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RATGEBER/234: Molkeabfall oder neuer Lebensmittelzusatzstoff (SB)


Fettersatz und Anti-Kleckerschutz

Abfallprodukt wird als Aufwertung für Lebensmittel vermarktet


Ein Abfallprodukt aus Molkereien und Meiereien könnte, nach Meinung von einigen Lebensmittelchemikern und Experten, in Zukunft dafür sorgen, daß Eiscreme langsamer schmilzt und dennoch gleichbleibend cremig schmeckt. Doch hinter diesem scheinbar sensationellen Anti- Klecker-Hilfsstoff, der Mütter aufatmen und Seifenpulverhersteller in die Wäsche schauen lassen soll, stecken tatsächlich noch ganz andere Interessen.

Es handelt sich um ein Molke-Eiweiß, das bei der Käseherstellung in großen Mengen anfällt. Da es leicht verdaulich ist und praktisch nichts kostet, wurde es bisher als billiger Eiweißzusatz Sportlernahrung oder Babynahrung und Fertigmahlzeiten für Säuglinge und Kleinkinder beigemengt.

Eiweißstoffe und andere nahrhafte Abfallprodukte müssen bereits heute möglichst vollständig recyclet werden. So will es der Gesetzgeber. Doch die Frage, wie man die in der Molke enthaltenen Rohstoffe am besten und nutzbringendsten verwertet und wo man überhaupt mit den großen Mengen dieses Molkereiausschusses hin soll, bleibt nach wie vor offen. Statt dessen wird jährlich mehr produziert. Entfielen 1950 auf jeden Bundesbürger im Durchschnitt etwa 5,2 Kilogramm Käse, so waren es 1970 bereits doppelt so viel und 1990 schon 18 Kilogramm. Inzwischen wird nur in Griechenland und Frankreich noch mehr Käse gegessen.

Während sich der Hunger überall auf der Welt ausweitet, wurde das Käseessen hierzulande wie in den meisten Industrienationen zu einem Kult um die Sortenvielfalt hochstilisiert. So betrug der Umsatz der deutschen Molkereiwirtschaft schon 1999 etwa 37,6 Milliarden Mark und lag damit etwa bei einem Sechstel des Gesamtumsatzes der Lebensmittelwirtschaft. In deutschen Käsereien werden nach groben Schätzungen etwa 4000 verschiedene Käsesorten bzw. 4000 verschiedene Frischkäse, Schnittkäse, Hartkäse, Weichkäse, Schmelzkäse, Sauermilch- und Kochkäse hergestellt. Wenn man bedenkt, daß aus einem Liter Milch im Höchstfall 30 Gramm Frischkäse gewonnen werden können, läßt sich vorstellen, daß die Flutwelle aus Molke (kurz gesagt Milchwasser), die von den Käsereien entsorgt werden muß, kaum noch zu bewältigen ist.

Kein Wunder also, daß die Hersteller für diese Unmengen an immer noch nährstoffhaltigen Abfällen weitere Absatzmärkte suchen. Das ist u.a. auch der Grund, warum neben Milch und Joghurt inzwischen eine große Zahl vielfältigster Molke-Erzeugnisse in den Kühlregalen der Supermärkte zu finden sind, die als Gesundheitsprodukte und Schlankheitskost angeboten werden.

Das Image der Molke mußte dazu vom säuerlichen Übrigbleibsel, das außer Wasser, einigen Eiweißresten und Mineralstoffen kaum etwas enthält, was der Mensch tatsächlich verstoffwechseln könnte, zur schlankmachenden, verdauungsfördernden "reinen Gesundheit" aufgewertet werden, was im Zuge der Ökologiebewegung und mit Hilfe von künstlichen Geschmacksaromen und Süßungsmitteln inzwischen längst geschehen ist.

Dies läßt jedoch auch eine Tendenz erkennen (die auch auf andere Gebiete der Lebensmitteltechnologie übergreift), daß der Verbraucher allmählich neben hochwertigen Produkten auch an die Verwertung von Abwässern, Nebenprodukten, Lebensmittelabfällen oder gar Biomüll mit geringen Nährstoffgehalten gewöhnt werden soll. Und dieser Trend läßt gemeinsam mit den gesetzlich verordneten Recyclingvorgaben nur den Schluß zu, daß die Forschung und Entwicklung von technischem Know How zur Verwertung von Abfällen aus anderen als ökonomischen oder ökologischen Gründen forciert und unterstützt wird, nämlich dem wachsenden Mangel an Rohstoffen.

