrophen überstehen können und als Notreserve zur Verfügung stehen.

Viele Vögel, wenige Arten

Der hohen Individuendichte der Avifauna steht mit rund dreißig Arten eine sehr übersichtliche Anzahl an Brutvögeln, wie in solchen Klimazonen zu erwarten, gegenüber. Mit immerhin sechs Arten bildet die Familie der Alken mit die artenreichste Palette der regelmäßigen Brutvögel. Nicht zuletzt dank des kleinen Krabbentauchers, der bei uns normalerweise nur nach Stürmen im Herbst an den Küsten entlang der Nordsee und auf Helgoland auftaucht und zahlenmäßig alle Arten übertrifft, stellen die Alken auch insgesamt die individuenstärkste Vogelfamilie auf Spitzbergen dar. Die Population des Krabbentauchers ist nicht bekannt, wird aber auf über eine Million Brutpaare geschätzt, die in oft riesigen Kolonien entlang von Geröllhalden siedeln, wo sie in Höhlen unterhalb der Steine brüten. Die Vögel fressen vor allem kleine Krebstiere, die besonders zahlreich in kalten Gewässern vorkommen. Ebenfalls sehr häufig ist die Dickschnabellumme, die mit rund 850.000 Paaren auf Spitzbergen brüten soll. Bei fast allen Zahlenangaben zu den Brutbeständen auf Svalbard ist zu berücksichtigen, dass sie meistens nur auf sehr groben Schätzungen beruhen und die Bestände natürlicherweise sehr stark fluktuieren können.

Im Gegensatz zum Krabbentaucher ernährt sich die deutlich größere Dickschnabellumme neben Krebstieren vorwiegend von Fisch. Komplettiert wird die Palette der Alkenvögel von der weitverbreiteten Gryllteiste, dem punktuell vorkommenden Papageitaucher, dem Tordalk und der Trottellumme, die allerdings nur auf der im Süden vorgelagerten Insel Bj&oslah;n&oslah;ya regelmäßig beobachtet wird.

Eine weitere sehr individuenstarke und mit fünf Arten recht artenreiche Gruppe stellen die Möwen dar, unter anderem brüten Schwalben- und Elfenbeinmöwe in kleinen Beständen auf Svalbard. Den Löwenanteil am Gesamtaufkommen macht jedoch nur eine Art aus: die Dreizehenmöwe mit etwa 270.000 Paaren. Entlang vieler Felswände finden sich sehr große Kolonien, oftmals brüten die Möwen vergesellschaftet mit Dickschnabellummen. Die großen Seevogelkolonien stellen die Nahrungsquelle schlechthin für die Polarfüchse dar, da es auf Svalbard, abgesehen von kleinen Vorkommen eingeschleppter Mäuse, die in einigen Ortschaften überleben können, keine Kleinsäugerpopulationen gibt. Aber auch Raubmöwen und Eismöwen nutzen die Kolonien als wichtige Nahrungsquelle. Dabei können sich dramatische Szenen abspielen, wenn die großen Eismöwen in die Kolonien eindringen und dabei nicht nur wehrlose, unbewachte Jungvögel angreifen, sondern auch Altvögel von Lummen und Dreizehenmöwen attackieren und erbeuten. Erwartungsgemäß siedeln sich die Prädatoren der Kolonievögel in direkter Nachbarschaft zu diesen an, sodass man in der Nähe immer Polarfüchse, Raubmöwen und hohe Dichten von Eismöwen antrifft.

Eher nichts für Singvögel

Mit Kurzschnabel-, Weißwangen- und Ringelgans sowie Eis-, Prachteider- und Eiderente brüten regelmäßig sechs Entenvögel auf Svalbard, wobei die Eiderente sicher der häufigste Vertreter dieser Familie ist. Allerdings sind rezente, verlässliche Bestandsangaben zu den Entenvögeln offenbar nicht bekannt.

Lediglich fünf Arten Limikolen nutzen Spitzbergen als Brutplatz. Weit verbreitet sind dabei vor allem der Meerstrandläufer, der selbst mitten in den Ortschaften siedelt, und der Alpenstrandläufer. Das nicht seltene Thorshühnchen ist eher punktuell anzutreffen und im Brutkleid der absolute Star unter den arktischen Limikolen, zumindest für das menschliche Auge. Die bei dieser Art prächtiger gefärbten Weibchen bestechen durch einen exakt in die Landschaft passenden Rotton, der besonders beim typischen tiefstehenden Nordlicht so richtig zur Geltung kommt.

