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UMWELTLABOR/193: Weichmacher, unverblümte Grenzwert-Manipulation (SB)


Bisphenol-A - Verträglichkeit steigt mit gehobenen Grenzwert -

oder

wie man aus einem Schadstoff ein harmloses Mittel werden läßt


Bisphenol-A, ein seit Jahren gefürchteter Weichmacher, der nachweislich östrogene Wirkung an Mäusen gezeigt hat, wurde plötzlich aus heiterem Himmel von der EU-Behörde rehabilitiert. In einem AP- Artikel von Wiebke Rögener hieß es wörtlich:

EU-Behörde lockert Bestimmungen für eine Chemikalie, hält aber die grundlegende Untersuchung dazu unter Verschluss.

Wenn Babyfläschchen oder Lebensmittelverpackungen aus Polykarbonat den Bestandteil Bisphenol A (BPA) in Speisen und Getränke absondern, ist das nach Auffassung der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA seit Anfang dieses Jahres nicht mehr so schlimm wie noch in der Zeit zuvor.
(AP, 27. Juni 2007)

Selbst die wertfreie Berichterstattung der Presseagentur AP läßt sich bei derart offenkundig willkürlicher Manipulation den moralischen Unterton nicht nehmen, mit dem sogar ein unkritischer Leser gewissermaßen mit der Nase darauf gestoßen wird.

Die Anhebung des Grenzwertes scheint angesichts längst erwiesener Niedrigdosis-Effekte besonders fragwürdig. Oder ist es möglich, daß die zuständigen Behörden vollkommen vergessen haben, daß man genau für diesen Stoff selbst in sogenannter unterschwelliger Dosierung an Zellkulturen, Mäuseföten und Ratten eine eindeutig schädigende Wirkung nachgewiesen hatte? Das heißt, selbst von Dosen, die weit unter der erwarteten, definierten toxischen Grenze bzw. weit unter den als w-i-r-k-u-n-g-s-l-o-s deklarierten Mengen lagen, wurden an diesen Versuchstieren Veränderungen festgestellt, wie man sie sonst nur von Östrogen kennt.

Beispielsweise hatte der leitende Wissenschaftler Frederick vom Saal von der University of Missouri - wir berichteten schon 2005 im Schattenblick darüber (NEWS/561: Gefahr von Ethinylestradiol und Bisphenol A immer noch akut) vor Jahren gezeigt, daß sich die hormonempfindliche Prostata bei Mäuseföten unter Einfluß von geringsten Spuren des Bisphenol A sichtbar vergrößert.

Und das ist eine Erkenntnis, die selbst Toxikologen ratlos macht, da sie gegen ein wesentliches Grundprinzip der Toxikologie verstößt.

Nach der Definition von Giften soll ein potentiell toxischer Stoff mit sinkender Konzentration auch immer weniger auf den Organismus wirken und unterhalb einer bestimmten "Dosis ohne Effekt" (international: NOAEL) überhaupt keinen Schaden mehr verursachen. Gegen dieses eherne Gesetz verstößt Bisphenol A, für das nachweisbar keine "Dosis ohne Effekt" existiert, bekanntermaßen schon seit Jahren. Schon 2005 wunderten wir uns darüber:

Doch statt diese Hypothese neu zu überdenken, blieb sie auch nach den Erfahrungen mit Bisphenol A bis heute als Grundlage von Risikoprüfungen erhalten. Das scheint geradezu paradox, wenn man bedenkt, daß bei anderen Stoffwechselvorgängen im Organismus geringste Mengen von Spurenelementen, Vitaminen oder körpereigenen Hormonen für bestimmte essentielle Vorgänge verantwortlich gemacht werden.
(Schattenblick 2005, NATURWISSENSCHAFTEN\CHEMIE, NEWS/561)

Nun, inzwischen haben zumindest chemische Industrie und Umweltamt die Hypothese tatsächlich erneut in Frage gestellt und daraus eine äußerst praktische Schlußfolgerung gezogen. Da der echte NOAEL-Grenzwert offenbar so gering ist, daß man ihn kaum messen kann, d.h. ohnehin kein vernünftiges und mit entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen von seiten der chemischen Industrie herbeiführbares äußerstes Schwellenmaß gehalten werden kann, das nicht doch Organismen schädigen würde, setzt man den gesetzlichen Grenzwert für BPA einfach noch ein gewaltiges Stück herauf. Seither gilt es als akzeptabel und sogar unbedenklich, die fünfache Menge, d.h. genau 50 Mikrogramm, BPA pro Kilogramm Körpergewicht täglich zu schlucken. Vorher waren 10 Mikrogramm die Obergrenze.

