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KOMMENTAR/084: Glutamat - Mediengeifer gegen chinesische Eßkultur (SB)


Zur den Behauptungen, Glutamat mache dick, senil und nun auch noch schwul


Ein Titel, der unlängst in dem Online-Magazin des Heise Verlags "Telepolis" erschien, schlägt dem Faß den Boden aus, was die jüngste Medienmache gegen China angeht. Wir hatten schon in dieser Rubrik mit dem "KOMMENTAR/082: Böser Chinese in der Zahncreme (SB)" darauf hingewiesen, daß dieser Tage mit Schlagzeilen wie "Nierenversagen durch Gift im Hundefutter", "Giftiges Quecksilber in Speisefisch", "Gefährliche Zahnpasta aus China", "Wegen Bleibelastung - Fisher-Price ruft fast eine Million Spielzeuge zurück" bzw. "Gefährliche China- Importe - Giftiges Spielzeug", "Risiko-Spielzeug - Todesgefahr durch den Teddy" oder "Made in China - Hustensaft kann tödlich sein", in leichtfertiger Weise Stimmung gegen das Land gemacht wird, die an jene Zeiten anknüpft, in denen man mit der Behauptung einer "gelben Gefahr" die Massen gegen potentielle Übergriffe aus dem Osten mobilisierte. Wie leicht möglich es ist, Menschen gegen andere Personen, Gruppen oder Nationen einzunehmen, sollte nicht zuletzt aus der deutschen Geschichte hinreichend bekannt sein.

In diesem Fall wird ein Bericht über eine wissenschaftliche Entdeckung, der nur auf den zweiten Blick einen Zusammenhang mit dem traditionellen chinesischen Gewürz "Glutamat" herstellen kann, in Telepolis von Peter Mühlbauer mit einem Titel eingeführt, der nicht nur genau diese Verknüpfung in den Vordergrund rückt, sondern direkt subversive chinesische Machenschaften nahelegt:

Neue Hoffnung für die "Schwule Bombe"

... und warum sich fundamentalistische Christen und Deutschrapper in Zukunft möglicherweise von chinesischem Essen fernhalten
(Telepolis, 10. Dezember 2007)

... heißt es da. Der nachfolgende Artikel wird von dem durch die Schlagworte "Schwule Bombe" und "chinesisches Essen" aufgebrachten Leser dann zunächst unter dieser Prämisse gesichtet, was vermutlich auch Zweck der Titelgebung war. Einem genauen Beobachter wird allerdings auch nicht verborgen bleiben, daß es in der zugrundeliegenden Wissenschaftsstudie, um etwas ganz anderes als den subversiven chinesischen Plan geht, deutsche Soldaten im Clinch zu sehen.

Genau genommen geht es darum, daß ein Team von US-Wissenschaftlern (wohlgemerkt nicht Chinesen) um den Amerikaner David Featherstone von der University of Illinois in Chikago (UIC) herausgefunden haben will, wie sich homosexuelles Verhalten bei "Fliegen" an- und abschalten lasse.

Dabei gehen sie davon aus, daß die sexuelle Orientierung bei den Insekten (und nicht Menschen) teilweise von einem bislang unbekannten Gen abhängt, welches die Synapsenstärke reguliert.

Der Zusammenhang zum chinesischen Essen besteht letztlich nur darin, daß dieses Gen für die Wissenschaftler ursprünglich deshalb in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt war, weil es "die ungewöhnliche Fähigkeit hat, den in der asiatischen Küche als Geschmacksverstärker eingesetzten Neurotransmitter "Glutamat" aus Gliazellen herauszutransportieren".

Gliazellen oder medizinisch "Neuroglia" (oder Nervenkitt) sind die bindegewebige, ektodermale Stützsubstanz des Zentralnervensystems (ZNS), in der Ganglienzellen und Nervenfasern eingebettet sind. Sie gehören somit unmittelbar zu den Nervenzellen des ZNS und auch des Gehirns.