Mit Schmarotzer- und Falkenraubmöwe sowie der Skua brüten immerhin drei der vier in Europa vorkommenden Raubmöwenarten auf Svalbard. Die mit Abstand häufigste Art ist mit rund 1000 Paaren die Schmarotzerraubmöwe. Singvögel, an vielen Orten der Erde die bei Weitem häufigste und artenreichste Gruppe, spielen unter den harschen Bedingungen auf Spitzbergen eine völlig untergeordnete Rolle. Da so gut wie keine Insekten, sogar nur sehr wenige Mücken, und nur wenig pflanzliche Nahrung zur Verfügung stehen, fehlt für eine größere Artenpalette oder hohe Individuendichte schlichtweg die Nahrungsgrundlage. Die einzige regelmäßige Brutvogelart ist die Schneeammer, die sowohl in den Ortschaften als auch auf den Fjells siedeln kann und sich vorwiegend von Samen und Knospen ernährt. Weitere Brutpopulationen von Sperlingsvögeln sucht man auf dem gesamten Archipel vergeblich. Dafür brüten selbst im Hauptort Longyearbyen an mehreren Stellen Küstenseeschwalben. Da die Vögel zur Verteidigung ihrer Nester und Jungvögel sehr aggressiv attackieren, werden an den Stellen auf Spitzbergen, wo Kolonien in Ortschaften bestehen, in vielen Fällen am Beginn und Ende der Brutansammlungen Kunststoffstangen zur Verfügung gestellt, die man sich beim Durchqueren der Kolonie über den Kopf halten kann, um zu verhindern, dass einen die Vögel direkt attackieren. Sie suchen sich nämlich immer den höchsten Punkt des potenziellen Feindes, in der Regel den Kopf, als Angriffsziel aus und das ist in dem Fall dann eben die Kunststoffstange. Das Zeitfenster zur Durchführung einer erfolgreichen Brut ist für diesen Weitstreckenzieher auf Spitzbergen so eng, dass die Vögel schon bei noch verbreiteten Schnee- und Eislagen mit der Balz und Nistplatzwahl beginnen müssen. Insgesamt sollen um die 10.000 Paare der Küstenseeschwalbe auf Svalbard brüten.

Gift, Müll und tauendes Packeis

Obwohl weite Bereiche der Inselgruppe unter Schutz stehen, drohen ernste Gefahren für die Umwelt Svalbards. Ein großes Problem stellen Umweltgifte wie Schwermetalle und Chemikalien dar, die sowohl über Meeresströmungen als auch über den Luftweg bis nach Spitzbergen transportiert werden. Diese Gifte, wie beispielsweise chlororganische Verbindungen, werden unter den kalten Klimabedingungen nur sehr langsam abgebaut und reichern sich dementsprechend stark in der Umwelt an. Zudem werden durch die Klimaerwärmung in Permafrostböden gespeicherte Altlasten wie beispielsweise Quecksilber an die Umwelt abgegeben, wenn die Böden auftauen. Besonders betroffen sind hiervon die am Ende der Nahrungsketten stehenden Tiere, wie zum Beispiel Eisbären, aber auch Eismöwen. Bei diesen Arten wurden bei Untersuchungen schon extrem hohe Giftkonzentrationen festgestellt. Es wird angenommen, dass diese beispielsweise die Fruchtbarkeit der Eisbären stark einschränken können. Noch gibt es aber immerhin mehr Eisbären auf Svalbard als menschliche Bewohner.

Der Mülleintrag über die Meeresströmungen, vor allem durch die Müllentsorgung auf See, stellt ein weiteres Problem dar. Selbst an den entlegensten Stränden sammelt sich dieser Müll mittlerweile an.

Der zunehmende Temperaturanstieg in der Region hat bereits zur Folge, dass Gletscherregionen auf dem Rückmarsch sind und einige Arten, die eigentlich wärmere Zonen bevorzugen, wie Papageitaucher und Seehund, in letzter Zeit zugenommen haben. Welche Auswirkungen sich im Einzelnen durch eine mögliche weitere Erwärmung auf die Flora und Fauna ergeben, wird sich zeigen. Die in den Sommermonaten immer weiter zurückweichende Packeiszone stellt möglicherweise bald für die Eisbären ein Problem dar, da die großen Raubsäuger ihre Hauptnahrung, die Robben, erfolgreich nur im Bereich des Packeises fangen können. Geht die Packeiszone zurück, sind die Robben für die Eisbären fast unerreichbar, da sie diese im offenen Meer nicht erbeuten können. Ein deutlicher Rückgang des Meereises und auch der Gletscherausdehnungen in den letzten gut dreißig Jahren ist offenbar.

Der Vogelreichtum auf Spitzbergen ist in Kombination mit dem einmaligen Landschaftsbild und den typischen nordischen Farben ein beeindruckendes Naturschauspiel. In Anbetracht der möglichen Gefährdungen bleibt zu hoffen, dass die jeweiligen Auswirkungen auf ein Minimum beschränkt werden können und die einmalige Natur in ihrer jetzigen Form auf Spitzbergen erhalten werden kann.


Stefan Pfützke ist freiberuflicher Diplombiologe mit dem Schwerpunktthema Ornithologie.
http://www.green-lens.de/


Literatur zum Thema:

Stange R 2013: Spitzbergen - Svalbard. Wissenswertes rund um die Inselgruppe. Spitzbergen-Verlag, Dresden

Weitere Fotos und Infos: http://green-lens.de/81-0-Spitzbergen.html

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2016
63. Jahrgang, Februar 2016, S. 18-21
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de
 
Erscheinungsweise: monatlich
Einzelheftpreis: 4,95 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 56,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2016

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