Die Entscheidung läßt sich um so weniger verstehen, als die wesentlichen Daten, auf die sich die EFSA angeblich stützt, der Öffentlichkeit bis heute vorenthalten werden. Wörtlich heißt es weiter:

Seit Jahren streiten Wissenschaftler darüber, wie gefährlich BPA ist. Die allgegenwärtige Chemikalie schädige Hirn und Hoden, störe die Embryonalentwicklung und führe zu Verhaltensänderungen, sagen die einen und verweisen auf entsprechende Untersuchungen an Ratten und Mäusen. Eine Untersuchung dänischer Wissenschaftler bestätigte den Verdacht, dass BPA auf menschliche Hormonrezeptoren ähnlich wirkt wie Östrogen. Andere Forscher konnten bei Tierversuchen keine Schäden entdecken.
(AP, 27. Juni 2007)

Dabei ist die Wirkung des BPA, das im übrigen schon in seiner Grundstruktur dem berüchtigten DDT sehr ähnlich sieht, schon seit Jahren kein Geheimnis mehr. In dem Artikel des Schattenblick "NEWS/561: Gefahr von Ethinylestradiol und Bisphenol A immer noch akut", konnte gezeigt werden, daß die östrogene Wirkung beider Substanzen nahezu identisch ist.

Männliche Mäuse, die in der Gebärmutter derartigen Substanzen ausgesetzt waren, entwickelten Deformationen der Prostata und der Harnröhre. Tests wurden für Ethinylestradiol und Bisphenol A durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie wurden in den Proceedings of the National Academy of Sciences http://www.pnas.org veröffentlicht. (pte, 05.05.05)

Derzeit bestünden aber immer noch keine klaren Hinweise auf das Auftreten ähnlicher Probleme beim Menschen. Letzteres läßt sich allerdings angesichts der Fakten kaum noch ausschließen. (Schattenblick 2005, NATURWISSENSCHAFTEN\CHEMIE, NEWS/561)

Die Wissenschafter verabreichten den Mäusen Dosierungen der Chemikalien, die unter den Mengen lagen, denen schwangere Frauen ausgesetzt sein können, wenn sie weiter die Pille einnehmen und verunreinigte Lebensmittel und Getränke zu sich nehmen. Die männlichen Föten wiesen in der Folge eine Vergrößerung der Prostata und eine Verengung der Harnröhre auf. Der leitende Wissenschafter Frederick vom Saal von der University of Missouri erklärte, daß während der fötalen Entwicklung geringe Mengen von östrogenalen Chemikalien die Zellkontrollsysteme permanent stören und die Prostata anfälliger für Krankheiten machen können. Er gehe davon aus, daß diese Chemikalien Prostatakrebs verursachen.
(Schattenblick 2005, NATURWISSENSCHAFTEN\CHEMIE, NEWS/561)

Auffällig ist dabei, daß es stets öffentlich finanzierte Arbeiten waren, die Beeinträchtigungen durch BPA feststellten: 153 dieser Studien fanden negative Effekte schon bei extrem niedrigen Konzentrationen, nur 14 fanden keine. Dagegen kamen alle 13 von der Industrie geförderten Studien zu dem Schluß, BPA sei eher harmlos.

Laut AP soll es nun auch die Chemieindustrie gewesen sein, die jene Untersuchung finanzierte, auf die sich jetzt die EFSA bei der Erhöhung des Grenzwertes auf das Fünffache stützt.

