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RATGEBER/212: Kinderfragen (16) Was die Körperzellen zusammenhält (SB)


KINDERFRAGEN 16

Warum die Körperzellen nicht einfach auseinanderfallen

und was sie zusammenhält


Gewöhnlich lernen wir in der Schule, wie die Zellen des Körpers im einzelnen aufgebaut sind, welche Zellorganellen man darin unter dem Mikroskop erkennen und unterscheiden kann. Und schließlich erfahren wir auch noch die eine oder andere Einzelheit über die Zellmembran, die die Körperzelle umgibt und wie diese vielleicht in Kontakt mit anderen Zellen treten kann, um Stoffe auszutauschen. Damit hört die Schulweisheit allerdings gewöhnlich schon auf. Keiner fragt, warum die einzelnen Körperzellen nicht einfach in dem großen Hautsack, der den menschlichen Körper umschließt, durcheinanderfallen, oder doch?

In der englischsprachigen Zeitschrift New Scientist werden solche "Kinderfragen" in der Rubrik "The Last Word" durchaus auch noch von neugierig gebliebenen Erwachsenen gestellt und von Experten, sofern sie denn eine Antwort parat haben, per Weblog (bzw. Blog) beantwortet. Wer sich im Internet auskennt und außerdem gut Englisch spricht, kann hier auf einige Fragen stoßen, die man - wenn man sich recht erinnert - schon selbst einmal hatte, und eventuell auch eine plausible Antwort erhalten. Letzteres kann allerdings nicht immer garantiert werden, wie man anhand des folgenden Beispiels sieht.

Auf die oben von Gibson McKenzie aus Glasgow gestellte Kinderfrage antworteten sogar zwei Experten und ein Witzbold, deren Erläuterungen deutlich machen, daß die biologische Wissenschaft zu diesem Thema auch nicht sonderlich viel zu sagen hat.

Zum einen heißt es lapidar: Zellen halten zusammen durch einen Prozeß, der sich "Zell-Adhäsion" nennt. Adhäsion nennt man das Anhaften von Molekülen an Grenzflächen, ohne daß man dies näher erklären kann.

Üblicherweise werden dann meist die sogenannten Van-der-Waals-Kräfte herbeizitiert, das sind Kräfte, die per Definition erst dann in Erscheinung treten, wenn sich die Teilchen so nahe kommen, daß nicht mehr als ein Atom dazwischen paßt, und man sich ihr zusammenhaften dennoch nicht erklären kann.

Genaugenommen sind Van-der-Waals-Kräfte schon in der theoretischen Chemie die offizielle Ausrede bzw. die unbeweisbare Notlösung für ein Phänomen, das sich nach chemischen Grundregeln nicht erklären läßt. Hier haftet etwas aneinander, ohne daß eine echte chemische Bindung zustande käme und besitzt doch einen sichtbaren Zusammenhalt.

Um nicht aufgrund dieses Vergleiches die chemische Bindung an sich in Frage zu stellen, hat man ein kompliziertes Konstrukt entworfen, das Van-der-Waals-Kräfte als quasichemische Bindung im Allerkleinsten erklärt und auch wieder nicht, so daß sich infolge der in die Theorie eingebauten Beliebigkeit keine Erklärungsnot ergibt.

Van-der-Waals-Kräfte sollen wie alle Bindungen auf der Anziehung zwischen entgegengesetzten elektrischen Ladungen beruhen, was sich z.B. in atomaren und nach außen elektrisch neutralen Teilchen wie Edelgasen, bei denen sie ebenfalls postuliert werden, recht kompliziert gestaltet. Denn damit die Kräfte überhaupt - und wenn auch nur theoretisch - wirken können, muß die elektrische Verteilung innerhalb eines Atoms kurzfristig unsymmetrisch werden, so daß das Atom oder auch das Molekül als Dipol erscheint, obwohl es chemisch keines ist (dann würde es ja eine echte Bindung eingehen können).

Ist also in einem Moment der van-der-Waals-Kraftentfaltung ein anderes Atom oder Molekül in der unmittelbaren Nähe, so sollen dessen Elektronen kurzfristig in Richtung zur positiven Seite des ersten Atoms (Moleküls) verschoben werden, so daß auch dieses zweite Atom kurzfristig zu einem Dipol wird. Weil ein solcher Dipol - im Gegensatz zu sogenannten echten chemisch polaren Molekülen, wie z.B. Salzsäure (HCl) oder auch Wasser (H2O) - erst unter Einwirkung eines äußeren elektrischen Feldes entsteht, nennt man ihn einen "induzierten Dipol".

D.h. das Auftreten von van-der-Waals-Kräften ist letztlich vom Erscheinen bisher nicht erwähnter elektrischer Ereignisse abhängig. Ihr rechtzeitiges Auftauchen wird nicht erklärt, ist aber letztlich auch für das Aneinanderhaften der Zellen nach dieser Theorie unabdingbar.

