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PHARMAZIE/086: Nebenwirkungen ignoriert ... (SB)


Dextromethorphan - Umstrittener Hustenblocker und Coffee-Shop-Droge soll als Antidiabetikum rehabilitiert werden?


Eine kleine Meldung im Diabetiker Journal (5-2015) [1] macht insulinabhängigen Diabetikern Hoffnung auf eine Befreiung von der täglichen Perforation ihrer Körperoberfläche, wenn die Zuckerwerte im Blut steigen: "Dextromethorphan" heißt es da, ein Wirkstoff, der in vielen rezeptfreien hustenstillenden Medikamenten vorkäme, sei in der Lage, den Blutzucker bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zu "verbessern", - womöglich ohne Hypoglykämierisiko, wie ein Artikel der medizinischen Online-Plattform Doc-Check ergänzt. Dies hätten Forscher der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) und des Universitätsklinikums Düsseldorf (UKD) in Zusammenarbeit mit dem Profil Institut für Stoffwechselforschung bei Untersuchungen von Mäusen und Menschen herausgefunden.

Danach rege der Wirkstoff in der Bauchspeicheldrüse die Betazellen dazu an, mehr Insulin zu produzieren, und verlängere zudem deren Lebensdauer. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler um Prof. Dr. Eckhard Lammert in der Online-Publikation der Zeitschrift "Nature Medicine". [2] Die potentielle Zielgruppe sei, laut dem Leiter der Studiengruppe, nicht nur auf Typ-2-Diabetiker beschränkt:

Auch Typ-1-Diabetiker - bei denen die Betazellen durch eine Autoimmunreaktion sterben - könnten profitieren. Prof. Dr. Eckhard Lammert, Leiter des Instituts für Stoffwechselphysiologie der HHU, dazu: "Wir werden längerfristig unter ärztlicher Aufsicht untersuchen, ob die Gabe von Dextromethorphan bei Typ-1-Diabetikern während der Frühphase der Erkrankung eine Insulinfreiheit herbeiführen kann." [1]

Letzteres ist reine Spekulation, die zudem auch noch so mißverständlich ausgedrückt wurde, daß sie bei den Betroffenen zu falschen Annahmen führen kann. Denn mit Insulinfreiheit ist keine generelle Unabhängigkeit von jedweden insulingestützten Stoffwechselprozessen gemeint, sondern die mögliche Befreiung von der Abhängigkeit, überhaupt Insulin spritzen zu müssen, indem durch die Gabe von Dextromethorphan die Betazellen bei Typ-1-Diabetikern in der Frühphase ihrer Erkrankung gestärkt werden, um den Krankheitsverlauf zumindest hinauszuzögern. Ein hehres Versprechen, das eine breitangelegte Untersuchung erfordert und mithin eine große Anzahl freiwilliger menschlicher Probanden, die in der Vorbereitungsphase noch zu rekrutieren sind. Möglicherweise deshalb wird der fragliche Wirkstoff so verharmlosend dargestellt, denn wer sollte schon etwas gegen ein bißchen Hustensaft haben - probieren geht über studieren, und "schaden kann es ja nicht"?

Nur das "Kleingedruckte" der Online Version der Meldung, die in der Printversion drucktechnisch weggelassen wurde, könnte den einen oder anderen potentiellen "Freiwilligen", der vielleicht schon die Inhaltsstoffliste seiner hausinternen Hustenmittel studiert, um seinen Betazellen auf die Sprünge zu helfen, stutzig machen:

Wichtiger Hinweis: Wenden Sie dextromethorphanhaltigen Hustensaft nicht eigenmächtig zur Blutzuckersenkung an! Die angeführten Erkenntnisse sind mit dem separierten Wirkstoff unter klinischen Bedingungen sowie ärztlicher Aufsicht entstanden und müssen zudem noch in weiterführenden Untersuchungen validiert werden. [1]

Abgesehen davon, daß man vermuten könnte, daß damit vielleicht private, nicht wissenschaftlich verwertbare Erfolge eifersüchtig von publikationsgierigen Forschern zu verhindern versucht werden, ist Dextromethorphan (kurz: DXM) schlichtweg kein harmloses Mittel.