In einer umfangreichen Studie war es dem Team der Biologin Rochelle Tyl am amerikanischen Research Triangle Institute in North Carolina gelungen, alle bisherigen Experimente, wie BPA auf Mäuse wirkt, in den Wind zu schlagen:

Über zwei Generationen hin hätten sich keine negativen Effekte geringer BPA-Dosen gezeigt, berichteten die EFSA-Experten in ihrer Begründung für den heraufgesetzten Grenzwert. Ihnen lag offenbar ein Entwurf der Studie vor, veröffentlicht ist diese jedoch bislang nicht. Auf Anfrage erläuterte eine Sprecherin der EFSA: Die betreffende Studie sei vom European Chemicals Bureau (ECB) im Rahmen der Risikobewertung von bestehenden Chemikalien veranlasst worden, das Vorgehen mit dem ECB abgestimmt.

Es sei gängige Praxis, dass die EFSA-Gremien sich auf solche noch unveröffentlichten Entwürfe stützen. "Die Studie ist noch nicht publiziert, die Veröffentlichung wird aber in den nächsten Monaten erwartet", so die Sprecherin im Februar.
(AP, 27. Juni 2007)

Nun, man wird sehen, ob das Thema bis dahin noch genügend Aktualität aufweist, daß die Studie von Interessierten und Betroffenen entsprechend unter die Lupe genommen werden wird.

Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen und der verheerenden Wirkung von östrogenähnlichen Substanzen auf Mensch und Umwelt, hätte man nur einen logisch konsequenten Schluß erwartet, nämlich den vollständigen Verzicht auf diesen Weichmacher, wie dies auch schon bei anderen östrogenähnlichen Umweltschadstoffen durchgeführt worden ist, nachdem man bei vielen Amphibien, Fischen und Säugetieren Veränderungen im Verhalten und bei den sekundären Geschlechtsmerkmalen feststellen konnte, die auf östrogenartige Stoffe im Wasser zurückgeführt werden müssen.

Ein Beispiel sind sogenannte PCBs (Polychlorierte Biphenyle) die - inzwischen schon längst verboten - als Flammschutzmittel aber immer noch in alten elektrischen Geräten wie Fernsehgeräten, Prozessoren, Computermonitoren, Plastikspielzeug enthalten sind:

Wie gefährlich die Chemikalien tatsächlich sind, könne bereits an Eisbären festgestellt werden, berichten hierzu die beiden Wissenschaftsmagazine Journal of Toxicology and Environmental Health und Environmental Health Perspectives. Die jüngste Untersuchung wurde von der Umweltorganisation WWF (über die Internetverbindung www.panda.org) durchgeführt. Wörtlich hieß es in dem Bericht:

"Demnach konnten die Experten bei Eisbären bereits Verhaltens- und Fortpflanzungsstörungen feststellen. Die Wissenschaftler hatten die Eisbären in Spitzbergen und im Norden Kanadas untersucht. Für die Verhaltensstörungen werden in erster Linie PCB (Polychlorierte Biphenyle) und verschiedene Pestizide verantwortlich gemacht. Augenscheinlich wurde, dass die Eisbären weniger körpereigene Abwehrstoffe gegen Infektionen aufwiesen. Zusätzlich konnten die Wissenschaftler veränderte Hormonspiegel feststellen."
(Schattenblick, 5. Oktober 2004, NATURWISSENSCHAFTEN\CHEMIE, UMWELTLABOR/148)

Während für das Flammenschutzmittel PCB Ersatz gefunden wurde, sieht es so aus, als wäre Bisphenol A oder chemisch 4.4'-Dihydroxy-diphenyl- dimethyl-methan (Dian), mit seiner EU-weiten Jahresproduktion von rund 700.000 Tonnen, die seinen Herstellern Milliardenumsätze einbringt, bisher für ungemein viele verschiedene technische Anwendungen unersetzlich. Und das ist auch der eigentliche Grund, warum seine erwiesene Toxizität immer wieder durch die Industrielobby in Frage gestellt wird.

