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RATGEBER/213: Was die Wunderwaffe "Joghurt" ausmacht (SB)


VON APFELESSIG BIS ZITRONE - Bewährte Hausmittel einfach erklärt

Joghurt wird mit "Pres" und "Pros" zur Wunderwaffe gegen chronische Darmerkrankungen hochstilisiert

und was eigentlich dahinter steckt


Laut einer Meldung des Informationsdienstes Wissenschaft e.V. - idw - vom 2. August führt die Ambulanz für chronisch entzündliche Darmerkrankungen am Ulmer Universitätsklinikum derzeit eine klinische Studie über die mögliche Wirkung von Probiotika bei Patienten mit Morbus Crohn durch, freiwillige Testpersonen werden noch gesucht.

Grund dafür ist die aggressive Werbung, mit der die Joghurthersteller die besonders positive Wirkung auf die Gesundheit ihrer Kunden anpreisen: "Stärken Sie ihre natürlichen Abwehrkräfte!" Graphische Darstellungen bzw. kleine Zeichentrickeinheiten zeigen bildhaft, wie der Joghurt die schlaffen Abwehrkräfte in fauststarke Kämpferbällchen verwandelt, die eindringende Keime mit wirksamen Kinnhaken in die Defensive und aus dem Körper treiben. Seit 1995 die ersten probiotischen (griechisch: für das Leben) Joghurts auf den deutschen Markt kamen, floriert das Geschäft mit der Darmflora: Inzwischen konkurriert eine Vielzahl veredelter Milchprodukte um die Gunst des Verbrauchers. Was ist dran an solchen Versprechungen?

Die Ambulanz für chronisch entzündliche Darmerkrankungen der Ulmer Universitätsklinik für Innere Medizin I führt hierzu aktuell eine Studie durch: Patienten mit mildem Morbus Crohn werden mit bestimmten Lactobacillen behandelt, einem probiotischem Bakterienstamm, dem ein besonders guter Einfluss auf die Darmflora zugeschrieben wird.

"Wir erhoffen uns neue Erkenntnisse darüber, ob dieser probiotische Bakterienstamm die Krankheitsaktivität und Krankheitssymptome bei Morbus Crohn positiv beeinflussen kann", erklärt PD Dr. Georg von Boyen, der Leiter der Ulmer Spezialambulanz. Bei Patienten mit der milden Form einer anderen entzündlichen Darmkrankheit, der Colitis ulcerosa, ist der positive Effekt einer Therapie mit dem probiotischen Bakterienstamm E. coli Nissle 1917 bereits bewiesen.
(idw, 2. August 2007)

Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind entzündliche Darmerkrankungen, die sich in verschiedenen Teilen des Darms ausbreiten und bis heute nicht heilbar sind. Sie gelten gemeinhin als Zivilisationskrankheiten, die im wesentlichen auf Nervosität und Unausgeglichenheit des Patienten, auf beruflichen und privaten Streß, auf ungesunde Ernährung (Fastfood), Rauchen, Alkohol und viele andere Standarderklärungen für derartige Zivilisationserscheinungen zurückgeführt werden und letztlich zu immer noch nicht ganz geklärten Störungen im Abwehrsystem der Darmschleimhaut führen. Durch ihre Schwächung ist der Mensch einem Angriff aggressiver Magen-Darmkeime wie Helicobacter pylori gewissermaßen schutzlos ausgeliefert, so die Theorie.

In Deutschland sind allein 420.000 Menschen von diesen entzündlichen Erscheinungen betroffen. Sie leiden an Bauchkrämpfen, blutigen Durchfällen, an Fieberschüben und Gewichtsverlust, mitunter auch an Gelenkschmerzen, Hautveränderungen und Augenentzündungen. Statt aber naheliegenderweise individuelle Streßsymptome zu isolieren und den jeweiligen Lebensplan anzugehen, wird nun ein sanfter Joghurt empfohlen, der sich wie eine Cremeschicht über den entzündeten Darm zieht und ihn mit einem neuen Schild aus Laktobakterien (Milchsäurebakterien) versieht, der feindlichen Angreifern den Garaus machen soll. So läßt es uns zumindest die Werbung verstehen.

Was die Werbung nicht zeigt, ist, daß die Probiotika, meist sind es lebende Mikroorganismen bzw. spezielle Stämme von Milchsäurebakterien, zunächst auch alle körpereigenen Darmbakterien rausschmeißen bzw. verdrängen müssen, um für sich selbst Platz zu schaffen, auch wenn die körpereigenen Darmbakterien die Oberfläche des Darms optimal besetzen und ihrer Funktion nachkommen.

