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UMWELTLABOR/235: Formaldehyd (1) Gefahr erkannt... (SB)


Wer hat Angst vor Formaldehyd? - Aberglaube und Gegenmittel (Teil 1)

Willkommener Sündenbock für Umweltgeschädigte


Formaldehyd oder Methanal, wie sein chemisch korrekter Name als Aldehyd des Methans lautet, verunsichert den Verbraucher schon seit mehr als 30 Jahren. Davor gab es für viele Anwendungsbeispiele, vor allem aber für die Desinfektion, jahrelang kaum ein besseres und wirksameres Mittel als gerade Formaldehyd.

Seit der Stoff in den Verdacht geriet, krebserregend zu wirken, ist er aus vielen Produkten des täglichen Lebens wie Hautcremes, Kosmetika, Shampoos, speziellen Arzneizubereitungen wie Solutio Castellani, Desinfektionssprays oder auch einfachen Haushaltsreinigern zumindest hierzulande verschwunden.

Im Mai 2006 hatte sich das BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) dafür ausgesprochen, Formaldehyd von Kategorie 3 ("möglicherweise krebserregend") in Kategorie 1 ("krebserzeugend für den Menschen") umzustufen, was heftige Diskussionen auslöste, ohne daß an der Kategorisierung bis heute etwas geändert wurde. Die zugrunde liegenden Daten erwiesen sich allerdings als nur bedingt aussagekräftig. Weitere Studien, wie etwa diejenige vom amerikanischen National Cancer Institute, blieben in der BfR-Bewertung unberücksichtigt. Dennoch bleibt das einmal geäußerte Urteil "gefährlicher als gedacht" mit dem Stoff Formaldehyd verbunden:

Berlin - Die in vielen Produkten des täglichen Lebens vorkommende Chemikalie Formaldehyd (Formalin) ist gefährlicher als bislang angenommen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Formaldehyd nun "als krebserzeugend für den Menschen eingestuft", wie das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) am Montag in Berlin mitteilte. (Ärzteblatt Online-Ausgabe, 29. Mai 2006)


Argumentation auf wackligen Füßen

Anlaß der Bewertung durch das BfR war eine Empfehlung zur Neueinstufung von Formaldehyd durch die International Agency for Research on Cancer (IARC) von 2004. Seit Veröffentlichung des IARC- Berichts sind eine Reihe von neuen Studien vorgelegt bzw. initiiert worden, die zum besseren Verständnis beitragen und ein klareres Bild des Forschungsstands wiedergeben.

BfR und IARC gründen ihre Argumentation auf Daten, nach denen offenbar bei Chemiearbeitern, die Formaldehyd ausgesetzt waren, die Sterblichkeitsrate durch Tumore des Nasen-und Rachenraums deutlich angestiegen sei. Zudem wurden zunehmend Fälle von Leukämie registriert, die ebenfalls mit Formaldehyd in Zusammenhang gebracht wurden.

BfR und IARC beziehen sich im Wesentlichen auf die drei bisher größten so genannten "Kohortenstudien" zu Formaldehyd aus den Jahren 2003 und 2004. Nur eine dieser drei Studien weist eine erhöhte Anzahl von Krebserkrankungen des Nasenrachenraums auf, und in dieser Studie wurde wiederum nur in einer von zehn untersuchten Fabriken eine überdurchschnittliche Häufung registriert. Insgesamt wurden 50.000 Chemiearbeiter betrachtet, die an ihrem Arbeitsplatz Kontakt mit Formaldehyd hatten. Neun Krebsfälle wurden registriert - sieben wären statistisch auch bei einem Personenkreis zu erwarten, der keinen Kontakt zu Formaldehyd hat.
(Life Science Network, 8. Juni 2006, Chemie.DE Information Service GmbH)

Nun sind bekanntlich Chemiearbeiter, aber auch andere Berufsgruppen, die mit Lösungsmitteln u.ä. Chemikalien umgehen, meist ohnehin in zu großem Maße den verschiedensten toxischen Schadstoffen und Umweltchemikalien ausgesetzt. Könnte die Hervorhebung von dieser umstrittenen Chemikalie möglicherweise brisantere Entwicklungen und Veränderungen in der Umwelt aus der letzten Zeit verschleiern helfen? Eine Einzelsubstanz als Sündenbock scheint schließlich weniger bedrohlich und leichter zu handhaben, als diffuse ungreifbare Zustände.

In Deutschland sind an der Bewertung von Formaldehyd mehrere Behörden, neben dem BfR auch die BAuA (Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) und das UBA (Umweltbundesamt), aber auch Gewerkschaften, Universitäten und Industrievertreter beteiligt. Auch dem Wirtschaftsministerium wurde nahegelegt zu prüfen, ob die Chemikalie im Einvernehmen mit der EU umgestuft werden muß. Bisher blieben diese Bemühungen ohne Konsequenzen. Das spricht dafür, daß die Thematisierung zu diesem Zeitpunkt andere Interessen verfolgt als die Entfernung von Formaldehyd aus der Atmosphäre.

Für den Verbraucher würde sich aber selbst dann kaum etwas ändern, da Formaldehyd als Reinstoff schon lange nicht mehr abgegeben werden durfte und in Industrieprodukten ebenfalls kaum noch vertreten ist.

Lediglich als Ausgangsprodukt für chemische Synthesen blieb es bisher erhalten. Und deshalb wurde seine Abschaffung auch nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Weltweit werden jährlich immer noch rund 21 Millionen Tonnen synthetisch für bislang unverzichtbar erklärte Produkte daraus hergestellt.

Das heißt allerdings nicht, daß es nicht doch noch zu einer EU-weiten Umstufung kommen könnte, wenn seine installierte Sündenbockfunktion für andere Kampagnen (beispielsweie für die Antiraucherkampagne) genutzt werden soll.

Fortsetzung

30. Oktober 2008