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RATGEBER/333: Kinderfragen (32) Zauber ohne Zucker (SB)


KINDERFRAGEN 32

Warum schmeckt heiße Milch süßer als kalte?



Man sollte meinen, diese Frage sei schnell zu beantworten, zumal in der heutigen internetgestützten Zeit, in der man nur eine Frage ins Googlefeld tippen muß, um zumindest den Hinweis zu einer Antwort zu erhalten. Doch Pustekuchen! Aufgeklärte Zeitgenossen lassen sich dann möglicherweise zu der Erklärung herab, daß Milch neben Ballaststoffen, Wasser (87 Prozent), Fett (4 Prozent) und Eiweiß (2,8 Prozent Casein und 0,5 Prozent Molkenprotein), 0,75 Prozent Mineralstoffen (Calcium-, Kalium- und Phosphor-Verbindungen), 0,2 Prozent Zitronensäure sowie Vitaminen und Enzymen, doch auch mindestens 4,7 Prozent sogenannte "Laktose" enthält, chemisch betrachtet ein Disaccharid aus D-Galaktose und D-Glukose. Dabei handelt es sich um den sogenannten Milchzucker, der mit normalem Streuzucker (Saccharose), den wir normalerweise als Rüben- oder Rohrzucker in der Küche benutzen, nur die D-Glukose (Traubenzucker) gemein hat. Die Kombination von D-Glukose und D-Fructose (Fruchtzucker), aus denen gewöhnlicher Haushaltszucker besteht, ist insgesamt dreimal so süß wie Milchzucker, d.h. von den 47 mg Milchsüße pro Liter schmeckt man streuzucker-äquivalent nur 16,3 mg. Das erklärt doch Manches - oder nicht? Nur nicht, warum gerade heiße Milch um so vieles süßer schmeckt.

Durch die Wärme würde sich der Zucker in Milch besser lösen... - Hitze würde Milchzucker in seine Bestandteile spalten, die einzeln um vieles süßer wären... - Milchzucker wäre an das Fett gebunden und würde daraus freigesetzt, das wäre bei Dioxin ganz genauso, deshalb sollte man auch lieber keine heiße Milch trinken - sind ein paar jener Antworten, die sich wissenschaftlich interessierte Mitmenschen für den Fall zurechtgelegt haben, daß man ihnen diese Frage stellt und damit dann ganz sicher gehen, daß man sich nie wieder mit derart Banalem an sie wendet.

Denn Erklärungen sind das nicht. Zucker, ganz gleich welcher, ist einfach nur wasserlöslich. Milchzucker löst sich sogar regelrecht ungern in Fett, weshalb man beim Verzehr von preiswertem Speiseeis oder beim Probieren von Kondensmilch schon mal ein etwas sandiges Gefühl auf der Zunge verspüren kann. Dieser "Sand" ist nichts anderes als auskristallisierte Laktose. Letzteres passiert immer dann, wenn die Löslichkeit von Milchzucker überschritten wird. Und tatsächlich ist die Löslichkeit von Laktose um so geringer, je fettreicher und kälter die Umgebung ist.

Um solche Auskristallisationen zu vermeiden, verwendet man in der Milchverarbeitung das Enzym Lactase, das eine sogenannte hydrolytische Spaltung der Laktose bewirkt. Das heißt, der Milchzucker wird mit Hilfe von Wasser (das zunächst als Hydrat gebunden wird) zerstört, wobei Glukose und Galaktose entstehen. Durch die Bildung der beiden Einfachzucker wird tatsächlich eine Erhöhung der Süßkraft erzielt, denn Laktose ist nicht nur im Vergleich zu Saccharose, sondern auch im Vergleich zu Fruktose und Glukose weniger in Wasser löslich und deutlich weniger süß. Allerdings läßt sich Milchzucker nicht einfach durch Wärme oder Hitze spalten.

Das inzwischen ubiquitär vorkommende Umweltgift Dioxin, löst sich - das ist richtig! - vorzugsweise in Fett und ist neben anderen Umweltgiften, die sich in Fetten anreichern, in geringen Spuren in jeder Milch zu finden, aber daß oder ob diese süß oder seifig schmecken, ist ein ganz anderes Thema...