Nun haben im Rahmen dieser Lebensmittelrecycling-Forschung einige Wissenschaftler der Technischen Universität München entdeckt, daß mit Hilfe des preiswerten Molkeproteins und einer - allerdings aufwendigen - Vorbehandlung die Qualität von Eiscreme enorm verbessert werden kann. Das Ergebnis ist ebenso wie die Molke selbst ein Nebenprodukt, denn eigentlich hatten die Forscher, so berichtete der Projektleiter Maximilian Koxholt vom Institut für Lebensmittelverfahrenstechnik in dem Wissenschaftsmagazin Geo 10/99, nur untersuchen wollen, wie gut das Molkeprotein Wasser bindet. Genauer gesagt, erforschten die Verfahrenstechniker die Möglichkeiten, Molke-Eiweiß mit Wasser zu verdünnen, ohne daß es unansehnlich ausflockt und wie sich einzelne Molkeproteinmoleküle durch die Bindung von Wasser schwerer machen lassen (in beiden Fällen läßt sich der Nährwert des ohnehin minderwertigen Eiweißes noch weiter herabsetzen).

Um jedoch überschüssige Molke statt des wertvollen Magermilchpulvers für Speiseeis verwenden zu können, der eigentliche Grund dieses Forschungsunternehmens, mußten die Lebensmittelchemiker die Molke richtig in die Mangel nehmen: Zunächst wurde ein Konzentrat hergestellt. In einem Wärmetauscher erhitzten sie die Proteine dann auf 80 Grad Celsius. Anschließend wurde die Masse auf fünf Grad abgekühlt und zugleich von rotierenden Messern im Mixbecher eines Küchengerätes zerkleinert, bis schließlich, je nach Drehzahl der Klingen, Partikel mit Durchmessern von 4 bis 20 Tausendstel Millimetern entstanden waren.

Praktisch nur nebenbei stellten die Verfahrenstechniker fest, daß das Molkeprotein auf diese Weise auch das Abschmelzen von Eis verzögern und zugleich das Mundgefühl verbessern kann.

Ganz überraschend fanden sie das Ergebnis im anschließenden Schmelztest am fertigen Produkt. Hier waren es gerade die größeren Molkeproteinteilchen, die, wenn sie anstatt des Magermilchpulvers der Eisrezeptur beigegeben worden waren, nun offensichtlich den Schmelzprozeß verzögerten. Und zwar tropfte das Eis umso langsamer ab, je größer die verwendete Korngröße der Eiweißpartikel war.

Auch mit einer passenden Erklärung für dieses scheinbare Phänomen ließen die Forscher nicht lange auf sich warten. Danach muß man sich das Ganze etwa wie einen aufgeschäumten Griespudding vorstellen. Die klumpigen Körnchen verstopfen sozusagen die Abflußkanäle für die Schmelze in der aufgeplusterten Eiscremestruktur. Dabei sind die Körnchen nur etwa so groß wie Fettkügelchen, die normalerweise in Cremespeisen das "sahnige Mundgefühl" auslösen. Damit hätten die beteiligten Lebensmittelwissenschaftler also eine weitere Möglichkeit gefunden, dem Verbraucher mit einem minderwertigen Ersatzstoff höherwertige, sahnige Cremigkeit vorzugaukeln.

Die proteinreichen Krümel haben nur einen Nachteil: Hohen Druck (beispielsweise im Ultraturax), mit dem die Eiscreme im Zuge der Produktion homogenisiert wird, überstehen sie bisher noch nicht unbeschadet.

Doch ein Absatzmarkt für künstlich erzeugte, "vollmundige, fette Cremigkeit" läßt sich auch in anderen Bereichen der Lebensmittelherstellung finden. Die Zukunft für den geschmacksidentischen, gefühlsechten, aber nährstofflosen Lebensmittelersatz aus kostenlosen Abfällen, die uns unangenehm an die Science Fiction Vision aus dem Film "Soilent Green" erinnert, hat schon längst begonnen.

Erstveröffentlichung 2000

13. Februar 2008