Doch soweit läßt sich der Experte des New Scientist gar nicht auf das Problem der Adhäsion ein. Er erklärt die Adhäsion der Zellen über eine tatsächlich noch ungreifbarere Theorie: Die einzelnen Zellen besitzen danach spezielle Adhäsionsmoleküle, die wie eine Art Klebstoff fungieren. Anders gesagt: Das Anhaften der Membranmoleküle an der Grenzfläche (d.h. der Membran bzw. einem Membranmolekül der nächsten Zelle), das Zell-Adhäsion genannt wird, findet über individuelle Haftmoleküle statt, die genau das können, womit sich jede nähere Erklärung des Warum oder Weshalb auf die stofflichen Eigenschaften dieser Moleküle verschieben läßt. Diese werden aber auch nicht näher beschrieben. Statt dessen lenkt man von dieser offensichtlichen Wissenslücke ab und gibt vor, doch etwas zu wissen, indem man sie in drei Kategorien unterteilt, die für verschiedene Haftbereiche zuständig sind:

...These molecules are of three types called cell adhesion molecules (CAMs), substrate adhesion molecules (SAMs) and cell junctional molecules (CJMs). All these molecules help cells to stay together without falling apart. For more information read "Topobiology: an introduction to molecular embryology" by Gerald M. Edelman (Basisc Books, NY 1988). The Last Word, Kommentar von Dr. Octavio Miramontes Mexico City, 15. August 2007
(NewSci, via Internet 16. August 2007)

Eine ergänzende Erklärung eines anonymen Kommentators weist schließlich darauf hin, daß es doch auch noch die Extrazelluläre Matrix (ECM = engl. extracellular matrix) gebe, die aus Glycoaminoglycan und Proteinen wie Collagen bestehen soll. An diese "Matrix", die in Knochen, Organen und sämtlichen Gewebearten vorkommt, könnten sich die Zellmoleküle anbinden, wobei man sich das ECM dann wie einen Brückenkopf zwischen den einzelnen Zellmolekülen oder Zelladhäsionsmolekülen vorstellen muß.

Kurz gesagt, man stelle sich das Ganze wie einen Eiweiß-Zucker- Klebstoff vor, der die Zellen gewissermaßen "zusammenbackst". Das wird dem einen oder anderen, der schon mal ein Lebkuchenhaus mit Zucker- Eiweißmasse zusammengeklebt hat, sicher sehr einleuchten, obwohl es über das, was da im Einzelnen zwischen Zellen oder Zellmembranen passiert, letztlich auch nicht viel aussagt.

Doch was soll man schließlich mit dem ebenfalls anonym gebliebenen Kommentar eines offensichtlichen Witzboldes anfangen, der der ganzen Sache wohl nicht den nötigen Ernst abringen kann:

The cells actually are wondering the same thing about their constituent molecules, seeing as how the space between the matter dwarfs the actual molecular size. As such they huddle together in groups, in hopes to solve this mystery by combining their collective reasoning. By Anonymous on August 16, 2007 10:37 PM
(NewSci, via Internet 16. August 2007)

Auf deutsch heißt das: Die Zellen hätten sich die gleiche Frage ihre eigenen Moleküle betreffend auch schon gestellt, zumal sie sehen, wie der Raum zwischen der Materie die tatsächliche Größe der Moleküle vergleichsweise klein erscheinen läßt. Aus diesem Grund drängen sie sich in Grüppchen zusammen, um ihren gesamten zellulären Verstand zusammenzulegen und dem Geheimnis endlich auf die Schliche zu kommen.

Um es noch einmal ganz deutlich auszusprechen: Nach dem bisherigen Stand der Biochemie - das wird hier klar - gibt es auf die eingangs gestellte Kinderfrage schlußendlich keine befriedigende Antwort. Es sei denn, es reicht einem die Antwort: Die Zellen kleben zusammen, weil sie kleben.

Die Erklärungsmodelle von Chemie, Biochemie und Physiologie weisen hier eindeutig Unzulänglichkeiten auf, die schon an der unhinterfragten Voraussetzung scheitern, daß ein Organismus überhaupt in einzelne individuelle Zellen, Organe, Gliedmaße usw. zergliedert werden muß, um ihn zu verstehen. Alles was eine funktionierende Verbindung zwischen den Zellen oder den Körper als Ganzes wissenschaftlich erklären soll, so wie man es beispielsweise auch empfindet, reicht nicht aus, so daß man letztlich darauf kommen müßte, an diesen Grundvoraussetzungen des Körpers, d.h. der Existenz von Zellen, so wie man sie sich derzeit vorstellt, zu rütteln. Kinder oder auch neugierig bzw. kindgebliebene Erwachsene, die solche Fragen aufwerfen, und damit die Grundfesten der Wissenschaft erschüttern, müssen einfach lernen, an welchen Vorstellungen nicht gerührt werden darf. Und dabei helfen ihnen dann das Auswendiglernen von komplizierten eindruckschindenden Fachausdrücken, wie der von der Zelladhäsion, mit denen man das fehlende Wissen kurzerhand ersetzt. Sei's drum, die Frage nach dem Zusammenhalt der Zellen bleibt nach wie vor offen.

21. August 2007