Ursprünglich ist es einer von drei Stoffen, die während eines von der CIA und US Navy finanzierten Forschungsprojekts entdeckt wurden, der sich angeblich als nicht "abhängigkeitserzeugendes" Hustenmedikament zum Ersatz von den sucht-gefährdenden Wirkstoffen Codein und Dihydrocodein eignete. Ob dieses Ergebnis auch das ursprüngliche Ziel des Forschungsprojekts war oder ob eher die Eignung des Mittels bei der Behandlung von Störungen der Gefühlsregulation (pseudobulbäre Affektstörung) im Rahmen einer militärischen Anwendung von Interesse war, bleibt dahingestellt. Tatsächlich wirkt die Substanz auch bei sogenannten pseudobulbären Affektstörungen (PBA), das sind neurologische Erkrankungen, die durch Episoden von unfreiwilligem und unkontrollierbarem Lachen oder Weinen gekennzeichnet sind. Kurzum, der emotionale Zustand oder Ausdruck eines Patienten läßt sich dadurch manipulieren und verändert sich möglicherweise auch bei jeder "harmlosen" Indikation als wenig bemerkte Nebenwirkung.

Allein dies sollte die Unbedenklichkeit des Hustenmittels bei genauerer Betrachtung in Frage stellen, auch wenn es seinerzeit durch freiverkäufliche Präparate wie Wick Formel 44 u.ä. bekannt und seit 1954 rezeptfrei in Apotheken vermarktet wurde. Genaugenommen handelt es sich um ein Opioid, also um einen Wirkstoff, der von seiner Struktur Ähnlichkeiten mit Morphin, Heroin und anderen morphinähnlichen Sedativa aufweist. Pharmakologisch wird DXM inzwischen allerdings nicht mehr zu dieser Klasse gezählt, da es an keinem Opioidrezeptor gebunden wird, sondern an eine Gruppe von Glutamatrezeptoren, die im Nervensystem an der Signalübertragung beteiligt sind. Entsprechende Rezeptoren kommen offenbar auch in der Bauchspeicheldrüse vor, ohne daß man ihre genauere Funktion bisher in Augenschein genommen hat. Ein Mißstand, auf den sich die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Eckhard Lammert (s.o.) nun spezialisiert hat.

Dennoch gehört Dextromethorphan zu den Wirkstoffen, die ebenso Opioide im Hustenzentrum in der Medulla oblongata angreifen und den trockenen Hustenreiz zentral dämpfen. Seine rauscherzeugende Wirkung ist jedoch am ehesten mit Lachgas und Ketamin zu vergleichen. Es zu den Halluzinogenen zu zählen, ist somit korrekt.

Bereits Rosa von Praunheim nahm in den Sechziger Jahren DXM in Form von "Romilar"-Tabletten zur Bewußtseinsförderung. Sie enthielten Dextromethorphanhydrobromid als Monosubstanz. Der zunehmende "Mißbrauch" führte schlußendlich dazu, daß dieses Präparat vom Markt genommen wurde. [3] Manche holländischen Smart-Shops verkaufen die reine Substanz in psychoaktiver Dosis immer noch als "Robo".

Sowohl der Rausch als auch die für eine Überdosierung nötige Menge sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich und erschweren daher eine kontrollierte Einnahme. Ein Grund könnten genetische Stoffwechselunterschiede sein. Etwa jeder Zehnte leidet unter einem Gendefekt, dem sogenannten CYP2D6 Polymorphismus. Die Folge dieses häufigen Defektes ist, daß bestimmte Substanzen, u.a. DXM, deutlich langsamer ausgeschieden werden und somit stärker wirken. Obwohl Dextromethorphan bei bestimmungsgemäßem Gebrauch in Fachkreisen immer noch als relativ sicher ausgewiesen wird (warum auch immer), können nach starker Überdosierung sehr rasch lebensbedrohliche Wirkungen auftreten, wie ausgeprägte Tachykardien und Blutdruckschwankungen, Atemnot, Benommenheit, Bewußtseinsstörungen und Verwirrtheit. Je nach Höhe der Dosierung kann es zu Krämpfen und Koma kommen. Zehn bis zwanzig Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht (je nach Literatur) können zu tödlichen Intoxikationen führen. Besonders gefährlich sind Wechselwirkungen bei gleichzeitiger Einnahme von anderen zentralwirksamen Medikamenten oder Alkoholgenuß. Auf sehr einfache Weise läßt sich der Abbau von DXM hemmen und die Wirkung somit dramatisch steigern: mit Grapefruitsaft.