Das gleiche gilt letztlich auch für manche östrogenartige pharmazeutische Produkte wie die Pille, die trotz erwiesener umweltschädigender Wirkung nicht aus dem Verkehr gezogen werden, und unvermindert aus den Klärwerken in die Gewässer und die Natur gelangen [siehe auch "UMWELTLABOR/162: Mutationen aus der Abwasser-Pipeline (SB)"].

Bisphenol wird u.a. als Ausgangsprodukt für Epoxidharze gebraucht, in denen es als Bisphenol A-Diglycidäther eine weitgehende Vernetzung der hochmolekularen Produkte und eine bessere Aushärtung der Harze garantiert. Man findet es außerdem in verschiedenen Lackrohstoffen und Kunststoffprodukten (CDs, Nuckelflaschen, Plastikverpackungen, Innenwänden von Konservendosen, Oberflächenschutz von Metallen, Gießharzen, Einbrennlacken, Klebstoffen oder auch zahnmedizinischem Material), auf die vermutlich niemand mehr verzichten mag. Allein durch Lebensmittelverpackungen kommt praktisch jeder Mensch mit geringen Spuren dieser Substanz täglich in Berührung, ob er will oder nicht.

In den seltensten Fällen werden die Verbraucher auf diesen Inhaltstoff aufmerksam gemacht, und wenn doch, dann stehen für dieses Produkt mehrere Namen zur Verfügung, die der Verschleierung des Stoffs Vorschub leisten und denjenigen, der die Umweltdiskussion unter einem gängigen Namen verfolgt hat, bewußt in die Irre leiten. So versteht man unter 4.4'-Dihydroxydiphenyl- dimethyl-methan oder Dian bzw. Bis-(p-hydroxyphenyl)-propan oder Bisphenol A immer das gleiche Produkt, das übrigens technisch sehr einfach mit Phenol und Aceton unter Wirkung von 75%iger Schwefelsäure (H2SO4) herzustellen und deshalb auch äußerst preiswert ist (ein weiterer Punkt, warum man nicht darauf verzichten will).

Wie wir schon in dem Schattenblickbericht NEWS/561 feststellten, nützen selbst herkömmliche Herangehensweisen, mit denen normalerweise Rohstoffe eingespart werden sollen, wie Abfall-Recycling, etwas, um den Austrag des Schadstoffs in die Umwelt normalerweise zu verringern, doch nicht bei Bisphenol A:

Da Epoxidharze und Polycarbonatkunststoffprodukte wie CDs sehr leicht zu recyclen sind - nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kunststoff-Recycling in Köln lassen sich gerade CDs im Gegensatz zu vielen anderen Kunststoffen oder Verpackungsmaterialien angeblich zu annähernd 100 Prozent in sortenreine Bestandteile zerlegen und wieder verwerten - wird die Freisetzung von Bisphenol A durch die chemische Behandlung während des Recyclingprozesses noch zusätzlich gefördert.
(Schattenblick 2005, NATURWISSENSCHAFTEN\CHEMIE, NEWS/561)

Und diese vergleichsweise niedrigen Dosen summieren sich sehr schnell zu dem bisher offiziellen Grenzwert, der schlicht nicht erreicht werden darf, wenn man weiterhin mit Bisphenol A arbeiten will. Daß diese Mengen auch schon ausreichen könnten, den Stoffwechsel des Menschen gravierend zu beeinflussen, scheint für die Verantwortlichen in diesem Zusammenhang wohl nebensächlich zu sein. Zumal sich in der Masse unterschwellig in Umwelt, Luft und Trinkwasser vorkommender Schadstoffe, die sich zudem noch gegenseitig beeinflussen können, so manches befindet, das sich nur schwer den etwaigen Beschwerden zuordnen läßt.

Bedenklich ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß im Gegensatz zu Zeiten einer noch relativ starken politisch aktiven Umweltbewegung die durchaus gängige Praxis willkürlicher Grenzwerterhöhung nun derart dreist und unverblümt von den Behörden unbegründet durchgeführt werden kann, ohne daß jemand dagegen aufbegehrt. Widerstand ist nicht nur zwecklos. Er ist von einer zunehmend resignierten Öffentlichkeit nicht einmal mehr zu erwarten.

6. Juli 2007