Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

KOMMENTAR/087: Bitterblocker, neue Wege gegen den Welthunger (SB)


Mit Bitterkillern zum Geschmacksmanipulationsmonopol

Eine molekulare Option soll Abfälle in Geschmacksbuketts verwandeln


In dem Buch "Der 35. Mai" von Erich Kästner wird ein Schlaraffenland geschildert, in dem die Menschen so faul sind, daß sie nicht einmal essen mögen. Diejenigen, die in der Hierarchie des Nichtstuns am höchsten stehen, ernähren sich sogar nur noch mit Hilfe von Pillen, die ihnen - ohne das mühsame Kauen, Schlucken und Verdauen - den vollen Genuß garantieren. So gibt es Brathähnchenpillen, die nicht nur den vollständigen Geschmack eines frisch gegrillten Hähnchens vermitteln, sondern auch das angenehme Gefühl knusprig gebratener Haut im Mund.

Derartige Visionen scheinen inzwischen gar nicht mehr so fern [Ansätze davon hatten wir schon in dem Beitrag KOMMENTAR/086: Nanofood (1) Ab morgen gibt es Synthobrei ... (SB) erwähnt]. Lebensmitteldesignern gelingen schon heute nahezu phantastische Kompositionen, mit denen sie unattraktive Ausgangsstoffe in lukullische Häppchen bzw. in Nahrungsmittel mit speziell konstruierten Geschmackseigenschaften verwandeln. Und selbst den unangenehmen, verräterischen Beigeschmack, der die Täuschung vielleicht noch aufdecken könnte, bekommen die Chemiker und Aromaarchitekten der Geschmackskonzerne wie Givaudan und Firmenich in der Schweiz, International Flavors and Fragrances (IFF) in den USA oder Symrise in Deutschland immer besser in den Griff. Kaum ein Verbraucher kennt sie, obwohl er meistens ihre Produkte im Kühlschrank hat.

Ihre Forschungsabteilungen befassen sich vor allem damit, neue Leitsubstanzen z.B. in exotischen Pflanzen und Tieren aufzuspüren, die sich zu neuen, besseren oder bekannten sogenannten "naturidentischen" Geschmacksmolekülen ummodeln lassen. Dafür geht man weltweit auf chemischen Beutezug:

Givaudan schickt seine Experten in Programmen namens "TasteTrek" und "ScentTrek" auf Schmeck- und Schnüffeltour. Kleine Teams mit mobilen Labors durchstreifen afrikanische Gewürzmärkte und südamerikanische Regenwälder nach neuen Gaumenreizen und entnehmen Proben aus den Woks chinesischer Meisterköche. Auf "65 bis 70 neue Aroma-Chemikalien" seien seine Emissäre dabei gestoßen, sagt Bob Eilerman, Leiter der Geschmacksforschung im Givaudan-Labor in Cincinnati.
(Technology Review 04/2004, Fokus)

Neben chemischen Stoffen, die täuschend echten Leberwurst- oder Brathähnchengeschmack in unseren Gaumen entstehen lassen, geht es aber auch immer wieder darum, mit bestimmten Hemmstoffen den Geschmackssinn zu überlisten, um Stoffe in den Menschen über die Nahrung hineinzuapplizieren, die er normalerweise nicht essen würde. In den Medien griffen dieses Thema zuletzt Spiegel Online am 1. Februar 2006 und der Fernsehsender ARD in seiner Sendung W wie Wissen (Sendedatum: Sonntag, 11. März 2007) auf. Aber auch schon 2003 wurde in der Süddeutschen Zeitung von der gleichen Biotechfirma "Linguagen" aus Cranbury, New Jersey (USA) berichtet, die unter dem Vorwand, künftig gesünder und kaloriensparender den bitteren Geschmack auszuschalten, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln das Monopol über die lebensmittelgesetzlich genehmigte Geschmacksverwirrung anstrebt.