Die Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände ABDA warnt bereits seit 2007 vor dem Verkauf des Wirkstoffs an Jugendliche, dessen mißbräuchliche Anwendung in den USA bereits fünf Jugendlichen das Leben kostete. [4] Und auch die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) rät immer wieder davon ab, größere Mengen dieser Arzneimittel abzugeben. [5]


Rauschdroge gegen Diabetes?

Nun ist der Verlauf einer chronischen Erkrankung wie Diabetes zwar nicht ganz unproblematisch. Schüttet der Körper zu wenig Insulin aus, kann der Blutzuckerspiegel rasant in die Höhe schnellen. Das kann akut zu einem hyperglykämischen Koma oder längerfristig zu Organschäden führen. Bei Typ-1-Diabetikern werden vor allem Autoimmunreaktionen dafür verantwortlich gemacht, daß die Insulin-produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse sukzessive absterben. Die Betazellen eines Typ-2-Diabetikers produzieren nicht mehr effizient, oder Insulinrezeptoren reagieren nur noch eingeschränkt auf das Insulinangebot. In beiden Fällen schreitet die Krankheit unaufhörlich fort, die Betazellen produzieren immer weniger Insulin oder sterben vollständig ab. Das heißt, mit zunehmender Krankheitsdauer ist der Patient auf eine immer umfassendere Medikation angewiesen.

Doch reicht der Leidensdruck, um den Einsatz eines Mittels zu rechtfertigen, das auf einen bisher nicht erwiesenen und nur vermuteten Mechanismus die glukose-stimulierte Insulinsekretion der Betazellen fördert, indem es bestimmte, sogenannte NMDA-Rezeptoren hemmen und die Glukose-Toleranz auf völlig ungeklärte Weise verbessern soll? Legitimiert die vage Aussicht, Betazellen auch vor einer möglichen Autoimmunerkrankung zu schützen, deren Ursache und Häufung bisher selbst für Diabetologen ein Buch mit sieben Siegeln ist, die Anwendung eines möglicherweise abhängig machenden Gemütsregulanzes mit individuell vollkommen unberechenbaren Nebenwirkungen? Eines ist sicher, die vielleicht erhoffte Freiheit von den täglichen Injektionen und damit verbundenen schmerzenden Hautpenetrationen, wird auf diese Weise nicht erreicht. Nur der Inhalt der Spritze ändert sich, so äußerte sich der Studienleiter Lammert dazu:

GLP-1R Agonisten müssen generell injiziert werden. Und DPP-4-Hemmer können zwar oral eingenommen werden, aber ihre Wirkung ist nicht so stark. Vermutlich wäre eine Kombination von NMDAR-Hemmer (oral) und DPP-4 Hemmer sinnvoll, um den Effekt von letzterem zu verstärken. Was noch fehlt, sind Langzeitstudien mit NMDAR-Hemmern. [Online-Plattform Doc-Check]

Womit wir wieder bei den freiwilligen Probanden wären, die erst noch gefunden und rekrutiert werden müssen: Freiwillige aller Diabetiker verweigert euch!


Anmerkungen:

[1] Die ausführlichere Online-Version ist hier nachzulesen:
http://www.diabetes-online.de/a/1692805

[2] Der Originalartikel "Characterization of pancreatic NMDA receptors as possible drug targets for diabetes treatment [Paywall], Jan Marquard et al.; Nature Medicine, doi:10.1038/nm.3822; 2015" ist hier zu beziehen:
www.nature.com/nm/journal/v21/n4/full/nm.3822.html

[3] http://www.aerzteblatt.de/archiv/77671/Dextromethorphan-Entzugs-und-Abhaengigkeitssyndrom

[4] http://www.abda.de/service/presse/pressemitteilungen/archiv/archiv2007/missbrauch-von-rezeptfreien-arzneimitteln-bei-jugendlichen/

[5] http://www.abda.de/amk-nachricht/artikel/1-213-information-veroeffentlichungen-der-amk-im-2-halbjahr-2012/

15. Juni 2015


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