Die Eigenschaft des sich von der natürlich im menschlichen Hirnstoffwechsel vorkommenden Glutaminsäure ableitenden Salzes Glutamat, sich in der Hüllschicht der Nerven anzusammeln, war dem Würzmittel schon vor wenigen Jahren böse angekreidet worden, damals schrieb der Schattenblick:

Ein neuer Grund zur Bezichtigung stärkerer und gewichtigerer Mitmenschen wurde gefunden, denn mit einer der jüngsten Veröffentlichungen in der englischsprachigen Fachzeitschrift Journal of Pediatric Endocrinology & Metabolism (Band. 16, Seite 965) wird nicht nur dem alten Vorurteil Aufschwung verliehen, daß Menschen mit sogenanntem Übergewicht viel zu viel essen, sondern man hat auch einen Auslöser dafür gefunden: den Geschmacksverstärker Glutamat, der für ihren gesteigerten Appetit sorgt.

[...]

Dieser Vorwurf entbehrt jeder Logik, denn danach dürften sogenannte Schlanke möglicherweise nie in Kontakt mit glutamathaltigen Speisen gekommen sein, oder die Liebhaber chinesischer Küche - vorweg die Chinesen selbst - müßten sich an erheblicher Leibesfülle erfreuen, was bekanntermaßen überhaupt nicht der Fall ist.

[...]

Dennoch veröffentlichte die "Zeit" den folgenden Unsinn als wissenschaftliche Neuigkeit unter der Rubrik "Erforscht & Erfunden" am 24. Oktober 2003:

"Dicke essen zuviel. Möglicherweise sorgt der Geschmacksverstärker Glutamat für ihren gesteigerten Appetit. Ein deutsch-spanisches Ärzteteam verdächtigt den Stoff, für die Gewichtszunahme der Bevölkerung verantwortlich zu sein. Die Substanz wirke im Gehirn auf das Hungerzentrum und programmiere bereits während der Schwangerschaft Babys auf Gefräßigkeit." [Zeit, 24. Oktober 2003]
(Schattenblick, KOMMENTAR/020, 2003)

Im weiteren Text wurde schlanken Chinesen, die besonders viel Glutamat zu sich nehmen, eine genetisch bedingte geringere Dichte an Rezeptoren für das sogenannte "Mast-Molekül" (Glutamat) bescheinigt, womit die Anlage zur Gewichtszunahme wieder einmal ausschließlich einer genetischen Disposition zugeschrieben wurde.

Auch die vollkommen aus der Luft gegriffene Behauptung, Glutamat könne zu Gehirnschäden führen und Alzheimer und Demenzerkrankungen befördern, die z.B. von dem Publizisten Hans-Ulrich Grimm ("Die Ernährungslüge") in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2003 ausgesprochen wurde, leitet sich von dem natürlichen Vorkommen von Glutamat in den Gliazellen ab. Daß es sich dabei um eine statistische Ente handelt, bei der von der fettreichen Ernährung älterer Afroamerikaner blind auf ihren maßlosen Gebrauch von Glutamat geschlossen wurde, und bei der man gleichzeitig von einer statistisch signifikanten Häufung an Herz und Gefäßkrankheiten eine möglicherweise gleichzeitig auftretende aber nicht nachgewiesene Häufung von Demenzerkrankungen ableitete, kann man in dem betreffenden KOMMENTAR/020 ebenfalls nachlesen.

In dem aktuellen Beispiel wird nun behauptet, eine Veränderung der Glutamatmenge außerhalb von Gehirnzellen könne die Synapsenstärke und damit das Verhalten von Lebewesen verändern, was den Schluß nahelegt, Glutamat mache auf irgendeine Weise zumindest Fliegen "schwul".

Tatsächlich arbeiteten die beteiligten Wissenschaftler jedoch mit einer Mutation des betreffenden Gens, das nur zufällig in seiner unmutierten Form Glutamat aus den Gliazellen holt und mit der beobachteten Verhaltensänderung nichts zu tun hat.

Erst das mutierte Gen führte bei männlichen Fliegen zum "Umwerben" anderer männlicher Fliegen. Darüber hinaus wurden die Fliegen nicht einmal ausschließlich homo- sondern bisexuell, was bei dem regen Geschlechtstrieb der fraglichen Gattung ohnehin schwer zu unterscheiden ist. Gemeine Hausfliegen fliegen bekanntlich auf alles, was warm ist und vibriert, z.B. Computerbildschirme, Kühlschränke ...

Das Team nannte das betreffende Gen deshalb "genderblind" oder kurz "GB".

[...]

