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KOMMENTAR/089: Lebensmittelzusätze greifen Nerven an (SB)


Statistiken und die Frage ihrer Interpretation


Immer wieder geraten Lebensmittelzusätze in den Verdacht, noch viel schlechter als ihr ohnehin nicht besonders guter Ruf zu sein. Bisher wurden die bunten Lebensmittelfarben und Konservierungsstoffe, die Nahrungsmittel und vor allem Süßigkeiten für Kinder so attraktiv werden lassen, als harmlose, wenn auch überflüssige Lebensmittelchemie in Kauf genommen, weil vermeintlich strenge Lebensmittelgesetze die Verwendung dieser Mittel tolerieren und ihre Unschädlichkeit garantieren. Darüber hinaus lieben Kinder bunte Nahrungsmittel und um den gleichen Anreiz mittels gesundem und frischem Obst zu bieten, verfügen viele Eltern mit geringem Einkommen nicht über die nötigen Mittel. Also greifen sie auf das zurück, was als sogenannte Kinderlebensmittel z.B. in der Fernsehwerbung als bunt, unwiderstehlich und unglaublich gesund angeboten und auch von den Kindern, die das sehen, verlangt wird. Unattraktiver Kauersatz wie Äpfel und Bananen haben das Nachsehen.

Dazu kommt, daß die an künstliche Aromata gewöhnten Kleinen einen aus frischen Erdbeeren zubereiteten Fruchtquark heutzutage überhaupt nicht zu schätzen wissen, weil das natürliche Aroma viel schwächer ist, als jenes, das sie aus industriellen Marmeladen und Fruchtaufstrichen, Gummibärchen und dergleichem kennen. Den verzweifelten Müttern bietet die Industrie hier im Gewürzregal des Supermarktes Lebensmittelfarben und künstliche Aromen an, um natürliche und authentische Speisen nachträglich mit mehr Farbe und Geschmack zu versehen, damit die aromastoffgewöhnten Kids sie auch als Nahrung akzeptieren.

Dieses gewöhnlich als künstliche Überreizung der Sinne gewertete Phänomen hat jedoch einen viel brisanteren Hintergrund, wie sich schon in einer Meldung der ddp vom 25. Mai 2004 andeutete. Zumindest manche Zusatzstoffe könnten, so vermuteten britische Forscher in der Fachzeitschrift 'Archives of Disease in Childhood' (Bd. 89, S. 506), einen Einfluß auf das Nervensystem nehmen. Auf eine mögliche Abstumpfung der Geschmacks- und Geruchsnerven, die ebenfalls denkbar wäre, gingen die Forscher allerdings nicht ein.

In ihrem Bericht äußerten Wissenschaftler um John O. Warner von der Universität Southampton den Verdacht, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln wie Lebensmittelfarben und Konservierungsstoffe könnten Kleinkinder aktiver und aggressiver machen.

In Tests mit 277 Kindern bemerkten zumindest die Eltern ein deutlich ruhigeres Verhalten, wenn ihre Kinder Nahrung und Getränke ohne solche Zusatzstoffe zu sich nahmen.
(ddp, 25. Mai 2004)

Die Wissenschaftler ernährten Vorschulkinder im Alter von drei Jahren eine Woche lang mit Lebensmitteln, die frei von Farb- und Konservierungsstoffen waren. Anschließend bekam ein Teil der Kinder Getränke mit einem künstlichen Farbstoff und mit dem Konservierungsmittel Natriumbenzoat (das Natriumsalz der Benzoesäure). Die Dosierung war außerdem so dezent gehalten, daß weder die Kinder noch deren Eltern dabei bemerken konnten, ob das Getränk mit diesen Stoffen versetzt war oder nicht.

Die Eltern wurden während der nächsten vier Wochen befragt, wie sie das Verhalten ihrer Sprößlinge einschätzen. Gefragt wurde nach Aktivität, Aufmerksamkeit und Aggressivität der Kinder. In Zeiten, in denen die Kinder keine Zusatzstoffe zu sich nahmen, sollen nach Einschätzung der Eltern die Intensität der Verhaltensauffälligkeiten zeitweise um bis zu 15 Prozent zurückgegangen sein.