Daß Milchzucker süßer schmeckt, wenn er gespalten wird, wäre durchaus eine Antwort auf unsere Frage, wenn sich denn Milchzucker so einfach durch Hitze spalten ließe. Laktose-Hydrat zersetzt sich jedoch beim Erhitzen und wird dabei braun. Bis 130° C entweicht zuerst das Hydratwasser, ohne daß dabei die Einzelzucker entstünden. Bei weiterem Erhitzen auf höhere Temperaturen wird innerhalb der Verbindung Wasser abgespalten und es entstehen braun gefärbte Reaktionsprodukte. Man bezeichnet die Hitzespaltung als Karamelisation, da bei der Reaktion ein Geruch entsteht, der zunächst karamel-ähnlich ist, dann aber in brandig-brenzlig übergeht.

Darüber hinaus läßt sich auf einigen Webseiten von Laktoseintoleranz-Betroffenen finden, daß auch die durch Zusatz des Lactase-Enzyms hydrolytisch gespaltene, ohnehin süßere Milch (die dann als laktosefrei deklariert wird) an weiterer Süßkraft gewinnt, wenn sie darüber hinaus noch erhitzt wird.


Die Süße sitzt im Protein

Erst über die neue Mode, Milch für den Kaffeegenuß nach italienischer Art aufzuschäumen, kommt man auf die Erklärung, warum der Milchzuckergehalt mit der Süße heißer Milch weniger zu tun hat, als Milcheiweiß. Denn die in der Milch enthaltenen Eiweiße ermöglichen erst den Milchschaum, der durch Einblasen von heißem Wasserdampf und somit durch Erhitzen der Milch erzeugt wird. Der natürliche Proteingehalt von frisch gemolkener Milch, der zwischen 2.8 Prozent und 3.6 Prozent liegt, reicht dafür vollkommen aus. Und dieser Schaum ist von besonderer Süße.

Interessant bei Proteinen ist nun, daß die einzelnen Aminosäuren, aus denen das Proteinmolekül zusammengesetzt ist, in zwei unterschiedlichen, sogenannten "chiralen" Versionen (in links- und rechtsdrehender Form) vorliegen können, die offenbar nicht geschmacksneutral sind, sich aber ineinander umwandeln können.

Das Phänomen, daß chemisch gleiche Substanzen, die sich in ihrer Struktur wie Bild und Spiegelbild oder rechte Hand zu linker Hand verhalten, in ihrer Wirkung durchaus unterschiedlich sein können, wurde erstmals publik, als man es an dem Arzneimittel Contergan (Wirkstoff Thalidomid [1]) feststellte. Hier soll die linksdrehende Form ausschließlich für die Mißbildungen bei Neugeborenen verantwortlich sein. Denn wie bei maßgeschneiderten Fingerhandschuhen ist es bei biochemischen Prozessen und Rezeptoren offenbar sehr entscheidend, ob es sich um die linke oder rechte Hand handelt, die man dort hineinpraktizieren oder andocken will.

Ähnliches gilt auch für links- und rechtsdrehende Aminosäuren, die sich in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften zunächst nicht voneinander unterscheiden. Doch offensichtlich docken L-Aminosäuren vorzugsweise an die für den "bitteren" Geschmack zuständigen Bereich der Rezeptoren an, während D-Aminosäuren am gleichen Rezeptor einen "süßen" Eindruck hinterlassen.

Ein extremes Beispiel ist D-Tryptophan. Die mit Abstand süßeste Aminosäure soll 37mal süßer schmecken als Saccharose. Der andere "Handschuh" L-Tryptophan ist gemeinsam mit L-Tyrosin die bitterste Aminosäure.

In der Natur kommen allerdings rechtsdrehende Aminosäuren kaum vor. Auch die Milchproteine sind überwiegend aus bitteren L-Aminosäuren aufgebaut. Es gibt allerdings auch Nahrungsmittel wie Reis, Knoblauch oder Erbsen, in denen die rechtsdrehenden Enantiomere (süßschmeckende D-Formen) reich vertreten sind.

Der größte Teil an D-Aminosäuren in der Nahrung entsteht bei der Zubereitung und hier vor allem durch thermische Prozesse. Das heißt, hohe Temperaturen und manchmal auch saure oder basische Bedingungen bewirken eine zumindest teilweise Racemisierung (Umwandlung in die spiegelbildliche Form). Dabei wandelt sich ein linksdrehendes Enantiomer wie durch Zauberhand in die rechtsdrehende Version um und schmeckt dann süß.