Um ihre Hypothese zu testen, fütterten die Forscher die Fliegen mit Substanzen, welche die Synapsenstärke ohne genetische Eingriffe verändern. Und auch damit gelang ihnen ein "Umschalten" binnen Stunden.
(Telepolis, 10. Dezember 2007)

Nun könnte man an dieser Stelle angesichts des Titel auf den nahegelegten Schluß kommen, eine der getesteten Substanzen sei dann auch besagtes Glutamat gewesen, zumal es eingangs hieß: "Eine Veränderung der Glutamatmenge außerhalb von Zellen kann die Synapsenstärke und damit das Verhalten von Lebewesen verändern". Der spezielle Zusammenhang zu dem Würzmittel Glutamat und seine mögliche Auswirkung auf Menschen wird jedoch in dem gesamten Artikel letztlich nur nahegelegt, nie wirklich behauptet. Man muß davon ausgehen, daß dies wie auch der Ausdruck "Schwulenschalter" ausschließlich aus der Feder des Telepolis-Kommentators stammt. Der Begriff gender-blind (= kann Geschlechter nicht wahrnehmen bzw. unterscheiden) ist zudem keine angelsächsische Entsprechung für schwul. Dafür gibt es schon vergleichbare Ausdrücke (gay, queer, homosexual), die als politisch korrekt gelten. Und schließlich muß selbst Telepolis einräumen:

Der Entdecker des "Schwulschalters" will in jedem Falle nicht an einer "Schwulen Bombe" arbeiten, sondern denkt stattdessen darüber nach, wie man durch die Manipulation des Geruchssinns von Fliegen aus lästigen Biestern wertvolle Bestäuber machen könnte, die bei Bienensterben einspringen.
(Telepolis, 10. Dezember 2007)

Doch das sagt er erst, nachdem er die entsprechenden Schlagworte in die Welt gesetzt hat.

Darüber hinaus bestünde für den Durchschnittsmenschen, der sich - auch das wurde wissenschaftlich schon vor Jahren untermauert - bis zu 3 Prozent aus natürlichem, körpereigenen Glutamat zusammensetzt, keine direkte Gefahr. Er bekommt von dem eigenen Stoffwechselprodukt weder Kopfschmerzen (ein Symptom des China-Restaurant-Syndroms) noch erklärt es seine sexuellen Vorlieben, da die Aminosäure in allen Menschen gleich stark vertreten ist.

Warum auch derart weitläufige Themen, die China nur insofern berühren, als es das Ursprungsland der Sojasoße ist, bei deren fermentativem Herstellungsverfahren u.a. auch Glutamat erzeugt wird, das dieser den typischen Geschmack verleiht, dazu verwendet werden, Stimmung gegen alles Chinesische zu machen, läßt sich nur mit dem sozialen Phänomen der Konkurrenz erklären. China wird Deutschland in absehbarer Zeit auf der Rangliste exportorientierter Staaten auf dem ersten Platz ablösen. Seither wird keine Möglichkeit ausgelassen, den ökonomischen Gegner mit Schmutz zu bewerfen.

Was das Glutamat angeht, so möchten wir an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß seine Unbedenklichkeit schon vor 10 Jahren offiziell bestätigt werden konnte. So hieß es in einer Pressemitteilung des AID (Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V.):

Nach aktuellem Stand der Wissenschaft bestehen keine gesundheitlichen Bedenken gegen den vernünftigen Einsatz von Natriumglutamat als Geschmacksverstärker in der menschlichen Ernährung. So lautete der Konsens einer Expertenrunde, die jüngst am Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim über die gesundheitlichen Effekte von Natriumglutamat tagte. Das sogenannte Chinarestaurant-Syndrom beschreibt Symptome einer Unverträglichkeitsreaktion, die nach chinesischem Essen in entsprechenden Restaurants auftraten. Dies konnte jedoch nie eindeutig auf den Glutamatgehalt der Speisen zurückgeführt werden. Ob derartige Unverträglichkeitsreaktionen in Chinarestaurants öfter vorkommen als nach Mahlzeiten in anderen Restaurants, ist ebenso fraglich.

... Der Natriumgehalt der Nahrung wird durch die Verwendung von Natriumglutamat nicht erhöht, sondern tendenziell sogar erniedrigt, da die geschmacksverstärkende Wirkung eine sparsamere Verwendung von Kochsalz (Natriumchlorid) ermöglicht.

Da das Geschmacksempfinden im Alter nachläßt, kann Glutamat bei älteren Menschen zur Appetitsteigerung sogar empfohlen werden.
(aid PresseInfo 07, 19. Februar 1998)

11. Dezember 2007