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RATGEBER/258: Plasmatechnik soll Buch- und Papierzerfall stoppen (SB)


Über den aufwendigen Versuch historische Dokumente und museale Zeitzeugen zu retten oder

wie man Papier durch ständiges Auseinandernehmen und
Wiederzusammensetzen haltbar machen will


Immer mehr Zeitungen stellen ihre Seiten ins Internet, Wissenschaftler publizieren online und auch Bestsellerautoren wie Stephen King veröffentlichen im "Cyberspace". Obwohl eine Studie der Ohio State University an 130 Studenten eindeutig den Nachweis liefern konnte, daß sich am Bildschirm Gelesenes wesentlich weniger gut einprägt, und auf Papier Gedrucktes durchaus seine Vorteile hat, ist für viele im Zeitalter der elektronischen Datenträger und Computer das gute alte Papier einfach obsolet.

Dabei vergessen wir leicht, daß es das Papier gewesen ist, das den Fortschritt auf allen denkbaren Gebieten überhaupt erst ermöglicht hat. Und der Fortgang der Geschichte, das gesammelte historische Wissen über Kultur und Wissenschaft, ist im Original ausschließlich auf handgeschriebenen oder gedruckten Werken aufgezeichnet.

Papier hat jedoch einen nicht von der Hand zu weisenden Nachteil: Es vergeht. An vielen wertvollen Zeugnissen der Vergangenheit nagt der Zahn der Zeit. Dabei schlugen die Fachleute bereits auf dem 89. Deutschen Bibliothekentag Alarm: 30 Prozent der Buchbestände in den Bibliotheken Westeuropas und den USA waren schon geschädigt, 10 Prozent sogar zu schwer, um sie noch zu nutzen.

Gründe für den Verfall von Millionen von Büchern sind in den alten Herstellungsverfahren für Papier zu suchen. So wurden beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der industriellen Massenleimung von billigem Holzfaserpapier Chemikalien wie Alaun oder Aluminiumsulfat verwendet, um die Oberflächen besser gegen Druckerschwärze zu imprägnieren. Unter feuchtwarmen Bedingungen spaltet das Salz schweflige Säure ab, welche die Kohlenstoffketten der Cellulose direkt angreift und das Papier brüchig macht. Nach Schätzungen der Restauratoren sind hiervon nahezu die Hälfte aller Bücher, die seit 1850 gedruckt wurden, betroffen. Erst 1950 wurde dies überhaupt als Problem erkannt, und man suchte fortan nach Alternativen für "säurefreies" Papier.

Dieses selbsterzeugte Säureproblem ist allerdings nur ein Grund für den Zerfall des Fasergewebes. Bis vor 25 Jahren griff Schwefeldioxid als Begleiterscheinung ungereinigter Verbrennungsabgase fossiler Brennstoffe den Zellstoff an. Da er sich mit der Luftfeuchtigkeit zu schwefliger Säure verbindet, kann er teilweise auch heute noch sein durch Umweltverschmutzung provoziertes Zerstörungswerk fortsetzen, selbst wenn man inzwischen als Folge hoher Standards in der Luftreinhaltung und der daraufhin begonnenen Einführung von Rauchgasentschwefelungen in Kraftwerken sowie der Verwendung von schwefelarmen Treibstoffen in Nordeuropa eher von einer Schwefelverarmung sprechen muß.

Zerstörerisch wirken außerdem Oxidationsprozesse mit Luftsauerstoff, die zudem durch zweiwertige Eisen-Ionen (beispielsweise aus der in Dokumenten verwendeten Eisengallustinte) katalytisch verstärkt werden. Bei Kontakt mit dem stets hochreaktiven Luftsauerstoff (O2) oder dem um ein vielfaches reaktionsfreudigerem Ozon (O3), oxidieren die alkoholischen Gruppen der organischen Polysacharidmoleküle zu verschiedenen organischen Säuren, die den Zerfall des Papiers praktisch schon in seiner molekularen Struktur fördern. Das Papier wird zunehmend steifer und brüchiger. Enthält es darüber hinaus den Holzbestandteil Lignin, den man beispielsweise zu einem hohen Prozentsatz in billigem Zeitungspapier findet, vergilbt das Papier besonders schnell. Der Kontrast von Schrift zu Papier schwindet zunehmend.

Neben den chemischen Zerfallsprozessen bieten Zellstoff, Leim und Stärke im Papier Bakterien und Pilzen ein ideales Nährmedium für den biologische Abbau.

