Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

MELDUNG/006: Chemieunglück in Bad Fallingbostel - Hinter den Kulissen (SB)


Wenn Putzmittel in großen Dimensionen durcheinander geraten, wird es ätzend

Erst das Wasser dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure



An diese sprichwörtliche Eselsbrücke aus dem Chemieunterricht mag sich vielleicht der eine oder andere bei den gestrigen ungeheuren Ereignissen auf der Anlage des Lebensmittelherstellers Kraft in Bad Fallingbostel wieder erinnert haben. Denn schon in kleinen Maßstäben, also dem Reagenzglas oder dem typischen Erlenmeyerkolben, um den sich Lehrkörper und Schüler versammeln, kann das Verdünnen der Säure mit Wasser je nach eingesetzter Menge der beiden Reaktionspartner eine derart große Hitze erzeugen, daß ein Druck entsteht, der ein geschlossenes Behältnis sogar sprengen kann. Je nach den gewählten Ausgangsbedingungen kann eine ganz harmlose chemische Reaktion wie das Verdünnen mit Wasser unübersehbare Wirkung haben. Genau das war auch am Montag in Bad Fallingbostel der Fall, als - wie die Pressesprecherin von Kraft Foods, Heike Hauerken bekannt gab - "in einen Tank mit Natronlauge versehentlich Salpetersäure gefüllt worden ist."

Die Reaktion von Laugen mit Säure ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Man nennt das Neutralisation und dabei sollte etwas ganz Harmloses wie Wasser und Salz herauskommen. Doch hier brachten die äußeren Bedingungen im wörtlichen Sinn den Kessel zum Kochen. Denn es handelte sich hier einmal um einen doppelwandigen Reinigungstank aus Kunststoff, der gewissermaßen als überdimensionaler Kochtopf (in Chemieanlagen auch "Reaktor" genannt) versehentlich mißbraucht wurde und dafür auf keinen Fall geeignet war. Darüber hinaus handelte es sich um eine nicht unwesentliche Menge von 14.000 Liter Säure und 10.000 Liter Lauge, die spontan zusammengemischt wurden. Kein Wunder, daß bereits beim ersten Versuch, die Säure wieder abzupumpen, dem System der Deckel hoch ging und sogenannte nitrose Gase entweichen konnten. Diese stellen genau genommen das größte Problem dar. Denn bereits Hautkontakt, aber auch das Einatmen von nitrosen Gasen sind gesundheitsgefährdend. Nach Angaben des Unternehmens und der Feuerwehr wurde aber bis zum Dienstag niemand verletzt. Arbeiter und Angestellte des Werkes wurden ebenso wie die Anwohner aus dem angrenzenden Wohngebiet, insgesamt über 1800 Menschen, vorsorglich in Sicherheit gebracht.

Noch am Dienstag war ein Temperaturanstieg in dem Kunststoffbehälter auf 100 Grad gemessen worden. Die Kochtemperatur des Wassers läßt Kunststoff jedoch zunehmend weicher werden, so daß nun auch ein Risiko darin besteht, ob das unfreiwillige Reaktionsgefäß diese Belastungsprobe durchhält, bis die Rettungsarbeiten beendet sind. Einem möglichen Schmelzen und weiterem Austreten von Säure und Giftgas hatten die Einsatzkräfte allerdings nichts als Wasserwerfer entgegenzusetzen, mit denen die Gase gelenkt und verdünnt werden sollten. Das ist in jedem Fall fatal, da nitrose Gase eine Mischung aus verschiedenen Stickoxiden sind, die mit Wasser wieder zu Säure reagieren.

Die vor Ort befragte Feuerwehr sprach sogar von einem Bersten des Behälters und davon, daß die Gefahr erst gebannt sei, wenn Säure und Base wieder getrennt vorliegen würden. Das ist nicht richtig, da sich einmal durchmischte Säure und Base nicht mehr trennen lassen, wenn sie die Möglichkeit haben, miteinander zu reagieren. Sollte der Reinigungsbehälter also keine weiteren Stoffe enthalten haben, über die man lieber nichts verlauten läßt, müßte sich somit inzwischen ein Großteil der Mischung bereits neutralisiert haben. Dafür spricht auch, daß das Einsatzteam inzwischen damit begonnen haben soll, 3000 Liter des Säure-Basen-Gemischs pro Stunde abzupumpen, das in der firmeninternen Kanalisation verdünnt und weiter neutralisiert würde.

Auch Einsatzkräfte der Hamburger Feuerwehr halfen in Bad Fallingbostel mit einem Spezialgerät (SIGIS) zur Detektion von Schadstoffwolken. SIGIS soll eine Gefahrstoffwolke aus einer Entfernung von bis zu fünf Kilometern orten und identifizieren können. Dabei werden die im Infrarotspektrum erfaßten Schadstoffe erkannt und in ein Videobild der Umgebung eingespielt. Auf diese Weise wird innerhalb weniger Sekunden ein Bild über die Ausmaße der Schadstoffwolke und ihre Inhaltsstoffe erstellt.

In dem Werk von Kraft Foods in Bad Fallingbostel werden normalerweise Frischkäse, Mayonnaise und Ketchup hergestellt. Die ungeheuren Mengen von Natronlauge und Salpetersäure werden nach Angaben der Unternehmenssprecherin zum Reinigen und Desinfizieren der Produktionslinien verwendet.


Nitrose Gase sind gefährlicher als gedacht:

Nitrose Gase, eine Mischung aus Stickoxiden wie Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2), ergeben sich aus der Reaktion von Salpetersäure mit organischen Stoffen und Metallen. Sie entstehen aber auch beim Erhitzen der Säure. Die typisch gelbbraune oder rotbraune Farbe, die auch in den Fernsehbildern zu erkennen war, wird vor allem durch NO2 hervorgerufen. Nitrose Gase haben einen charakteristischen, stechenden Geruch, eine stark ätzende Wirkung, was nach dem Einatmen mit Verzögerung von mehr als 24 Stunden noch zu einem Lungenödem führen kann. Bei Männern kann zudem Impotenz bei häufigerem Einatmen als Spätfolge eintreten. Da Stickoxide bei der Berührung mit Wasser zu Säure reagieren, also auch auf den feuchten Schleimhäuten, reizen und zerstören sie das Gewebe der Atemwege und sorgen für eine oft lange dauernde Schädigung.


Anmerkung:

Eine genaue Beschreibung möglicher Symptome, sowie entsprechende erste Hilfemaßnahmen finden sie hier:
http://www.toxcenter.de/stoff-infos/n/nitrose-gase.pdf

16. Oktober 2012