Das ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, nur schädliche Bakterien und Mikroorganismen würden verdrängt, um das Immunsystem zu stärken. Tatsache ist, daß der komplette Satz ausgetauscht werden muß, sonst konkurrieren die alten und neuen Stämme um die Nährstoffe im Darm.

Um dem werbewirksamen und geradezu sprichwörtlichen "Kick für den Darm" genüge zu tun, müssen Probiotika, spezielle Laktobacillen oder Bifidobakterien daher wesentlich stärker und raumgreifender sein als die ursprünglichen körpereigenen Stämme.

Ob die probiotischen Stämme die Darmflora tatsächlich günstiger beeinflussen und das Immunsystem stärken ist bisher jedoch keineswegs bewiesen. Auch ist fraglich, ob die Milchsäurebakterien ihren Bestimmungsort im Dickdarm überhaupt lebend erreichen: dem Angriff der aggressiven Magen- und Gallensäuren trotzen höchstens 40 Prozent der verspeisten Bakterien. Um eine Wirkung zu erzielen, müssen die Produkte regelmäßig in größeren Mengen verzehrt werden. Wem das zu aufwendig ist, der kann auch gleich auf Bakterienkulturen in Kapselform, also Fertigarzneimittel, zurückgreifen. In jedem Fall können die großen Mengen an Probiotika nur biotechnisch gewonnen werden, der Schritt zu gentechnischen Verbesserungen ist hier schnell getan.

Besonders interessant für die Hersteller von probiotischen Nahrungsmitteln ist die individuelle Versorgung dieser Kleinstlebewesen mit ihrem Lieblingsfutter. Sie benötigen für ihren Stoffwechsel nämlich wasserlösliche Ballaststoffe d.h. unverdauliche Kohlehydrate wie Inulin und Oligofructose, die gewissermaßen als die ultimative Ernährung für "gute" Darmbakterien gelten: Sie sollen das Wachstum der nützlichen Bifidobakterien fördern, die angeblich Krankheitserreger verdrängen und die körpereigene Abwehr unterstützen können.

Anders gesagt, ohne die sogenannten "prebiotischen Zusätze" oder auch "Prebiotika" verkümmern die vermeintlichen Wunderwaffen zu ganz normalen bzw. verhungerten Darmbakterien, die ihre Stellung nicht weiter halten können und den Gang alles Irdischen tun. D.h. in den probiotischen Lebensmitteln muß auch gleichzeitig für die richtige prebiotische Ernährung der Probiotika gesorgt werden. Und das macht den potentiellen Verbraucher von Functional Joghurts bzw. seinen Darm samt Flora von bestimmten Produkten abhängig.

Prebiotische Zusätze finden sich in Müslimischungen, Säften, Milchprodukten und Fertigsuppen, die beim gesunden Abnehmen helfen sollen. Manche Bäckereien bieten prebiotische "Cult-1-Brötchen" an.

Da aber Nährstoffe zur Päppelung der Darmflora auch wieder die nötigen Bakterien brauchen, die das fressen, enthalten manche prebiotischen Produkte neben prebiotischen Ballaststoffen gleich auch die entsprechenden Nutznießer: probiotische Bakterienkulturen.

Da diese nicht unbedingt von Hersteller zu Hersteller bzw. von Produkt zu Produkt identisch sein müssen, führt diese Ernährungsweise zwangsläufig zum Krieg im Darm: Je nachdem, was der Verbraucher in besten Absichten zu sich nimmt, kämpfen neu zugeführte Darmbakterien mit alten zugeführten oder alten eingesessenen um die Vorherrschaft. Der bildliche Boxkampf gilt also nicht allein alten, schwachen oder kranken Darmbakterien. Wer für den besten Nachschub an Prebiotika gesorgt hat, gewinnt höchstwahrscheinlich und macht den Darm bzw. den Menschen dann von der Zufuhr bestimmter Lebensmittel abhängig, wenn er ohne Reizdarmbeschwerden weiterleben will.

Man fragt sich, ob bei solchen Praktiken, bei denen es letztlich nur um wirtschaftliche Vorteile und Marktansprüche geht, überhaupt noch jemand an die Gesundheit der potentiellen Verbraucher gedacht hat, ganz gleich, was die Werbung sagt.

Bisher gingen die Kritiker nicht so weit, dennoch halten sie den Kult um den Darm für absolut überflüssig, zumal eine natürliche, gesunde Darmflora, die nicht durch Antibiotika geschädigt wurde, sehr gut schädliche Mikroorganismen wie Hefe, Pilze und Bakterien (z.B. den berüchtigten Magenkeim Helicobacter pylori) zu verdrängen vermag. Probiotische Bakterienkulturen und ihre spezielle Nahrung sind also vollständig überflüssig und machen nur die Darmflora von der Zufuhr bestimmter, eben prebiotischer Nahrungsmittel abhängig.

27. August 2007