Tatsächlich war ihr schon 2003 der Patentschutz für Substanzen zugesprochen worden, die in den Geschmacksknospen der Zunge die Rezeptoren (Geschmacksantennen) fürs Bittere blockieren. Wenn diese Stoffe vorsorglich ins Essen oder auch in Arzneien gerührt werden, schmeckt nichts mehr bitter, was bitter ist. Dazu hieß es in der Süddeutschen Zeitung:

Wie es dazu kommt, verrät Bernd Bufe, Experte für Bitter-Geschmack am Deutschen Institut für Ernährung (DIfE) in Potsdam: "Sobald Bitterstoffe auf die Geschmacksknospen wirken, klappt eine Art Schalter um - das Eiweiß Gustducin wird aktiviert", sagt er. Bitterblocker verhindern das Umlegen dieses Schalters. Auf der Zunge unterbleibt die Umwandlung des chemischen in ein elektrisches Signal, das als Nervenimpuls dem Gehirn signalisiert: "Da ist was bitter." (SZ, April 2003)

Bitterstoffe werden also nicht etwa nur mit aufdringlichen Fremdaromen geschmacklich übertönt, sondern die körpereigene Abwehr, d.h. die Ausschüttung von Bitterbotenstoffen, wird blockiert. Mit diesem groben Eingriff in den Stoffwechsel kann ein Mensch jede Menge Bitterstoffe zu sich nehmen, die ihn normalerweise davor warnen sollten, daß irgendetwas an seiner Nahrung nicht ganz in Ordnung oder verdorben ist. Er ahnt nicht einmal etwas davon. Bittere pharmazeutische Wirkstoffe, ja selbst Gifte, könnten auf diese Weise appliziert werden, ohne daß der sonst unvermeidliche Brechreiz ausgelöst wird. Viele giftige Substanzen, etwa das Strychnin aus der Brechnuß, wirken normalerweise auf die entsprechenden Rezeptoren, was sich gemeinhin als scheußlicher Geschmack in unserem Mund breitmacht, der uns schließlich würgen und die Ursache des Übels ausspucken läßt. Durch Bitterblocker wird der natürliche Widerstand des Körpers unbemerkt durchbrochen und seine Abwehr ausgeschaltet.

Auch das Prinzip, den Geschmack direkt über die Geschmacksrezeptoren zu manipulieren, sollte einen nachdenklich stimmen. Hier werden, genau wie mit vielen hochwirksamen Arzneistoffen, Rezeptoren des Nervensystems blockiert und die Ausschüttung von Neurotransmittern (hier: Gustducin) verhindert. Das bedeutet, abgesehen von einer möglichen, noch unübersehbaren Einflußnahme an anderer Stelle des Organismus (Störungen und Nebenwirkungen), in erster Linie jedoch eine nicht einmal spürbare Änderung des gesamten Geschmacksempfindens. Über einen gewissen Wirkungszeitraum, der in den Berichten völlig ausgeklammert wird, dämpft man unspezifisch jeden bitteren Geschmack ab, ob er nun erwünscht ist oder nicht. Immerhin machen in Kaffee, Schokolade, Grapefruit oder Bier gerade die Bitterstoffe den besonderen Reiz aus.

So betrachtet hört sich die vermeintliche Errungenschaft für die Pharma- und Lebensmittelindustrie gar nicht mehr so gut an, zumal die Linguagen ein regelrechtes Monopol auf dem Sektor Geschmackstäuschung und -manipulation anstrebt. Das Unternehmen hat sich nämlich nicht nur die Rechte an den erwähnten Bitterblockern gesichert,

..., sondern auch ein Verfahren, mit dem sie sich leicht entdecken lassen: "Wenn wir einen Bitterstoff zusammen mit Sinneszellen aus den Geschmacksknospen von Rinderzungen in ein Röhrchen geben, wird der Inhalt blau", erklärt Co-Direktor Stephen Gravina. Die Farbreaktion wird möglich, weil das Gustducin durch den Bitterstoff seine räumliche Struktur ändert. "Sobald aber ein Hemmstoff mit dabei ist, verfärbt sich die Lösung nicht mehr."
(SZ, April 2003)

Die Biotech-Revolution mit all ihren brisanten und unangenehmen Nebenaspekten ist auch in der Geschmacksforschung nicht an den Konzernen vorbeigegangen. Doch anders als behauptet, sind die Weichen längst gestellt:

"Wir beobachten das sehr genau", sagt Jakob Ley, Chemiker bei Symrise. Allerdings werde es noch eine Weile dauern, bis die Einsichten der Molekularbiologie sich in Produkten niederschlagen: "Die Änderungen werden gewaltig sein", sagt Ley, "aber sie beginnen erst."
(Technology Review 04/2004, Fokus)

Das alles erklärt zum einen den biotechnologischen Hintergrund der Firma Linguagen, die sich auf solche Verfahren und Anwendungen spezialisiert. Zum anderen besitzt man hier gewissermaßen die technologischen Voraussetzungen und das alleinige Vorrecht, mit der patentierten Methode vorhandene Stoffbanken mit Millionen von unterschiedlichsten Substanzen auf ihre Eignung als Bitterblocker hin zu durchsuchen und sich anschließend auch alle weiteren Rechte und Patente auf potentielle Bitterkiller zu sichern.