Somit könnte eine Art schleichender Vergiftung möglicherweise die fehlende Erklärung für das zunehmend aggressive Verhalten der Kinder in den Schulen sein, das in besonders drastischer Form gerade in Amerika, dem Ursprungsland künstlicher Lebensmittelzusätze und Junkfood-Artikel, zu beobachten ist. Dort werden Kinder und Jugendliche schon prophylaktisch während der Schulzeit mit Psychopharmaka wie Ritalin behandelt.

Aber auch hierzulande ist der Verbrauch von Ritalin bei Kindern dramatisch angestiegen. Laut Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl, Kinder- Psychiater an der Universität Köln, der sich hierzu in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung äußerte, sind etwa zwei bis vier Prozent der Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren betroffen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Ritalin-Verordnungen gegen das "Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom", wie es in der Fachsprache heißt, mehr als verzehnfacht.

Sollte diese Theorie stimmen, dann wären Lebensmittelzusätze in der Lage, die Bluthirnschranke zu überwinden und die Nerven direkt anzugreifen. Das könnte u.a. auch die auf diese Weise künstlich erzeugten Vorlieben für bestimmte Süßigkeiten über eine Manipulation entsprechender Hirnzentren erklären. Soweit gehen die Wissenschaftler in ihrer Expertise jedoch nicht. Dabei könnte gerade die Einnahme von Psychopharmaka in einem synergistischen Effekt die Bluthirnschranke u.a. für Farbstoffe überwindbar machen. Für die Partydroge Ecstasy konnte dieser Zusammenhang bereits nachgewiesen werden:

Die Wissenschaftler verabreichten Ratten acht Wochen lang viermal eine Dosis Ecstasy. Damit wollten sie das Einnahmemuster eines Menschen möglichst genau nachempfinden. Zudem injizierten sie den Tieren blaue Farbmoleküle, die unter normalen Umständen zu groß sind, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Doch bereits einen Tag später war der Farbstoff in verschiedenen Gehirnarealen der gedopten Ratten nachweisbar. Die Durchlässigkeit der Blut-Hirn- Schranke bestand sogar noch zehn Wochen später: Neu injizierter Farbstoff konnte dann immer noch ins Gehirn eindringen, obwohl die Tiere kein weiteres Ecstasy erhalten hatten.
(ddp, 15. November 2005)

Die britischen Wissenschaftler ziehen ihre These schon im Ansatz wieder zurück, da die von den Eltern gemachten Aussagen angeblich nicht objektiv genug seien und ihre Beobachtungen in der Kontrollgruppe nicht wirklich eindeutig. Gleichzeitig behalten sie sich aber die Möglichkeit vor, es könne sich bei den Geschmacks- und Farbstoffen doch um nervenschädigende, schädliche Substanzen handeln. Weitere Experimente an älteren Kindern sollten das endgültige Ergebnis bringen.

Abgesehen von beliebig auswertbaren Statistiken ist dabei bisher jedoch nichts herausgekommen.

Der bekannte Kinderpsychiater Lehmkuhl hält dies alles ohnehin für dummes Zeug. Er glaubt, die Verhaltensveränderungen an den Kindern sei allein auf das gesteigerte Interesse daran zurückzuführen. Auch früher habe es schon aggressive Kinder gegeben, nur hätte man das nicht als Krankheit diagnostiziert.

Ginge es hierbei jedoch nicht um längst durch das Lebensmittelgesetz etablierte Zusätze, sondern um neue Arzneiwirkstoffe, müßte auch schon der geringste Verdacht einer Nebenwirkung auf dem Beipackzettel dokumentiert werden. Um nicht die Nerven oder die Gesundheit von Heranwachsenden aufs Spiel zu setzen, sollte ein Verdacht ausreichen, um auf vermeidbare Chemie zu verzichten oder um zumindest die Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken, das seither von den Verantwortlichen offensichtlich unter den Teppich gekehrt wird.

Erstveröffentlichung 9. Juni 2004
ergänzte und überarbeitete Fassung

3. Juni 2008