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ZOOLOGIE/1283: Elternlos aufgewachsene Ohrwürmer zeigen eingeschränkte Brutpflege gegenüber Nachkommen (idw)


Johannes Gutenberg-Universität Mainz - 11.11.2015

Elternlos aufgewachsene Ohrwürmer zeigen eingeschränkte Brutpflege gegenüber eigenen Nachkommen

Fehlende Brutfürsorge ist kurzfristig vorteilhaft, hat längerfristig jedoch negative Effekte, die sogar auf die nachkommende Generation übertragen werden


Der Verlust ihrer Eltern hat für Jungtiere, die zum Überleben auf die Pflege durch ihre Eltern angewiesen sind, oft schwerwiegende Konsequenzen und kann mitunter einem Todesurteil gleichkommen. Wie sich der Verlust der Eltern bei Tieren auswirkt, die prinzipiell auch ohne Brutfürsorge überlebensfähig sind, haben Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) jetzt am Beispiel von Ohrwürmern untersucht - mit einem überraschenden Ergebnis. Ohrwürmer, die ohne Mutter aufgezogen wurden, waren entgegen den Erwartungen als ausgewachsene Tiere größer als Ohrwürmer, die von ihrer Mutter versorgt wurden. Haben sie aber eigene Nachkommen, leisten sie selbst weniger Brutpflege. Erstaunlicherweise hatte der Verlust der Mutter sogar generationenübergreifende Effekte, die sich in Eigenschaften der Nachkommen der mutterlos aufgewachsenen Tiere widerspiegelten. Der Verlust der Mutter geht bei Ohrwürmern also mit kurzfristigen Vorteilen einher, ist aber mit langfristigen Kosten verbunden. Die Beobachtung und Erforschung von Ohrwürmern dient Wissenschaftler dazu, die Entwicklung von sozialem Verhalten und von Familienleben im Laufe der Evolution zu studieren. Die jetzt vorgelegte Studie wurde in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B veröffentlicht.


Familienleben ist in der Natur ein weit verbreitetes Phänomen, das normalerweise für die Nachkommen deutliche Überlebensvorteile bringt. Der langfristige und generationenübergreifende Nutzen wurde bislang aber nur an Wirbeltieren untersucht, bei denen die Jungtiere selbst kaum Futter sammeln können und stark auf die Versorgung durch die Eltern angewiesen sind. Die Forschungen an wirbellosen Tieren, die sich schon frühzeitig selbst versorgen können und die der elterlichen Fürsorge nur fakultativ bedürfen, können daher für das Verständnis der evolutionären Ausbildung von Familienleben wichtige Einblicke liefern.

In ihrer Untersuchung der direkten, kurzfristigen Effekte mangelnder Brutfürsorge bei dem Europäischen Ohrwurm (Forficula auricularia) haben die Wissenschaftler am Institut für Zoologie der JGU keinen Einfluss auf die Entwicklungszeit und Überlebensrate der Jungtiere festgestellt. "Überraschenderweise sind die Nachkommen sogar größer und haben längere Zangen am Hinterleib. Der Verlust der Mutter ist unter unseren Laborbedingungen positiv und nicht negativ, wie wir es von Säugetieren kennen und auch im Falle der Ohrwürmer erwartet hätten", sagt Jos Kramer von der Abteilung Evolutionsbiologie, einer der Erstautoren der Studie.

Längerfristig zeigt sich bei den Ohrwürmern, die ohne Mutter aufgewachsen sind, dass sie selbst weniger Brutfürsorge leisten: "Sie kümmern sich generell schlechter um ihren Nachwuchs, sie füttern weniger und verteidigen ihre Kinder weniger effektiv", so Julia Thesing, ebenfalls Erstautorin der Veröffentlichung. Derartige Auswirkungen von mangelnder Brutfürsorge waren bisher nur von Wirbeltieren bekannt und wurden hier zum ersten Mal bei Wirbellosen nachgewiesen.

In einer komplizierten Versuchsanordnung haben die Wissenschaftler dann die noch längerfristigen, generationenübergreifenden Auswirkungen von mangelnder Brutfürsorge untersucht. Hier zeigte sich, dass auch Eigenschaften der Nachkommen von mutterlos aufgewachsenen Tieren betroffen waren. So verteidigten Pflegemütter die Nachkommen von mutterlos aufgewachsenen Tieren schlechter als Nachkommen von Tieren, die selbst Brutpflege genossen hatten. Die längerfristigen und generationenübergreifenden Effekte sind somit deutlich negativer als die direkten Auswirkungen mangelnder Brutpflege. "Man ist früher davon ausgegangen, dass sich solche Effekte der Brutpflege nicht weiter vererben, aber wie wir hier sehen, gibt es tatsächlich eine - möglicherweise epigenetische - Übertragung", so Kramer.

Damit scheint festzustehen, dass transgenerationale Effekte bei der frühen Entwicklung von Familienleben eine zentrale Rolle gespielt haben. Gerade Ohrwürmer eignen sich für diese Untersuchungen sehr gut, weil sie ein einfaches und nicht obligatorisches Familienleben aufweisen und sozusagen eine Brücke bilden zwischen solitären und familiär ausgerichteten Strukturen. Die Arbeitsgruppe von Dr. Joël Meunier in der Abteilung Evolutionsbiologie nimmt bei diesen Forschungen eine herausragende Stellung ein.


Veröffentlichung:
Julia Thesing, Jos Kramer et al.
Short-term benefits, but transgenerational costs of maternal loss in an insect with facultative maternal care
Proceedings of the Royal Society B, 21. Oktober 2015
DOI: 10.1098/rspb.2015.1617


Weitere Links:
http://joelmeunier.wix.com/researchpage
http://www.bio.uni-mainz.de/zoo/evobio/322_ENG_HTML.php
http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/282/1817/20151617
(Article)
https://www.uni-mainz.de/presse/60135.php
(Pressemitteilung "Kooperation von Geschwistern in Ohrwurm-Familien liefert Hinweis auf den Ursprung von Sozialverhalten")

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution218

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Petra Giegerich, 11.11.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2015

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