Doch geht von den vermeintlich harmlosen Stoffen tatsächlich keine Gefahr aus?

Der per Patentschrift gesicherte Geschmackstöter von Linguagen, Adenosin-Monophosphat (AMP), gehört zumindest einer Stoffklasse an, den sogenannten Nucleotiden, die die Bausteine der Erbsubstanz DNA (Desoxyribonukleinsäure) bilden. Nucleotide sind sogar jene mit einem Phosphatrest versehenen DNA-Bausteine, die unter Abspaltung dieses Zusatzes dazu fähig sind, Ketten zu bilden. Nun ist es zwar fraglich, inwieweit oral, d.h. per Nahrung, aufgenommene Fremdnucleotide bzw. Erbsubstanzen in Zellen gelangen und körpereigene Strukturen verändern können, aber vollständig ausgeschlossen ist diese Möglichkeit ebenfalls nicht. Gentechnikbefürworter halten es zwar für unmöglich. Doch andere Studien zeigen, daß zumindest Darmbakterien solche Bruchstücke aufnehmen und in die eigene DNA einbauen können. Das bestätigte beispielsweise Dr. Erich Wies gegenüber dem NDR, der Bienen nach der Aufnahme von genetisch verändertem Rapspollen beobachtete:

...im Bienendarm drin bei der Verfütterung eines herbizidresistenten Raps, sich diese Herbizidresistenz auf ein Magen-Darmbakterium übertragen hat. Das war ein sehr erschütterndes Resultat, weil das eigentlich der erste Beweis einer sogenannten horizontalen Übertragung eines Transgens, also von einer Pflanze auf einen völlig anderen Organismus, des Bakteriums stattfinden kann. Und wenn man sich das für Antibiotikaresistenz vorstellt, bestehen berechtigte Ängste, was humanmedizinisch mal zu Problemen führen könnte.
(Logo, NDR4, 14. Februar 2003)

Linguagen wirbt unterdessen damit, daß AMP eine körpereigene und daher unschädliche Substanz sei. Die eigentliche wissenschaftliche Entdeckung bestehe nur darin, daß sie die Wahrnehmung des bitteren Geschmackes im Gehirn unterbindet. Doch das ist schon eine Wirkung, die körpereigenes AMP normalerweise nicht entfaltet und die auch nicht zu den natürlichen Funktionen des Stoffes im Organismus gehört.

Um dem Stoff den Weg in die Lebensmittel zu bahnen - "wir denken darüber nach, den Bitterblocker als Gewürz zu vermarkten", ließ McGregor von Linguagen gegenüber der Presse verlauten. "Eine Prise AMP und die Speise wäre wohlschmeckend" -, wird AMP nun mit dem ältesten Trick der Menschheit salonfähig gemacht, nämlich über seine vermeintliche Bedeutung in der Medizin:

Freiverkäufliche Medikamente gegen Husten und Erkältung bei Kindern machen den Anfang. Allzu bittere Medikamenten-Tropfen und Lutschtabletten ließen sich mit AMP leichter schlucken. Die Firmengründer haben aber auch die extrem bitteren Aids-Medikamente im Visier.

In der Lebensmittelbranche geben dann gesundheitsfördernde Nahrungsergängzungsmittel, d.h. beispielsweise die normalerweise bitter schmeckenden Polyphenole den Einstand, die zusammen mit AMP leichter genießbar werden. Eine Neutralisierung des unangenehmen Geschmacks werde damit den Verbrauchern zugute kommen, weil sie dann beispielsweise Radicchio oder Ruccola mit größerem Genuß verzehren können, versprechen die Forscher. Auch künstliche Lebensmittelzusätze, die bei den immer hochgestylteren Fertiggerichten oder auch bei Nahrungsmittelsurrogaten unerläßlich werden, verlangen wiederum nach Bitterblockern. Etwa das Salz Kaliumchlorid, das Fertiggerichten zur Festigung und als Geschmacksverstärker beigemengt wird; in reiner Form schmeckt es unangenehm bitter. Wird es mit dem Bitterblocker vermischt, wird dieser unerwünschte Nebeneffekt ausgeblendet.