Wenn man vom mikrobiellen Befall historischer Papiere spricht, ist allerdings meist der Befall mit Schimmelpilzen gemeint, denn diese Lebewesen gedeihen auch in sehr trockenem und sogar besonders gut in leicht saurem Milieu (s.o.). Das Geflecht der Pilzfäden (Myzel) kann schwarz, grau, weiß, gelblich oder auch rötlich erscheinen und verfärbt entsprechend das befallene Blatt. Durch Enzyme spalten die Pilze die Cellulosemoleküle und lockern so den Faserverbund. Und dies ist somit der dritte mögliche Zerfallsprozeß, der das Papier brüchig werden läßt.

Ein Großteil der Forschung zur Restauration alten Papiers konzentriert sich heute darauf, ein chemisches Verfahren zur nachträglichen Neutralisierung der sogenannten "Säure"-Papiere zu finden (d.h. des alaun- oder aluminiumsulfathaltigen Materials). Bisher waren die Versuche allerdings mehr schädlich als hilfreich. Manche Verfahren eignen sich auch nicht für den Masseneinsatz, sondern erfordern ein Vorsortieren und eine isolierte Behandlung der einzelnen Blätter. Das kostet viel Zeit, zudem müssen gebundene Werke auseinandergenommen und wieder kunstgerecht, mit Hilfe alter Buchbindetechniken zusammengesetzt werden.


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Das verloren gegangene Wissen darüber wie auch fehlende Werkzeuge begrenzen auch die Möglichkeiten eines relativ modernen Entkeimungsverfahren für historische Papiere.

Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart, der Deutschen Bibliothek in Leipzig und der Universität Stuttgart arbeiten hierfür an einer besonderen Form der Plasmatechnik. Gewöhnlich wird sie in der Industrie verwendet, um Oberflächen zu reinigen, Materialien für das Lackieren vorzubereiten oder auch um Schutzschichten auf Oberflächen aufzutragen.

Als Plasma bezeichnet man ein "ionisiertes Gas". Im Gegensatz zu normalen Gasen, die elektrisch neutrale Atome oder Moleküle enthalten sollen, die sich unter bestimmten Druck und Temperaturbedingungen völlig frei bewegen, sind ionisierte Gase laut Definition "angeregte" Gase, bei denen z.B. mit Hilfe eines glühenden Drahts, den Gasatomen oder -molekülen Elektronen aus den äußeren Elektronenhüllen entrissen werden. Auf diese Weise entstehen positive Ionen und negative Elektronen, die sich unabhängig voneinander bewegen sollen. Ein solches nach außen neutrales Kationen/Elektronen-Gas bezeichnete der amerikanische Wissenschaftler Irving Langmuir 1928 nach dem griechischen Wort für "Gebilde", "Gebildetes" oder "Geformtes" als "Plasma".

Dieses künstlich erzeugte Plasma ist jedoch nach Meinung der Wissenschaftler gar nichts Unnatürliches. Angeblich soll etwa 99 Prozent des Weltalls aus derart ionisiertem Gas, also Plasma bestehen (z.B. das Sonnenplasma). Ein Gewitterblitz reicht aber auch schon zu seiner Erzeugung aus. Und selbst in der Nähe einer Kerzenflamme lassen sich schon ionisierte Gasteilchen finden, die im übrigen für das Leuchten der Kerze verantwortlich sind, wenn sie von ihrem angeregten Zustand in den Normalzustand zurückfallen und dabei Licht aussenden.

Während Sonne wie Kerzenflamme Beispiele für sogenannte "thermische Plasmen", also heiße Plasmen sind, deren Ionisation auf hohe Temperaturen zurückzuführen ist, gibt es auch "Niedertemperaturplasmen", die durch elektrische Wechselfelder, z.B. in einer Neonröhre, erzeugt werden können.

Kalte Plasmen werden inzwischen gerne in der industriellen Produktion eingesetzt. Beispielsweise soll ionisierter Sauerstoff Metalloberflächen reinigen, denn er reagiert schnell mit organischen Verunreinigungen wie Fetten oder Kühlschmierstoffen und spaltet sie in leichtflüchtige Verbindungen. In Kunststoffe bringt man mit Hilfe eines solchen Plasmas sauerstoffhaltige Gruppen ein, verbessert ihre Klebeeigenschaften oder die Haftung von Lacken auf Oberflächen.

