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RATGEBER/244: Milchreis klebt besser als Zement (SB)


Womit die alten Chinesen ihre Mauern verputzten


Wer Milchreis liebt und gerne selbst ißt, weiß auch, wie er klebt. Nicht umsonst wäscht der Experte Töpfe und Geschirr möglichst schnell nach ihrem Gebrauch ab oder setzt die Milchreisreste zumindest zum Einweichen bis zum nächsten Abwasch unter Wasser. Angesichts seiner fast legendären Klebkraft wird es wohl kaum verwundern, daß die Chinesen, wie archäologische Funde belegen, tatsächlich Milchreis anstelle von Lehm oder anderer Mörtelmasse für historische Befestigungsanlagen verwendet haben.

Das früher als böswillig eingestufte Gerücht, die Chinesische Mauer sei mit klebrigem Reis verputzt worden, scheint vielleicht doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen.

Die Behauptungen der Archäologen werden inzwischen durch Mörtelanalysen aus Mauern der alten Hauptstadt Xian gestützt, die u.a. Kunstschätze wie die Terrakotta-Krieger lange vor unbefugtem Zugriff schützten.

Die Stadtmauern, die die Stadt immer noch vollständig umschließen, stammen in ihrer heutigen Form zwar aus der Ming Dynastie des 14. Jahrhunderts. Jedoch soll mit dem Bau der beiden architektonischen Meisterwerke etwa im gleichen Zeitraum im 3. Jahrhundert vor Christus und unter der gleichen Herrschaft begonnen worden sein.

Während der derzeit laufenden Renovierungsarbeiten in Xian wurde etwas Putz zu analytischen Zwecken abgetragen, da er sich auch noch nach all diesen Jahren als ausgesprochen hartnäckig und fest bei der Bearbeitung erwies. Kurz gesagt, machte er den Archäologen so viel Mühe, daß sie durch die Analyse seiner Zusammensetzung einen vergessenen sensationellen Mörtelstoff zu entdecken hofften, der sich vielleicht sogar lukrativ nutzen ließ.

Eine Probe des Putzes wurde daher ins Labor gesandt und brachte ein sehr verblüffendes Ergebnis: Die Daten und Analyseergebnisse entsprachen denen des gleichen klebrigen Reisschleims, der noch seit Jahrtausenden in China traditionell zum Frühstück serviert wird.

Wie Richard Spencer aus Peking für die "Telegraph Group Limited" schon in einem 2005 veröffentlichten Artikel schrieb, erklärte Qin Jianming vom Xian Kulturgut Erhaltungs- und Restaurationszentrums, daß es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich um Reisschleim handele.

Ein zusätzliches Infrarotspektrogramm habe eindeutige strukturspezifische Ähnlichkeiten zwischen dem alten Mörtel und Reis auf molekularer Ebene ergeben. Sein Team sei daher davon überzeugt, daß es sich tatsächlich um das gleiche Material handele.

Somit steht zumindest analytisch fest, wo die altchinesischen Maurer in Xian ihren Frühstücksreis gelassen haben und daß auch diese frühe Zivilisation schon über nachwachsende Rohstoffe nachgedacht haben muß.

Für Nachahmungszwecke ist der Reisschleimzement allerdings nur dann geeignet, wenn man ihm eine lange Trocknungszeit ohne äußere Störungen zubilligen kann.

Denn wenn der noch nicht verkrustete und ausgehärtete Reisschleim mit Wasser zusammentrifft, geschieht das, was eben jede Hausfrau nutzt, wenn sie das Geschirr noch vor dem Eintrocknen unter Wasser setzt: Die Stärkepartikel quellen auf, lösen sich und lassen sich abwaschen.

Einen wirklich erstklassigen Naturzement erhält man, wenn man die mit Wasser angerührte Reisschleimmenge mit etwas Leinöl vermengt. Letzteres sorgt dann - ebenfalls nach angemessen langer Trockenzeit - für einen absolut luft- und wasserdichten Lackabschluß.

Man sollte aber sichergehen, daß die benötigten Mengen nicht zufällig im Eßgeschirr angerührt werden. Denn die mit dieser Masse verklebten "Heimwerkertöpfe" kann man anschließend nur noch entsorgen...

Erstveröffentlichung 2. März 2005
aktualisierte Fassung

17. Juni 2008