Bei Kartoffelchips werden zum Beispiel 14 Prozent der Asparaginsäure in die D-Form umgewandelt. In Kaffeeweißer (hitzebehandelte Trockenmilch) liegen 17 Prozent der Aminosäuren und in pfannengebratenem Frühstücksspeck 13 Prozent D-Aminosäuren vor. Außerdem sollen die in Proteinen gebundenen Aminosäuren sich um ein Vielfaches schneller verwandeln, als frei herumschwimmende.


Milchzucker nochmal versüßt

Schließlich soll hier aber auch nicht vorenthalten werden, daß der bereits als relativ hitzeunempfindlich enttarnte Milchzucker eine geringe Neigung besitzt, sich beim Erhitzen ebenfalls zu verwandeln. Genauer gesagt, die Glukose wird zur Fructose, ohne aber die Disaccharid-Verbindung zu verlassen. Was dabei entsteht, nennt sich Lactulose, eine ebenfalls süßere und besser lösliche Verbindung als Laktose. So entsteht zum Beispiel bei der thermischen Kondensmilchzubereitung 1 Prozent Lactulose. Das ist nicht viel, macht aber Kondensmilch für laktoseintolerante Menschen, die vom Milchzuckergenuß Bauchschmerzen bekommen, verträglicher.


Was sagt uns das über heiße Milch?

Ganz ohne zusätzliche Kohlehydrate, Zucker oder Süßstoff läßt sich Milch allein durch Erhitzen oder durch Aufschäumen mit heißem Dampf in eine süße Köstlichkeit verwandeln, die sich durchaus diätetisch einsetzen läßt. Verfahrenstechnik statt Zuckerersatz!

Fingerspitzengefühl ist hier gefragt, denn leicht kann man zuviel des Guten tun. Wenn man Milch bei hohen Temperaturen über einen längeren Zeitraum erhitzt, führt dies zur Bildung von Methylsulfid, Dimethylsulfid und Schwefelwasserstoff, was wohl auch einer der Gründe ist, der Heißmilchtrinker von Kaltmilchtrinkern und Garnichtmilchtrinkern trennt: Manche nehmen es wahr, manche nicht! Doch diese Verbindungen schmecken nicht nur äußerst unangenehm (Schwefelwasserstoff riecht nach faulen Eiern), sondern sind in größeren Mengen genossen, gesundheitlich bedenklich. Und auch diese Stoffe entwickeln sich - Abramakabra ! - letztlich aus den Milchproteinen. Wohl bekomm's!

Fußnote:

[1] Thalidomid ist eine chirale Verbindung, d.h. seine Struktur kommt in einer linksdrehenden und einer spiegelbildlich rechtsdrehenden Struktur-Version vor, die nur mit physikalischen Methoden an ihrer unterschiedlichen optischen Aktivität unterschieden werden können, nicht aber als zweidimensionale Strukturformel auf dem Papier. Beim Durchgang von sogenanntem "linear polarisiertem" Licht durch ein optisch aktives Medium (eine Lösung von Thalidomid) wird die Polarisationsebene des Lichts an jedem Molekül ein wenig gedreht. Bei der linksdrehenden Struktur nach links, bei der rechtsdrehenden entsprechend nach rechts. Contergan wurde als Racemat verkauft, was bedeutet, daß beide Strukturen gleichgewichtig vorliegen. Die positive, sedierende Wirkung kommt dem rechtsdrehenden Enantiomeren zu, die fruchtschädigende Wirkung wird mit den linksdrehenden Enantiomeren verbunden. Die Trennung der Enantiomere ist zwar möglich, hat aber einen Haken: Alle chiralen Substanzen haben die Eigenschaft zu racemisieren. D.h. im Körper wandelt sich ein Enantiomer sehr schnell in die andere Form um. Somit dürfte selbst die rechtsdrehende, harmlose Form nicht von Schwangeren eingenommen werden. Mehr dazu:
http://www.schattenblick.de/infopool/natur/chemie/ncfr0003.html

17. Februar 2014