Mit ionisierten Sauerstoffplasmen lassen sich verschiedene Materialien auch sehr gut sterilisieren. Denn die Zellwände und die Membranstrukturen von Mikroorganismen überleben den Ansturm ionisierter Teilchen nicht. Dazu kommt, daß die mit dem Plasma einhergehende Strahlung die Erbsubstanz von Bakterien und Pilzen schädigt.

Der Ansatz der Forscher am Fraunhofer-Institut, diese sterilisierenden Eigenschaften der Plasmatechnik für die Restauration von Büchern auszunutzen, ist allerdings neu. Zwar wurde schon Plasmatechnik für die Erhaltung alter, vom Verfall bedrohter Schriften eingesetzt, doch nur um transparente, festigende Schichten aufzutragen - und das mit wenig Erfolg.

Bisher wird gegen den Schimmelbefall Ethylenoxid eingesetzt, mit dem die Papierbögen begast werden. Das wirkt ausgezeichnet, hat jedoch den großen Nachteil, daß Ethylenoxid ein giftiges und explosives Gas ist. Auch Gammastrahlung wurde schon eingesetzt, die jedoch dem empfindlichen Papiermaterial mehr Schäden als Nutzen einbrachte.

Versuche am Fraunhofer Institut haben nun gezeigt, daß sowohl Sauerstoff- als auch Wasserstoffplasmen das Geflecht aus Pilzfäden zerstören und sogar ihre Sporen angreifen können. Dafür wurde eine neuartige Anlage mit zwei Kammern gebaut. In der ersten werden die befallenen Papiere im direkt erzeugten Plasma behandelt. In der zweiten Kammer unterhalb des eigentlichen Brennraumes unterlaufen sie einen sogenannten After-glow-Prozeß. Dabei wird eine direkte Einwirkung der im Plasma entstehenden Strahlung vermieden, was empfindliches Material schonen soll. Hier werden nur die ionisierten Teilchen über eine Gasströmung zum Papier in die Kammer geleitet. Durch eine entsprechende Steuerung des Gasdrucks und -flusses sowie des Prozeßgases selbst, der Behandlungsdauer u.a. Parameter sollen die Betriebsbedingungen individuell an das zu behandelnde Material und dessen Empfindlichkeit angepaßt werden können.

Bisher wurden gute Erfolge bei allen Versuchen erzielt. Den mikrobiellen Befall wollen die Forscher von einer Millionen auf nur 10 Keime reduziert haben. Außerdem ergab die Zerstörung der Pilzmyzelen einen weiteren positiven Effekt: Die verfärbten Seiten wurden sichtbar aufgehellt und das Schriftbild wieder gut lesbar.

Natürlich stellt sich auch hier die Frage, ob nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde, d.h. ob ein derart aggressives Verfahren nicht das Fasergewebe des Papiers noch zusätzlich schädigen kann.

Tatsächlich konnte man nach der Behandlung mit ionisiertem Sauerstoff eine geringere Festigkeit des Papiers feststellen. Die Cellulosestrukturen sind gegenüber dem Sauerstoffplasma nicht resistent.

Durch Wasserstoffplasmen hofft man nun auf den gegenteiligen Effekt. Denn Wasserstoff soll gewissermaßen als Gegenspieler des Sauerstoffs bereits oxidierte Bereiche wieder reduzieren und schon gelöste Verbindungen wieder neu herstellen. Mit einer wechselweisen Anwendung will man in besonders hartnäckigen Fällen dem Schimmelbefall zu Leibe rücken. Dabei soll zunächst das gegen Mikroorganismen wirksamere Sauerstoffplasma eingesetzt werden und anschließend eine Wasserstoffplasmabehandlung die weichen Stellen wieder aushärten.

Man fühlt sich dabei an brutale Friseurmethoden erinnert: Bei der Dauerwelle werden ebenfalls zunächst Verbindungen gelöst, um die Haare weich und formbar zu machen, die anschließend mit einer weiteren Chemikalie wieder neu geknüpft werden sollen. Daß die Haarstruktur nie wieder der ursprünglichen gleicht, ist eine weithin bekannte Tatsache. Selbst Farbe und Konsistenz ändern sich.

Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, daß die Fraunhofer Forscher jetzt schon gedanklich an einer dritten Kammer für dieses Verfahren arbeiten, in der mittels Plasmatechnik eine dünne Klebe- oder Schutzschicht (dem Festiger oder Haarspray des Friseurs vergleichbar) brüchige und poröse Buchseiten wieder haltbar machen soll. Bleibt nur zu hoffen, daß derart heikle Konstrukte am Ende noch den Blick des Historikers aushalten, der darauf fällt...

10. Oktober 2008