"Andere Anwendungen sind milderer Kaffee, Grapefruitsaft und besser schmeckende Soja-Produkte", erklärt McGregor. "Mit den Zusatzstoffen schmeckt der Kaffee milder und angenehmer", so eine Studienmitarbeiterin, die den AMP-Kaffee selbst probiert hat.
(Spiegel online 1. Febr. 2006)

Daß sich für den wirklich "guten Geschmack" eine Totalblockade im Gehirn aber eher nachteilig auswirken muß, versteht sich von selbst. Denn wer kann schon sagen, was neben der "Bitterleitung" noch alles an Wahrnehmungsfunktionen in Mitleidenschaft gerät.

Daß es den Lebensmittelchemikern insgesamt um einen wesentlich stärkeren Eingriff in das Geschmacksempfinden geht, und dieser Trend in der Wissenschaft schließlich auf die Entwicklung einer vollständigen Manipulation und Nachahmung sämtlicher Geschmacksreize hinauslaufen muß, wird in einer früheren Aussage noch etwas deutlicher:

"Bei Nahrungsmitteln wird es aber darauf ankommen, die Rezeptoren für Bitterstoffe äußerst spezifisch zu hemmen", betont Bufe. Nur so lasse sich das Aroma erhalten. Dafür sind Rinder- oder Mäusezungen jedoch ein schlechtes Modell. Man muss herausfinden, was die über 2000 bitteren Substanzen genau mit der Zunge des Menschen anstellen.
(SZ, April 2003)

Die ersten Schritte hierzu wurden schon längst eingeleitet. Denn am Potsdamer DIfE wurden die 25 Gene des Menschen zum Bau von Bitterrezeptoren schon identifiziert. Gemeinsam mit Thomas Hofmann von der Universität Münster entwickelten die Forscher sogar eine "künstliche Zunge": Sie schleusten die 25 Gene in Zellen ein und ließen verschiedene Stoffe auf das System los. Die Reaktion der künstlichen Zunge wurde dann mit dem Geschmacksempfinden geschulter Tester abgeglichen. Nun meinen die Forscher nicht nur zu wissen, warum zum Beispiel Bittermandeln bitter sind. Sie könnten sogar vorhersagen, welche ähnlichen Substanzen ebenfalls bitter schmecken, und Wege finden, wie sich dies verhindern läßt.

"Dadurch stoßen wir sicher auf Moleküle, die viel spezifischer und besser wirken als die jetzt patentierten", sagt Thomas Hofmann. "Die haben nämlich einen deutlichen Beigeschmack."
(SZ, April 2003)

Tatsächlich besitzt AMP einen Eigengeschmack, wie der Münsteraner Lebensmittelchemiker Thomas Hofmann herausgefunden hat. Der Hemmstoff schmeckt nach Umami, also nach Fleischbrühe bzw. das, was man seit dem Geschmacksverstärker Glutamat gemeinhin für Fleischbrühe hält. Das schließt AMP als Zutat für bestimmte Süßspeisen oder Getränke aus. Dabei müßte man genau genommen nur den entsprechenden für den Beigeschmack zuständigen Rezeptor finden, um ihn chemisch auszuschalten... usw.

Die Heidelberger Firma Wild, der nach eigenen Angaben weltweit größte private Produzent von natürlichen Ingredienzen für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie (Capri-Sonne), ist schon der Vorreiter für neue Wege, d.h. neue Substanzen, denn dem Firmenmotto zufolge ist "hervorragender Geschmack [...] der wichtigste Faktor für den Markterfolg von Lebensmitteln und Getränken". Dafür wandelten sie einen Aromastoff so um, daß er als Tarnkappe für den bitteren Geschmack fungiert.

Dafür hat sie nun den WILD RESOLVER (R), einen so genannten Bitterblocker entwickelt. Er verändert die bitteren Bestandteile im Essen so, dass die Zunge sie nicht mehr als bitter erkennt. Das funktioniert laut Hersteller ebenso mit anderen unerwünschten Beigeschmäckern wie metallisch, brennend oder seifig.
(Online Website, DR. WATSON News 28. März 2007)

Angesichts zunehmender Lebensmittelknappheit und vorherrschendem Hunger in großen Teilen der Welt, bekommt diese Technologie allerdings einen Beigeschmack, der sich nicht so leicht blockieren läßt. Mit Hilfe in Tabletten gepreßter chemischer Cocktails, die jeden Einheitsbrei zum individuellen Geschmackserlebnis werden lassen, wird die eingangs geschilderte Schlaraffenland-Vision zu einer grausamen Wirklichkeit, in der unverfälschte echte Nahrung vielleicht nur noch einer privilegierten und zahlungskräftigen Minderheit vorbehalten bleibt. Der Rest frißt Müll, ohne es zu merken.

18. April 2008